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Mit einer Mixtur aus Endzeit, Science-Fiction, Fantasy und afroamerikanischer Lebensrealität begeisterte N. K. Jemisins Broken Earth-Trilogie bereits weltweit LeserInnen und schrieb nebenher Phantastik-Geschichte. Inzwischen ist der erste Band auf Deutsch erschienen und eröffnet jetzt auch hierzulande die Möglichkeit, die Welt in Schönheit und Grausamkeit untergehen zu lassen.

N. K. Jemisins Broken Earth-Trilogie ist längst zum Symbol für einen Paradigmenwechsel in der englischsprachigen Phantastik geworden: Nur wenige Jahre nach der rückwärtsgewandten „Sad Puppies“-Bewegung gewinnt eine Afroamerikanerin drei Jahre in Folge den Hugo-Award für den besten Roman und stellt damit einen Rekord auf. Diejenigen, die glauben, es handle sich hierbei lediglich um ein von der Szene gesetztes Zeichen für Inklusivität und Toleranz, zeigen damit – unabhängig davon, ob diese Behauptung positiv oder negativ gemeint ist – vor allem eins: Sie haben Jemisins Bücher schlicht nicht gelesen, denn die Qualität des Werks spricht für sich. Deutschsprachige LeserInnen können sich anhand der im vergangenen Jahr beim Knaur-Verlag erschienenen Übersetzung nun ein eigenes Bild machen.

Story

Der Einstieg in Zerrissene Erde ist einer der stärksten Momente phantastischer Literatur im 21. Jahrhundert: Eine Mutter kommt nach Hause und findet ihren dreijährigen Sohn erschlagen. Der Täter, ihr eigener Mann, ist bereits geflohen und hat die gemeinsame Tochter mitgenommen. Während sie noch über der Leiche kauert, leitet eine geheimnisvolle Gestalt ein Erdbeben ein und der letzte Kontinent, Schauplatz aller vergangenen und zukünftigen Tragödien von Broken Earth, bricht auseinander. Hier erahnt man bereits Jemisins eigentlichen Geniestreich, denn sie verlegt behutsam, aber zugleich konsequent die Endzeitstimmung ihrer Geschichte in die Figuren hinein. Der reale Weltuntergang fällt mit dem persönlichen zusammen; beide sind unabwendbar, werden zu einem tiefbedrückenden Grundgefühl, das einen durch die Bücher begleitet und nicht mehr loslässt, solange die eigentliche Handlung – so einfach und doch so effektiv – im Gange ist: In einer sterbenden Welt sucht eine Mutter nach ihrer Tochter.

Nach und nach werden die LeserInnen von der Gesellschaft erfahren, die sich auf der „Stille“, dem Kontinent, der dank seiner seismischen Instabilität immer in Bewegung ist, ausgeprägt hat. Sie werden die Vorsicht und das Misstrauen eines Reiches erkennen, dessen Bewohner immer bereit sein müssen, eine sogenannte Fünftzeit zu überstehen, in der es Asche regnet und der Boden ganze Städte verschluckt. Sie werden Begriffe wie Laufsack und Steinweisheit lernen und verstehen, wie sehr diese gebeutelte Menschheit seit jeher ums Überleben kämpft. Und sie werden begreifen, dass solche Menschen mitunter hassen, was sie nicht verstehen.

Aus verschiedenen Blickwinkeln erlebt man die Grausamkeit des Schicksals der Orogene.

Denn Essun, die sich nun bei der Verfolgung ihres Mannes durch eine zunehmend feindliche Vegetation schlagen muss, hütete ein Geheimnis: Sie ist eine Orogene, die die Macht besitzt, Erde und Gestein zu kontrollieren, Erdbeben abzuwenden und sogar Magma zu beeinflussen. Menschen wie sie halten den instabilen Kontinent zusammen, werden vom einfachen Volk gefürchtet und in den Städten versklavt. Ebenso ergeht es den beiden anderen Protagonistinnen, Damaya, die als Kind in der Hauptstadt ausgebildet werden soll, und Syenit, die ihre Lehrjahre fast abgeschlossen hat und nun mit ihrem Mentor Alabaster einen ersten Auftrag erfüllen soll. Die Blickwinkel könnten für ein Verständnis des grausamen Schicksals der Orogene nicht besser gewählt sein: Damaya führt vor, wie aus kindlicher Sicht jede körperliche wie seelische Grausamkeit als Normalität begriffen und hingenommen werden kann; Syenit lernt als angepasste Schülerin, die bereits an das System glaubt, dass ihre Welt von Menschenverachtung und Missbrauch zusammengehalten wird. Die Frage, die sich herauskristallisiert, bis sie über dem Buch prangt wie die scheinbar nutzlosen Edelsteinobelisken über der „Stille“, lautet: Wann und vor allem für wen ist eine Welt überhaupt noch bewahrenswert?

