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Eine Gruppe von jungen Leuten wacht ohne Erinnerung in einem Keller auf. Manche von ihnen haben Verletzungen, niemand erinnert sich, wer er oder sie ist und wie sie an diesen Ort gekommen sind? Kann dieser klassischste aller Horror-Einstiege heute noch begeistern? Wir haben es uns für euch angesehen.

Bei Amnesie handelt es sich um den zweiten Abenteuerband, den die Deutsche Lovecraft Gesellschaft für das freie Rollenspielsystem FHTAGN anbietet. Den Erstling Der Tod in Venedig hatten wir uns vor einigen Monaten angesehen und sind seinerzeit zu einem sehr guten Ergebnis gekommen. Bei dem vorliegenden Band handelt es sich allerdings nicht um eine Eigenschöpfung, sondern um eine Übersetzung aus dem Englischen. Das Abenteuer wurde vom Autor Matt Cowens bereits vor einigen Jahren veröffentlicht und ist seitdem ein fester Bestandteil der Con-Szene, besonders im Bereich des Freeform-Rollenspiels, weswegen sich ein entsprechender Aufdruck auch auf dem Cover der deutschen Ausgabe unter dem Logo des Spielsystems wiederfindet. Aber worum genau geht es denn jetzt? Der Frage wollen wir uns in der Folge widmen. Es sei an dieser Stelle allerdings explizit vor Spoilern gewarnt. Das Abenteuer lässt sich nicht besprechen, ohne essenzielle Teile zu spoilern. Sollte also jemand Amnesie noch als Spieler erleben wollen, soll er hinterher nicht sagen, er sei nicht gewarnt worden.

Inhalt

Ausgangssituation

Eine Gruppe von fünf jungen Menschen wacht im Keller eines Hauses auf. Niemand kann sich erinnern, wer er ist oder wie sie in den Keller gekommen sind. Auch die Begleiter in dieser misslichen Lage scheinen vollkommen Fremde zu sein.

Das Abenteuer startet ziemlich in medias res und sehr klassisch. Allerdings geht es noch einen Schritt weiter. Die Charaktere erkennen nicht nur sich selbst nicht wieder, sondern auch absolut gewöhnliche Dinge in ihrer Umgebung nicht. In den Vorlesetexten für einzelne Räume werden Waschmaschinen als „große weiße Boxen“ und geschmolzene Kerzen als „Pfützen aus Wachs“ bezeichnet. Den Spielern sollte also relativ schnell klar werden, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmt. Von da an werden die Ereignisse nur noch seltsamer.

Das gesamte Abenteuer spielt auf engem Raum, in einer vergleichsweise kurzen Zeit und mit wenig Interaktionsmöglichkeiten mit NSC. Es steht lediglich das Anwesen, in welchem die Spieler aufwachen, und die Zeit, die es vom Keller bis ins Obergeschoss braucht, zur Verfügung. Im Laufe des Abenteuers werden die Charaktere Gelegenheit haben mit zwei NSC zu interagieren. Den Rest der Zeit sind sie auf sich selbst, ihre Beziehung zu- und ihre Konflikte miteinander zurückgeworfen. Somit handelt es sich bei Amnesie um ein sowohl zeitlich, räumlich als auch personell verdichtetes Abenteuer.

Was ist passiert?

Eine letzte Warnung. Wer Amnesie noch spielen will, der sollte definitiv keinen Blick in den Spoilerkasten werfen.

Vorgeschichte mit Folgen

Die Charaktere waren allesamt Mitglieder eines Kults, der versuchte, eine Gruppe von Dämonen zu beschwören. Allerdings ging dabei etwas schief und die Dämonen fuhren in die Körper der Charaktere ein, welche sie inzwischen komplett übernommen haben. Alle bis auf einen. Dieser letzte Mensch in der Runde, muss einen Weg finden, zu überleben, während um ihn herum seine ehemaligen Freunde immer mehr zu Monstren werden. Außerdem sollte er dieses Wissen tunlichst geheim halten, um nicht zur Zielscheine der anderen zu werden. Die Charaktere werden sich also im Laufe des Spiels nicht etwa an ihre menschliche Existenz erinnern, sondern immer mehr zu der Erkenntnis gelangen, dass sie selbst Monster sind, die von einer unsichtbaren Hand kontrolliert werden. Und wer wird das schon gerne? Statt also das Geheimnis ihrer verlorenen Erinnerung aufzulösen, geht es im Finale eher darum, der unsichtbaren Hand des Beschwörers zu entkommen, um endlich frei seinen dämonischen Gelüsten nachgehen zu können. Ein interessanter Twist, den wahrscheinlich auch erfahrene Spieler nicht so schnell kommen sehen.

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Freeform im Pen & Paper?

Zunächst einmal ein kleiner Exkurs dazu, was Freeform eigentlich meint. Zwar stellt das Abenteuer vorgefertigte Charaktere bereit, die auch nach allen Regeln des zugrunde liegenden FHTAGN-Systems ausgepunktet sind, aber das Spiel regt sehr dazu an, diese Werte nur als Richtschnur zu begreifen und das meiste einfach in der direkten Erzählung und Interaktion zu klären. Freeform kann hierbei auch der „Missing Link“ zwischen dem klassischen Tischrollenspiel und dem LARP sein, da es sehr dazu ermuntert, sich immersiv in die Rolle zu begeben, andererseits aber durch den Spielleiter noch immer einen klassischen Erzähler hat, sodass die Anforderungen an NSC, Gelände etc. deutlich kleiner sind als beim LARP.

