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In Mens Sana werden historische Begebenheiten mit Horrorelementen des Lovecraft-Kosmos gekonnt vermengt und in ein dicht erzähltes Drama in drei Akten abgefüllt. Das Kammerspiel verspricht intensive Szenen, bei der die Spieler*innen vor tiefgreifende Probleme gestellt werden. Ihre Entscheidungen könnten eine ganze Stadt retten – oder dem Untergang weihen…

Rhodos, 1480: Seit Wochen wird die Stadt unter Kontrolle des christlichen Johanniterordens von einem riesigen osmanischen Heer belagert. Die Spieler*innen übernehmen in dieser bedrohlichen Situation Charaktere, deren Schicksal eng mit dem Orden verknüpft sind. Abseits der andauernden Belagerung bestimmen vor allem die Verpflichtungen einiger Charaktere zum Orden einen großen Teil des Spielerlebnisses. Das innovative Setting orientiert sich an tatsächlichen historischen Ereignissen, die von der Autorin Julia Knobloch als Ausgangsgrundlage für die eng miteinander verknüpfte Geschichte verwendet wurde. Mit Mens Sana erschien in diesem Jahr der dritte Abenteuerband der Deutsche Lovecraft Gesellschaft e.V., der wie seine Vorgänger Der Tod in Venedig und Amnesie einen erfrischenden Twist ins Horror-Rollenspielgenre bringt.

Inhalt

Der 72 Seiten lange Softcover-Band zu Mens Sana ist inhaltlich sehr detailliert und übersichtlich gefasst: Nach einer kurzen Erklärung über Setting, Ziele und Vorgaben der Geschichte für die Spielleitung finden sich zwei sehr schöne Karten zur Stadt Rhodos und dem berühmten Hospital des Johanniterordens, die sich an mittelalterlichen Quellen orientieren. Die Spielleitung bekommt im Hauptteil eine Übersicht über den täglichen Ablauf im Hospital und eine Übersicht der relevanten Charaktere sowie der Ereignisse, die im Abenteuer eintreten können. Daran schließen im dritten Teil Handouts zu den möglichen Hinweisen der Geschichte, alle Charakterbögen der vorgegebenen Charaktere und zuletzt noch eine hilfreiche Schnellübersicht über die Ereignisse an.

Alle Aquarellzeichnungen wurden von Christopher Müller angefertigt.

Die Texte sind insgesamt gut leserlich aufgeteilt und werden immer durch farblich hervorgehobene Infoboxen unterstützt. Optisch stechen vor allem die bereits erwähnten Karten hervor, zudem finden sich im Band immer wieder ansprechende Aquarell-Zeichnungen des Illustrators Christopher Müller, die das Gesamtpaket abrunden.

Was das eigentliche Abenteuer betrifft, können hier keine Wendungen vorweggenommen werden, ohne den Spielspaß zu mindern. Für alle, die trotzdem eine kurze Übersicht zur Handlung lesen möchten, folgt hier eine kurze Zusammenfassung im Spoilerkasten.

Spoiler: Lesen auf eigene Gefahr

Die Charaktere werden zu Beginn in medias res geworfen, indem sie selbst mit unterschiedlichen Verwundungen in Hospital aufwachen und sich zuerst erholen sollen, während es draußen für die Belagerung immer schlechter aussieht. Spätestens am zweiten Nachmittag erreicht die Anspannung einen Höhepunkt, als der Anführer des Ordens schwer verwundet eingeliefert wird. Seine Genesung kann nur der schwarze Theriak versprechen, ein berühmtes und gleichzeitig ominöses Heilmittel des Hospitals. Das Wundermittel hat, wie sich spätestens im Finale des Abenteuers herausstellt, ein dunkles Geheimnis: Um den Theriak herzustellen, werden schwer verletzte Menschen von hochrangigen Ordensmitgliedern an ein dunkles Wesen unterhalb des Hospitals verfüttert, damit es im Gegenzug die regenerierende Flüssigkeit erschafft. Sollte das Wesen sterben, sterben auch alle Ritter und Ordensmitglieder, die bereits die Flüssigkeit getrunken haben. Die Spieler*innen, die je nach Spielverlauf ebenfalls den schwarzen Theriak bekommen haben können, müssen sich entscheiden: Bewahren sie das dunkle Geheimnis des Ordens, oder vernichten sie das Wesen und garantieren damit ihren eigenen Tod und den Untergang der belagerten Stadt?

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Charaktererschaffung und Spielbericht

Eine Charaktererschaffung ist durch die vorgegebenen Charaktere nicht weiter notwendig. Sollte die Spielleitung das Abenteuer in eine bestehende Kampagne einbauen oder eigene Charaktere erschaffen wollen, finden sich dazu ebenfalls Ansätze im Abenteuerband. Bei der Verteilung der Rollen sollte darauf geachtet werden, dass die Spielleitung die vorgegebenen Charakterbögen nicht allen Spieler*innen zugänglich macht, da sonst einige interessante Plots und Verknüpfungen im Vorfeld gespoilert werden könnten. Stattdessen ist es empfehlenswert, die einzelnen Charaktere kurz zu umreißen, damit die Spieler*innen sich für eine Person entscheiden können. Ebenfalls empfehlenswert ist es, den Spieler*innen genügend Vorlauf zu geben, die Charakterbögen umfassend durchzulesen.

