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Ein anderes, magisches England, das sich dennoch mit wohlbekannten Fragestellungen herumschlagen muss. Hexen, die sich im Erwachsenenalter mit pubertären Kindern und lebensverändernden Entscheidungen auseinandersetzen. Und schließlich ein Kind, dem ein weltenzerstörendes Potenzial nachgesagt wird: Der Hexenzirkel Ihrer Majestät präsentiert uns ein Konglomerat an Themen.

Niamh, Leonie, Helena und Elle: Vier Frauen, von Kindesbeinen an Freundinnen. Im Erwachsenenalter haben sie nicht mehr allzu viele Gemeinsamkeiten. Vor allem nach einem verlustreichen Krieg haben sich die Wege der vier Hexen voneinander wegbewegt. Helena, Hohepriesterin des Hexenzirkels Ihrer Majestät, setzt ihre Tätigkeit fort und steht an der Spitze des Zirkels, dessen Ziel es ist, ein gutes Auskommen mit der nicht-magischen Welt, der Welt der Profanen, zu haben. Niamh betrauert den Tod ihrer großen Liebe, ist in ihre tägliche Arbeit eingebunden und muss sich mit dem Aufflammen neuer Gefühle beschäftigen. Elle führt ein unhexenmäßiges Leben: Sie verleugnet ihre magische Begabung und auch ihr Ehemann und die gemeinsamen Kinder ahnen nichts von ihrem besonderen Talent. Doch dann zeigt sich die Magie auch bei ihrer pubertären Tochter. Leonie hat mit dem von ihr gegründeten Zirkel der Hexen of Color eine Menge zu tun, möchte sie doch für Gleichberechtigung aller Hexen einstehen.

Die vier Frauen richten sich nach dem Krieg in ihren jeweiligen Lebensläufen ein. Doch die größte Prüfung, sowohl ihrer Freundschaft als auch ihrer Lebensentwürfe, folgt erst noch: Die Weissagungen der Orakel besagen ein begabtes Kind, das das Potenzial hat, ganz England in Schutt und Asche zu legen. Wie werden die Hexen auf die erneute Bedrohung reagieren?

Themen, die die Welt bewegen, in einem phantastischen Roman

Um es gleich vorwegzunehmen: Es geht in diesem Roman, der den ersten Band einer Trilogie darstellt, um Gleichberechtigung. Nicht zwischen den Geschlechtern, denn hier sind die Rollen klar verteilt: Frauen beherrschen die Welt. Denn es ist selbsterklärend, dass magisch begabte Menschen den nichtmagischen, den Profanen, überlegen sind. Und sowohl dem Schöpfungsmythos der Hexen zufolge als auch dem praktischen Talent, das den Hexen innewohnt, sind Frauen den Männern überlegen. Es gibt auch Hexer in dieser Welt, doch deren magische Fähigkeiten erreichen bei Weitem nicht denselben Wirkungsgrad und dieselbe Macht.

Der Schöpfungsmythos hat einen hohen Stellenwert in den Narrativen der Hexengesellschaft und wird den jüngsten Hexen durchweg von den älteren gelehrt. Er erzählt von der Urmutter Gaia, laut der griechischen Mythologie die nährende Muttergottheit, erschaffen aus dem Chaos. Auch er stellt die Vormachtstellung der Frauen, der Hexen sicher.

Vielmehr geht es unter anderem um die Gleichberechtigung zwischen weißen Menschen und People of Color. Leonie unternimmt Anstrengungen, mithilfe ihres Zirkels der Hexen of Color, Gleichberechtigung zu erreichen und scheint doch damit eher einen Marathon als einen Sprint angetreten zu sein. Doch die Argumente und Sichtweisen, die in Bezug auf diesen Themenkomplex vermittelt werden, zeigen gekonnt die dahingehenden Probleme in unserer Welt auf und regen Leser*innen zum Nachdenken an. Es wird die Frage aufgeworfen, wie es gelingen kann, die Strukturen der Gesellschaft dahingehend zu verändern, dass People of Color ihren gleichberechtigten Platz darin einnehmen können. Dem Hexenzirkel Ihrer Majestät gelang dies offensichtlich nicht, wie Leser*innen aus der erzählten Geschichte des Hexenzirkels of Color entnehmen können.

Den größten Themenkomplex nimmt der Umgang mit der LGBTQ+ – Community ein. Hier werden Probleme und Fragestellung, die in der aktuellen gesellschaftlichen Debatte genauso wiederzufinden sind, in die magische Welt übertragen. Auch unterschiedliche Positionen und die Folgen, die entstehen, wenn menschenablehnende Positionen das Handeln bestimmen, kommen zum Ausdruck.

Neben diesen großen Themen finden auch eine Vielzahl an weiteren Fragestellungen ihren Platz in diesem Hexenroman: Was geben wir unseren Kindern mit? Wieviel Ehrlichkeit braucht eine Beziehung? Können Freundschaften aus der Kindheit ein Leben lang halten? Wie gehen wir mit Schuld um?