Diese Frage wird in der Popkultur immer wieder aufgeworfen, so etwa in Luc Bessons Das Fünfte Element, und wir alle kennen die gängigen Antworten: Aber es gibt doch die Liebe, es gibt doch Freundschaft, einzelne Menschen, die einem etwas bedeuten. Jemisin lehnt diese Antwort vielleicht nicht ab, nimmt ihr aber die Leichtigkeit, mit der dieser zuckrige Deus ex Machina von Sailor Moon bis Buffy fleißig Apokalypsen vereitelt hat. Ihre Figuren vermitteln die Perspektive der Leidenden, aber es ist nicht nur individuelles, sondern gleichsam kollektives Leid in Form kultureller Traumata, welches die Waagschale zu Ungunsten des Kontinents kippt. Der Roman ist durchsetzt mit Elementen afroamerikanischer Geschichte und Literatur, die Jemisin weder kaschiert noch sonderlich verfremdet. Das beginnt bereits mit der rassistischen Beleidigung „Rogga“, der Orogene abwertet und als „böses Wort“ in der Öffentlichkeit keine Verwendung finden sollte, den Figuren aber tatsächlich überall entgegengeschleudert wird. Wer dieses Wort liest, zuckt innerlich zusammen, denn noch immer schwebt über der Handlung das Bild des totgeprügelten kleinen Jungen, und der Hass hinter dem Wort und die Wut, die den kleinen Uche das Leben kostete, sind unlösbar verquickt. Hier kulminieren ganze Diskurse um eine Lebensrealität, die anhand der Figuren für jeden begreifbar wird: Es liegt ein Schwindel in Syenits Erkenntnis der schier endlos zurückreichenden Reihe aus Folter und Missbrauch, in der sie unfreiwillig steht und die ihr Leben bestimmt. Auch die Vergangenheit ihres Mentors Alabaster, selbst ein Produkt gezielter Zucht, ist ein Abgrund, in den man lieber nicht blickt – das Entsetzen ließe einen sprachlos zurück.

Vertrauensbruch, Hilflosigkeit, Machtlosigkeit – Facetten des Leids die nie voyeuristisch ausgemalt werden.

Entscheidend ist hierbei, dass die Darstellung des Leids nie voyeuristische Züge annimmt. Ebenso wie die eigenen Gedanken schrecken auch die Gedanken der Figuren vor dem vollen Ausmaß der Gräueltaten zurück, mit denen sie konfrontiert werden. Jemisin schreibt schonungslos, wo es sein muss, aber ergeht sich nicht in perfekt ausgeleuchteten Grausamkeiten. Der häufige Denkfehler, man könne gerade historischen Schrecken nur gerecht werden, indem man die Gewalt bis ins letzte Detail expliziert und immer drastischere Erniedrigungen darstellt, unterläuft ihr nicht, ganz im Gegensatz zu KünstlerInnen in einer privilegierteren Position, welche es erlaubt, sich selbst jederzeit wieder aus den Opfern derartiger Gewalt herausdenken zu können. Stattdessen lässt sie die psychologische Komponente des Leids wirken: den Vertrauensbruch, wenn eine nahestehende Person sich gegen einen wendet, die Hilflosigkeit, mit denen Kinder oder Kranke der Welt ausgeliefert sind, die Machtlosigkeit gegenüber soziohistorischen Umständen.

Es ist ebenso entscheidend, dass dieses Buch von einer erklärten Phantastikautorin kommt. Weder Allegorie noch Parabel, ist es ein ausgezeichneter phantastischer Roman mit einer detaillierten Welt, lebensnaher Figurenzeichnung und einer Handlung, die eben gerade nicht aus einer ständigen Abwärtsspirale des Leids besteht, sondern Zeit lässt für Entdeckungen, Freundlichkeit und unverhoffte Liebe, stets daran erinnernd, dass ein Leben trotz des erfahrenen Unrechts lebenswert ist und bleibt. Jemisin nutzt dabei die gesamte Bandbreite des Fantasy-Genres aus – Damayas Ausbildung erinnert an ein wohlbekanntes phantastisches Internat, Syenit und Alabaster erleben ein zunächst herkömmliches Abenteuer, Essun wird zur Überlebenskünstlerin eines Endzeitsettings – und führt doch alles sinnstiftend zusammen. Viele Elemente, mit denen Jemisin bereits in ihren früheren Romanen gespielt hat, finden hier ihren eigentlichen Ort, sodass man tatsächlich den Eindruck bekommt, ihr gesamtes bisheriges Schaffen kulminiert in dieser Trilogie.