Natürlich muss man bereit sein, sich auf diese besondere Art des Rollenspiels einzulassen, da mit Amnesie ansonsten ein großer Teil seines Reizes verloren geht. Das Spiel lebt davon, dass die Spieler sich auf die Merkwürdigkeit der Szenerie, den inneren Konflikt ihrer Charaktere und die Konfrontation mit ihren Mitspielern einlassen. Wenn diese Komponente wegfällt, bleibt von dem Szenario ehrlich gesagt nur sehr wenig übrig.

Wenn man sich nicht auf Konfliktspiel einläßt gehen sowohl Reiz als auch Spielzeit verloren.

Zwar gibt es bestimmte Schlüsselpunkte, an denen die Spielleitung Handouts mit neuen Erinnerungen austeilen kann, wodurch sich nach und nach der Hintergrund des Abenteuers entschlüsselt, aber durch die zeitliche und räumliche Beschränkung wäre die tatsächliche Spielzeit wohl recht kurz, wenn man sich nicht auf das Konfliktspiel innerhalb der Gruppe einlässt. Wenn man allerdings diese Art des Spiels mag, oder sie zumindest annehmen kann, dann bietet einem das Abenteuer eine hervorragende Vorlage für ein kurzes, aber intensives Spielerlebnis.

Die Beschreibungen der einzelnen Räume sind evokativ genug, um die merkwürdige und andersweltliche Stimmung zu transportieren, auf der die spezielle Stimmung des Abenteuers beruht. Die Enthüllungskurve, die durch die gestaffelte Ausgabe von Erinnerungen funktioniert, sorgt dafür, dass die Spannung im Spiel nie abfällt. Durch den Mangel an Entdeckungs- und Interaktionsmöglichkeiten mit der Umwelt haben die Spieler auch genügend Raum, sich sowohl mit dem Rätsel ihrer verlorenen Erinnerung als auch mit ihren Erinnerungen und den Verknüpfungen zu beschäftigen.

Erscheinungsbild

Das Abenteuer ist im selben Maßstab gedruckt, wie der erste Band der Reihe. Das bedeutet, man hat es mit einem DIN-A4-Softcover mit Klammerbindung zu tun. Das Papier macht haptisch einen guten Eindruck, die Schriftart ist gut leserlich und die abgedruckten Karten und Handouts gestochen scharf. Die Schrift ist erneut außergewöhnlich groß gedruckt, so findet man auch in der Hektik des Spiels schnell etwas wieder und kann den Text gut überfliegen.

Mit 28 Seiten ist der Band für eine gedruckte Publikation allerdings recht kurz, zumal davon nur 10 Seiten auf das eigentliche Abenteuer ausfallen. Der Rest beinhaltet die Einleitung und den Anhang. Der Preis von 5,95 EUR ist nach wie vor sehr fair, vor allem wenn man die Preise so mancher reinen PDF-Veröffentlichung zum Vergleich heranzieht.

Lobend zu erwähnen ist der Fakt, dass wichtige Personen, Orte, Handouts etc. im Text stets fett hervorgehoben werden, damit man auch ohne Index beim Durchblättern schnell die gewünschte Information abrufen kann.

Der Band liegt ausschließlich in gedruckter Form vor. Eine PDF-Fassung ist zurzeit weder erhältlich noch geplant. Wer sich das Abenteuer also zulegen möchte, muss mit der Papierfassung vorliebnehmen, die exklusiv über den Cthulhu Webshop zu beziehen ist.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Deutsche Lovecraft Gesellschaft
  • Autor(en): Matt Cowens
  • Erscheinungsjahr: 2019
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Din A4 Softcover
  • Seitenanzahl: 28
  • Preis: 5,95 EUR
  • Bezugsquelle: Cthulhu Webshop

 

Fazit

Bei Amnesie handelt es sich um ein Freeform Pen-&-Paper-Abenteuer, das von der Deutschen Lovecraft Gesellschaft für das freie Regelsystem FHTAGN herausgegeben wurde. In diesem Kammerspiel übernehmen die Spieler allesamt die Rollen von Menschen, die ihre Erinnerung verloren haben und nun versuchen müssen, sie zurückzuerlangen, um zu verstehen, wie sie dahin gekommen sind, wo sie jetzt sind. Im Laufe des Abenteuers stellt sich zudem heraus, dass die Dinge nicht ganz so einfach liegen, wie es auf den ersten Blick scheinen mag.

Amnesie ist ein kurzes, aber intensives Abenteuer, das vor allem Freunde von immersiven Freeform-Rollenspielen abholen wird. Spieler, die ein eher klassisches Horror- und Ermittlungsabenteuer erwarten, werden wohl nicht warm werden mit dem Stoff. Es handelt sich also definitiv – wie auch schon beim ersten Abenteuerband Der Tod in Vendig – wieder um ein Abenteuer, das für eine sehr spezielle Zielgruppe geschrieben wurde und dort sicherlich hervorragend funktionieren kann. Es ist mit 28 Seiten ebenfalls wieder ein kürzerer Vertreter seiner Art, aber dafür spart sich das Abenteuer ausschweifende Hintergrundtexte oder lange Erklärungen. Der Text ist fokussiert und auf die Nützlichkeit am Spieltisch hin optimiert. Insgesamt also ein Produkt, das sich vorbehaltslos für die beschriebene Zielgruppe empfehlen lässt.


Artikelbild: Deutsche Lovecraft Gesellschaft, Bearbeitung: Melanie Maria Mazur
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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