Ähnlichkeiten mit der magischen Romanserie, deren Namen in gewissen Kreisen nicht mehr genannt wird

Vor allem, wenn es um die zusätzlich im Hintergrund ablaufenden Rahmenbedingungen des Konflikts zwischen magisch begabten Menschen und den sogenannten Profanen und die Frage, wie diese beiden Gruppen nebeneinander leben sollen, geht, wird klar, dass dieser Roman, der zudem auch in England spielt, stückweise an die Harry Potter-Reihe erinnert. Obwohl die beiden Bücher unterschiedliche Zielgruppen adressieren – Der Hexenzirkel Ihrer Majestät ist ein Buch für Erwachsene – lohnt sich ein kurzer Blick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede.

Anders als beim Zauberlehrling finden wir eine von Diversität geprägte Gesellschaft vor, in der die Protagonistinnen selbst nach Lösungen für drängende Probleme suchen. Da die Autorin selbst in der LGBTQ+ -Szene aktiv ist, liegt es nahe, dass sie die Diskussionen um die problematischen Ansichten von J.K. Rowling gegenüber trans Menschen kennt. Aus diesem Grund sind die geschickt in das Buch eingewobenen Diskussionen und Argumente durchaus als Gegenentwurf oder auch Entgegnung zur Weltsicht der teilweise in Ungnade gefallenen Harry Potter-Autorin zu sehen.

Auch der Aspekt der Ausbildung des magischen Nachwuchses ist ein vollkommen anderer. Junge Menschen werden einer erwachsenen Hexe anvertraut, die in einem engen, persönlichen Kontakt ihr Wissen an die nächste Generation weitergibt. Diese von Vertrauen geprägte Beziehung ermöglicht ein individualisiertes Lernen, was dem Internatsgedanken von Hogwarts, wo die Kinder größtenteils auf sich allein gestellt sind, gegenübersteht. Dies passt zum Grundtenor von Der Hexenzirkel Ihrer Majestät, der die Einzigartigkeit des Individuums und gegenseitige Achtung in den Mittelpunkt stellt.

Bleibt da noch der Umgang mit Profanen oder, als andere Bezeichnung, Muggeln. Auch hier geht Juno Dawson einen Schritt weiter: Der Hexenzirkel Ihrer Majestät ist bestrebt, ein gutes Verhältnis zu Profanen zu pflegen. Magische Bedrohungen gegen nicht-magische Menschen werden allerdings bei beiden gleichsam bekämpft und in speziellen Gefängnissen untergebracht.

Kann bei diesen gesellschaftlichen Themen noch Spannung aufkommen?

Die Orakel, die die Vernichtung Englands durch ein begabtes Kind voraussagen, sorgen durch diese Weissagung für den roten Faden, der sich durch das ganze Buch zieht und für den Spannungsbogen sorgt. Es stellt sich die Frage, ob tatsächlich ein verheerendes Ereignis droht und welcher Weg der richtige ist, mit dieser Drohkulisse umzugehen. Eine Welle baut sich auf, die mehr und mehr Beteiligte mitnimmt und schließlich alles unter sich begraben könnte. Wird es einen Wellenbrecher geben und welcher Art könnte dieser sein? Allein diese Frage sorgt für die nötige Spannung, die das Buch zu einem Pageturner macht.

Dann sind da noch die Einzelschicksale der vier Protagonistinnen, die alle ihre eigenen Sorgen und Schwierigkeiten haben und in deren Leben die Leser*innen einen Blick werfen dürfen. Es gelingt Juno Dawson, sowohl das große Ganze als auch die individuelle Suche nach dem Lebensglück gleichermaßen abzubilden. Ein Beispiel hierfür ist Niamh, die ihre große Liebe im Krieg verloren hat. Kann sie eine neue Liebe in ihrem Leben zulassen? Eine große Stärke des Buches ist, Fragen wie dieser nachzugehen, ohne ins Kitschige abzurutschen. Da es gleich mindestens vier dieser Schicksale gibt, die Lesende verfolgen dürfen, sorgt für die nötige Abwechslung und ebenso dafür, am Ball bleiben zu wollen.

Das Magiesystem ist ebenfalls sehr gelungen. Jede*r Hexe*r verfügt über mindestens eine Gabe, beispielsweise das Wetter manipulieren zu können oder Heilungsprozesse zu beschleunigen. Es gibt auch magisch begabte Personen, die über mehr als eine Gabe verfügen: Die Adept*innen.

Der einzige Kritikpunkt muss an dieser Stelle jedoch angeführt werden: Neben den genannten gibt es noch Handlungsstränge oder Geschöpfe, die dafür sorgen, dass das Buch teilweise überladen von Handlung wirkt. In Verbindung mit den gesellschaftlichen Themen könnte dies für eine leichte Überforderung bei der lesenden Person sorgen.