Schreibstil

Sprachlich und erzählerisch liest sich Zerrissene Erde wie Jemisins Meisterprüfung. Wer ihre früheren Romane kennt, weiß, wie lange sie gebraucht hat, um zu ihrem Stil und dieser außerordentlich souveränen Handlungsführung zu finden – aber nun ist sie am Ziel und weiß es, geht erzählerische Risiken ein, die sich die meisten zeitgenössischen AutorInnen wohl nicht unbedingt zutrauen würden. Teile des Romans sind in der zweiten Person Singular geschrieben, ein unbekannter Erzähler spricht Essun direkt an. Das sollte beim Lesen irritieren, doch tatsächlich findet man sich schnell mit dem so erzeugten Gefühl von Unmittelbarkeit ab. Raffiniert werden diese eindringlichen und dabei etwas handlungsärmeren Passagen von ereignisreicheren, dafür konventioneller erzählten Kapiteln über Damaya und Syenit konterkariert, um so eine eindrucksvolle Dynamik zu kreieren.

Buchstäbliche Tiefe als Metapher für den Blick ins Innere der Protagonisten.

Besondere Beachtung verdienen die Beschreibungen der Orogene-Fähigkeiten, welche die Figuren gewissermaßen permanent aktivieren, um ins Erdinnere hineinzutasten, drohende Erdbeben abzuwehren und ihre Umgebung wahrzunehmen. Das permanente Bewusstsein, dass unter der Erde vieles schlummert – Gesteinsschichten, vulkanische Adern, Gasblasen oder Metall –, färbt die gesamte Erzählung ein, verleiht der Welt eine buchstäbliche Tiefe und setzt einmal mehr die äußere Welt mit der Innenwelt der Figuren parallel, deren Regungen sich im Verborgenen halten müssen, bis sie sich in (Gewalt-)Ausbrüchen entladen.

Jemisins einfachen und dabei eleganten Stil, der sie als Autorin unverkennbar macht, ins Deutsche zu übertragen, war zweifellos eine undankbare Aufgabe. Einige Feinheiten, auch in den eigens für die Welt von Zerrissene Erde geprägten Begriffen, gehen leider verloren. Aus der im Original titelgebenden „Fifth Season“, der fünften Jahreszeit, wird – uninspirierten Karnevalskalauern gleich schon vorbeugend – die „Fünftzeit“. Dabei bleibt die treffende Assoziation mit dem Wechsel der Jahreszeiten natürlich auf der Strecke. Kleine Kommentare, die Jemisins Erzählstimme lapidar in den Text streut, sind oft extrem dem Englischen verhaftet. Ein flapsiges „Need to keep things grounded, haha“ lässt sich nur unzureichend übertragen, so wie es generell schwer ist, dem Ton des Originals treu zu bleiben, der zwischen Aufrichtigkeit und Zynismus keine Grenze ziehen muss, weil die LeserInnen in jedem Moment verstehen, woraus sich letzterer speist. Wer des Englischen mächtig ist, sollte also beim Original bleiben.

Die Autorin

Nora K. Jemisin wurde 1972 in Iowa geboren, studierte Psychologie und Counseling und war anschließend auch als Counselor an Universitäten tätig. Sie schrieb zunächst Kurzgeschichten und veröffentlichte 2010 The Hundred Thousand Kingdoms (Deutsch: Die Erbin der Welt), einen High-Fantasy-Roman, dessen schwarze Protagonistin sich in einer hellhäutig-hegemonialen Dynastie durchsetzen muss. Dieser bildet gemeinsam mit The Broken Kingdoms (2010) und The Kingdom of Gods (2011) die in Deutschland eher unbekannte, aber international wohlwollend aufgenommene Inheritance-Trilogie. Mit der 2012 erschienenen Dreamblood-Duology wandte sich Jemisin einem Sword-and-Sorcery-Setting zu, das maßgeblich von der Humoralpathologie des alten Ägyptens inspiriert wurde. 2015 folgte mit The Fifth Season der Auftakt zur Broken Earth-Trilogie, welche sie zu einer der angesehensten PhantastikautorInnen der Gegenwart machte. Ihrem Ruf, kein Blatt vor den Mund zu nehmen und Missstände in der Szene direkt anzusprechen, wurde sie nicht zuletzt in ihrer Dankesrede bei den Hugo Awards 2018 gerecht. Zuletzt erschien von ihr im November 2018 die Kurzgeschichtensammlung How Long ‘till Black Future Month?, in der man mit der Geschichte The City Born Great möglicherweise bereits einen kleinen Vorgeschmack auf ihren für 2020 angekündigten neuen Roman The City We Became bekommt, eine Hommage an ihre Wahlheimat New York.