Die Testrunden wurden abweichend von der vorgeschlagenen Dreierkonstellation mit dem Ordensritter Olivier, der Nonne Teresa sowie dem Patrizier Niccolò gespielt. Nach einer kurzen Eingewöhnung in beiden Gruppen begann direkt ein intensives Charakterspiel, bei dem je nach Runde unterschiedliche Nuancen der Rollen erkennbar wurden, etwa im Verhalten zu gewissen NSC oder der allgemeinen Meinung zur aktuellen Belagerung. Die Spieler*innen hatten jeweils in zwei Sitzungen genug Zeit, das abgesteckte Areal zu erkunden und Nachforschungen zur Handlung anzustellen, indem sie die vorgegebenen Hinweise untersuchten. Das würfelarme FHTAGN-Regelwerk wurde hier sehr positiv wahrgenommen, da es genug Raum für freies Rollenspiel erlaubte. Ebenfalls gelobt wurde die Spielmechanik, wonach einige Tätigkeiten einen Verlust von Willenskraftpunkten nach sich zogen, die durch genügend Schlaf regeneriert werden konnten. Da jeder Charakter nur ein paar Aktionen pro Tag erledigen konnte, entstand so eine einigermaßen faire Verteilung der Spielzeit unter den Spieler*innen.

Im Finale schließlich kam es zu einer moralischen Entscheidung, die frei in der Hand der Spieler*innen lag. Tatsächlich waren beide Gruppen überrascht davon, als der Abend abgeschlossen war; sie hätten gerne noch weiter ausgespielt, welche langfristigen Folgen ihre Entscheidung für die Charaktere bedeutet hätten. An dieser Stelle sei noch eine kleine Kritik bezüglich des Finales angefügt, die ebenfalls im Spoilerkasten daherkommt.

Spoiler: Lesen auf eigene Gefahr

In der finalen Konfrontation wird explizit eine Konstruktion erwähnt, bei der eine Schüssel voll Pech über dem Wesen angebracht wurde, die als „Notausschalter“ betitelt wird. Spieltechnisch ist gegen eine Option, das Wesen durch Entzündung des Pechs besiegen zu können, nichts einzuwenden. Allerdings wirkt die Konstruktion wie eine übliche Videospielmechanik, die mehr auf das Erlebnis der Spieler*innen ausgelegt ist. Es bleibt offen, wer die Konstruktion gebaut hat oder das Pech für die Durchführung heiß genug hält, beziehungsweise wieso der Kult eine solche Möglichkeit der Vernichtung bestehen lässt. Sollte die Spielleitung sich daran stören, kann der Pechkessel eventuell durch ein nahestehendes Fass Vitriol-Öl oder eine andere klebrig-brennbare Mischung, die in Richtung des Wesens umgestoßen werden kann, ausgetauscht werden. Da es sich nur um eine optionale Möglichkeit handelt, kann die Konstruktion aber auch beibehalten werden.

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Spielbarkeit aus Spielleitungssicht

Wie bereits erwähnt besticht die Geschichte von Mens Sana vor allem durch ihren strukturierten und detailreichen Aufbau. Der Spielleitung werden eine Menge nützlicher Übersichten gegeben, von einer Gesamtübersicht der Geschichte über eine detaillierte Beschreibung des Hospitals und der darin agierenden NSC bis hin zu einer Zeitleiste aller möglichen Ereignisse. Auf mehreren Seiten werden zudem in kleinen Infoboxen zusätzliche Informationen angegeben, mit der die Spielleitung einzelne Szenen atmosphärisch aufwerten kann. Zuletzt sind wichtige Begriffe innerhalb der Texte fett markiert, was das Nachblättern auch während einer Szene sehr erleichtert.

Die belagerte Stadt Rhodos wird bereits auf dem Titelbild angedeutet.

Die reine Vielzahl an Optionen und Hinweisen bedeutet aber auch, dass die Spielleitung das Abenteuer gründlich vorbereiten sollte. Wenn die Vorbereitung stimmt, leitet sich der Rest der Geschichte aber wie im Flug und bereitet auch der Spielleitung viel Spaß. Was das Angebot an Inhalt und optionalen Handlungen angeht, kann die Geschichte in Mens Sana als besondere Stärke präsentiert werden: Anstatt der vorne im Band angegebenen Spielzeit einer üblichen Sitzung (3–4 Stunden) waren die Spieler*innen im Testlauf nach zwei Sitzungen (7–8 Stunden) geradezu traurig, dass sie keine dritte Sitzung spielen konnten, um die Aus- und Nachwirkungen einzelner Entscheidungen erleben zu können.