Die große Leistung von Juno Dawson besteht nichtsdestotrotz darin, dass sie es in Der Hexenzirkel Ihrer Majestät schafft, gewaltige gesellschaftliche Problemlagen in einen trotzdem atmosphärisch dichten und spannungsgeladenen Urban-Fantasy-Roman mit interessant gestalteten Hauptfiguren zu verpacken. Besonders ab dem zweiten Drittel des Buches, nachdem man mit den vier Protagonistinnen warm geworden ist, entwickelt es sich zu einem regelrechten Pageturner.

Die Autorin

Juno Dawson ist eine britische Journalistin und Schriftstellerin, die bislang vor allem Romane und Sachbücher für Jugendliche verfasst hat. Vor allem letztere sollen queeren Jugendlichen Mut machen und ihr Selbstvertrauen stärken. Außerdem verfasste sie den ersten Doctor-Who-Roman mit einem weiblichen Doktor. Als Teil der LGBTQ+ – Community engagiert sie sich für gesellschaftliche Aufklärung. Einige Zusatzinformationen können auf ihrer Homepage eingesehen werden.

Äußeres, welches das Innere sehr gut abbildet: Das Erscheinungsbild

Deutsches Cover © Droemer Knaur

Das von Carola Bambach gestaltete Softcover besticht durch ein royales Blau, das mit weißen Ornamenten und Symbolen sehr edel wirkt und auch der Titel sowie Untertitel sind in mit einem glänzenden Goldton feudal gestaltet. Auf dem Buchrücken finden wir ein stilisiertes Siegel, das in Farben der trans pride flag bereits einen Hinweis auf die Thematik des Romans gibt.

Eine erfreulich ausführliche Inhaltsangabe, die das Buch treffend beschreibt, findet sich auf der Rückseite. Diese wird auf der vorderen Klappe durch den Schwur des Hexenzirkels weiter konkretisiert.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Knaur
  • Autor*in: Juno Dawson
  • Erscheinungsdatum: 01.12.2022
  • Sprache: Deutsch (Aus dem Englischen übersetzt von Constanze Wehnes)
  • Format: Softcover
  • Seitenanzahl: 480
  • ISBN: 978-3-426-52879-2
  • Preis: 16,99 EUR (Print) + 14,99 (E-Book)
  • Bezugsquelle Fachhandel, Amazon (deutsch und englisch), idealo

 

Ein Buch, dessen Ausstattung keine Wünsche offenlässt

Das englische Cover © Droemer Knaur

Die Bonusausstattung des Buches bietet vieles, was das Herz von Leser*innen höherschlagen lässt: Ein vorangestelltes Zitat, zwei ansprechend gestaltete Karten (eine vom übernatürlichen Großbritannien und eine von Hebden Bridge, wo ein Großteil der Handlung stattfindet), eine ausführliche Danksagung, die auch an die Leser*innen adressiert ist, und ein Glossar. Letzteres verdient eine besondere Würdigung, stellt es nicht nur die zentralen Begriffe vor, die notwendig sind, um der Handlung des Romans folgen zu können. Vielmehr nennt es zentrale Begriffe aus den bereits beschriebenen gesellschaftlichen Themen, wie beispielsweise trans oder woke, und erläutert diese. Nicht zuletzt finden wir außerdem noch eine Aussprachehilfe zu den irisch-schottisch-gälischen Worten und eine Triggerwarnung am Ende des Buches, auf die auf den ersten Seiten des Buches bereits hingewiesen wird.

Fazit

Mit Der Hexenzirkel Ihrer Majestät ist Juno Dawson ein großer Wurf gelungen. Sie schafft es, große gesellschaftliche Themen wie Feminismus, Rassismus und LGBTQ+ in einem spannenden phantastischen Roman zu verpacken, der schon jetzt Vorfreude auf den zweiten Band der Trilogie weckt.

Die Leser*innen begleiten vier erwachsene Freundinnen dabei, wie sie nach einem großen Krieg mit den Folgen umgehen, wobei jede ihre eigenen Sorgen und Nöte hat. Zudem taucht eine neue Bedrohung auf. Orakel berichten, das ein begabtes Kind das Ende aller Hexen herbeiführen wird. Nun müssen die Frauen Entscheidungen treffen, die weitreichende Folgen haben werden, sowohl für sie selbst, als auch für ihre Freundschaft und die Hexengemeinschaft.

Für Fans von Urban Fantasy- und Hexengeschichten ist dieser Roman fast schon ein Muss, doch auch alle anderen Lesenden werden an der Fülle an sehr gut ausgestalteten Charakteren und Themen, die durch die daraus resultierende Menge an Handlungssträngen allerdings auch verwirrend wirken könnten, ihren Spaß haben.

  • Große gesellschaftliche Themen

  • Spannende Handlung

  • Vielfältige Charaktere

 

  • Sehr viele verschiedene Handlungsstränge, die verwirren könnten

 

 

Artikelbilder: © Droemer Knaur, © AlexShevchenko | depositphotos.com
Layout und Satz: Melanie Maria Mazur
Lektorat: Nina Horbelt
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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