Erscheinungsbild

Bei allem Lob für das englische Original waren dessen Cover doch immer außerordentlich nichtssagend. Knaur wirkt dem entgegen, aber wirklich gelungen ist das Ergebnis nun auch wieder nicht. Da deutsche Verlage die Angewohnheit haben, auf übersetzten Romanen nicht-weißer AutorInnen Figuren zu präsentieren, die man in der Handlung überhaupt nicht wiederfindet, aber eine weiße Leserschaft anlocken sollen, darf man vermutlich dankbar sein, dass die Gestalt auf der deutschen Ausgabe nur als Umriss zu sehen ist. Die glimmende Erdspalte unter einem rotverhangenen Himmel nimmt zumindest ein Minimum an Atmosphäre vorweg, aber es ist eher das ungewöhnliche Thema, das verhindert, dass das Cover wie so viele andere in Beliebigkeit versinkt. Die von feurigen Linien durchzogene Schrift ist dann typographisch auch etwas zu viel des Guten. Ja, zerrissene Erde, Vulkane, wir haben es verstanden. Grundgütiger.

Schade, dass beim Thema Covergestaltung der Cross Cult-Verlag noch immer allein auf weiter Flur agiert und sich traut, nicht-weiße Figuren prominent auf seinen Büchern zu präsentieren.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Knaur
  • Autorin: N.K. Jemisin
  • Erscheinungsdatum: 1. August 2018
  • Sprache: Deutsch (Aus dem Englischen übersetzt von Susanne Gerold)
  • Format: Broschiert
  • Seitenanzahl: 496
  • ISBN: 978-3-4265-2178-6
  • Preis: 14,99 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon (auch im englischen Original)

 

Bonus/Downloadcontent

  • Die Karte vorne im Buch ist ein nettes Gimmick, man braucht sie aber nicht unbedingt.
  • Es gibt zwei Anhänge mit einer Übersicht über vergangene Fünftzeiten und einem Glossar. Beide zieht man bei der Lektüre gerne zu Rate.

Fazit

Wer sich für zeitgenössische Phantastik interessiert, kommt um N. K. Jemisin nicht herum. In Zerrissene Erde erzählt die afroamerikanische Hugo-Preisträgerin von kulturellen Traumata, zwischenmenschlicher Grausamkeit und dem Ende der Welt, ohne dabei ins Düstere oder Pathetische abzugleiten. Ungewöhnlich erzählt, mit einem sicheren Gespür für Weltgestaltung und merklicher Liebe zu verschiedenen Genrekonventionen, verfolgt das Buch das Schicksal dreier Frauen, deren Geschichten den Untergang des letzten Kontinents rahmen. Dabei werden Wut und Verzweiflung über eine Welt, die ihre Abkömmlinge versklavt, kontrolliert, missbraucht und tötet, von Jemisin behutsam inszeniert und in glaubhafte psychische Prozesse eingebunden, welche all diese Emotionen unmittelbar zugänglich machen. Dass Jemisin, um dies zu erreichen, maßgeblich auf afroamerikanische Geschichte zurückgreift, ist offensichtlich und verleiht dem Roman zusätzliche Bedeutung.

Bei aller kulturellen Relevanz ist Zerrissene Erde zugleich auch noch ein uneingeschränkt unterhaltsames Buch, dessen Welt und Figuren einen weit über die Lektüre hinaus begleiten. Die Handlung ist geschickt komponiert, jedes Kapitel steht an seinem Platz und der eigenwillige, aber stets extrem zugängliche Stil sucht seinesgleichen. Natürlich reicht die deutsche Version an das Original nicht wirklich heran, die Kaufentscheidung sollte davon jedoch nicht beeinträchtigt werden. Eine eher mittelmäßige Übersetzung von Broken Earth ist vermutlich trotzdem noch das Beste, auf das man seine Lesezeit verwenden kann.

 

Artikelbild: © Knaur, © Iofoto – Dreamstime.com, Bearbeitung: Melanie Maria Mazur
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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