Spielbarkeit aus Spieler*innensicht

Im Feedback der Testrunden wurde das FHTAGN-System insgesamt sehr positiv aufgenommen. Da Würfe nur in bestimmten Situationen notwendig sind, konnten die Spieler*innen sich mehr auf Charakterspiel untereinander und Interaktionen mit den NPC konzentrieren oder sich nach eigenem Ermessen im Hospital bewegen und Informationen sammeln. Zu Beginn kamen einige Bedenken auf, dass durch die festgelegten Charaktere wenig eigene Ideen möglich wären. Dies konnte in der tatsächlichen Runde aber schnell durch die große Auswahl an Verknüpfungen und optionalen Plot-Strängen widerlegt werden. Nach der Eingewöhnung kamen eigenständig Diskussionen unter den Spieler*innen auf, welche Taten nun moralisch vertretbar oder abzulehnen seien. Auch die Entscheidungsfreiheit bezüglich des Finales wurde von den Spieler*innen begrüßt.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Deutsche Lovecraft Gesellschaft e.V.
  • Autorin: Julia Knobloch
  • Erscheinungsjahr: 2020
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Softcover
  • Seitenanzahl: 72
  • Preis: 12,95 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel

 

Bonus/Downloadcontent

Zusätzlich zum Heft findet sich über die Website des FHTAGN-Systems ein Link zu Drivethrurpg, über den mehrere Spielmaterialien kostenlos zur Verfügung gestellt, darunter auch die Charakterbögen der vorgegebenen Charaktere. Besonders hervorzuheben ist hier zum einen das detaillierte Begleitmaterial, in dem spoilerfrei Informationen über den historischen Kontext und die Struktur des Johanniterordens aufgeführt werden. Zum anderen gibt es für die Spielleitung eine komplette Übersicht der NSC mit grundlegenden Werten sowie eine Verbindungsübersicht der Charaktere untereinander. Beide Übersichten sind einfach zu verstehen und ersparen der Spielleitung viel Durchblättern im eigentlichen Abenteuerband. Die bereits erwähnten historisierten Karten sind leider nicht als Download erhältlich, was dem vorbildlichen Eindruck aber keinen Abbruch tut.

Fazit

Mit Mens Sana hat Julia Knobloch ein spannendes und umfangreiches Abenteuer geschrieben, das in sich schlüssig aufgebaut ist. Die vorgefertigten Charaktere sind sehr genau ausgearbeitet und bieten viele Anknüpfungspunkte für interessantes wie intensives Charakterspiel unter den Spieler*innen. Dies gilt aber nur, wenn die Gruppe sich auf das Kammerspiel einlässt und gerne in der Rolle über moralische Entscheidungen diskutieren möchte. Andernfalls kann es passieren, dass die Hauptgeschichte neben den Spieler*innen dahinplätschert. Die Frage, welche Handlungen richtig oder falsch sind, läuft als zentrales Thema durch die Geschichte sowie die vorgefertigten Charaktere. Dies sollte beachtet werden, wenn die Gruppe eigene Charaktere erstellt oder die Spielleitung versucht, die Geschichte in eine bestehende Kampagne einzuarbeiten.

Auch aus Spielleitungssicht macht es Spaß, die Charaktere durch die dicht erzählte Geschichte zu führen und ihnen bei ihren Überlegungen und Zweifeln zuzuhören. Der Abenteuerband ist übersichtlich gegliedert und vermittelt viele hilfreiche Übersichten zur Geschichte, was das Leiten sehr angenehm gestaltet. Hinzu kommen die liebevoll ausgearbeiteten Karten, Handouts und Aquarellzeichnungen von Jeanette Vollmer, welche das Produkt optisch schön abrunden. Insgesamt finden sich nur wenige kleine Unstimmigkeiten, die aber den Spielspaß nicht zwingend mindern. Die Geschichte eignet sich sowohl für ein einzelnes Abenteuer als auch für den Start einer FHTAGN-Mittelalter-Kampagne.

Mein persönlicher Tipp zuletzt lautet: Versucht nicht, die Geschichte innerhalb von drei bis vier Stunden durchzudrücken, sondern lasst euren Spieler*innen und euch den Freiraum, länger im umfangreichen Setting zu verweilen. Es lohnt sich.

 

Artikelbilder: © Deutsche Lovecraft Gesellschaft e.V.
Layout und Satz: Melanie Maria Mazur
Lektorat: Simon Burandt
Fotografien: Andreas Schellenberg
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

 

1 Kommentar

  1. Vielen Dank für diese tolle Rezension! Ich habe nur eine kleine Anmerkung/ Klarstellung dazu: die Zeichnungen im Inneren des Bandes stammen aus der Feder von Christopher Müller. Das Coverbild stammt von Jeanette Vollmer.

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