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Der Doctor ist zurück, und sie mischt diesmal Sheffield auf! „Sie“? Ja, denn nach 12 (+1) Männern in der Rolle präsentiert uns Jodie Whittaker eine Frau als manisch-geniale außerirdische Zeitreisende. Entgegen aller Unkenrufe funktioniert das nicht nur, es funktioniert enorm gut. Tim Shaw, nimm dich in Acht!

Der Doctor – eine Frau? Die Mitteilung der BBC, Peter Capaldi nach drei Staffeln als 12. Doctor durch Jodie Whittaker zu ersetzen, schlug hohe Wellen im Fandom. Die einen begrüßten den Schritt, die Serie an den Zeitgeist anzupassen und mehr weibliche Heldenfiguren zu präsentieren. Die anderen argwöhnten, der Schritt sei eine erzwungene Anpassung an Political Correctness – nach 50 Jahren Seriengeschichte mit dreizehn (John Hurt als War Doctor zählt auch) männlichen Doktoren wäre eine Frau völlig unglaubwürdig.

Dabei war Realismus in der fortlaufenden Geschichte über ein unsterbliches, zeitreisendes Alien in einer blauen Polizeinotrufzelle bislang kein großes Thema. Regelmäßig besiegte der Doctor mit einer Mischung aus Technobabble und purer Verachtung für die Gesetze der Physik jeden noch so mächtigen Gegner. Dass die Regeneration nicht nur das Aussehen, sondern auch das Geschlecht ändern kann, wurde bereits in früheren Staffeln gezeigt. Dennoch fanden sich auch unter den positiven Kommentaren Befürchtungen, das Geschlecht des ersten weiblichen Doctors könnte zum reinen Gimmick verkommen und die Story verdrängen. Nach der Premiere der 11. Staffel am 7. Oktober steht fest: Diese Sorgen waren unbegründet. Jodie Whittaker und der neue Produzent Chris Chibnall liefern ein packendes Debüt ab, in dem zur Abwechslung mal nicht das Schicksal des Planeten, sondern individuelle Menschen im Mittelpunkt stehen.

Story

Der neunzehnjährige Ryan Sinclair erzählt in seinem Youtube-Blog von der großartigsten Frau, die er je getroffen hat. Sie sei clever, witzig, fürsorglich, einfach besonders. Der Grund, warum er von ihr erzählt, hängt damit zusammen, dass er nicht Fahrrad fahren kann.

© BBC
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Denn Ryan hat Dyspraxie, eine Koordinationsstörung, die sich auf den Bewegungsapparat des Körpers auswirkt. Mit seiner Großmutter Grace und seinem Stiefgroßvater Graham übt der Junge das Fahrradfahren in den Bergen von Sheffield, fällt aber immer wieder hin. Als er frustriert sein Rad ins Tal wirft und es zurückholen will, findet er ein außerirdisches Objekt vor, das einem riesigen blauen Kreisel ähnelt. Ryan ruft die Polizei, die in Gestalt seiner früheren Mitschülerin Yasmin „Yaz“ Khan erscheint.

Währenddessen sitzen Grace und Graham im Abendzug nach Hause, als ein strahlendes Metallobjekt in die Lokomotive einschlägt. Grace, Graham und ein Mitreisender namens Karl werden von einem Ball aus metallischen Tentakeln angegriffen. Doch bevor das Monster sie erreicht, bricht eine blonde Frau im Herrenanzug durch die Waggondecke und setzt das Wesen kurzzeitig außer Gefecht. Als Ryan und Yaz ankommen, schießt das Alien einen Blitzstrahl durch alle Anwesenden und fliegt davon.

Doch damit beginnen die Probleme erst, denn der fliegende Metallball und der blaue Kreisel sind Teil eines finsteren Plans, in dessen Mittelpunkt der arglose Karl steht. Und zu allem Übel hat die Doctor weder ihre TARDIS, noch ihren verlässlichen Sonic Screwdriver. Doch Doctor wäre nicht Doctor, wenn sie nicht beim Rennen einen aberwitzigen Plan improvisieren könnte …

Hat sich dieses Personalpronomen gerade seltsam angefühlt? Gerade im Deutschen, wo jedes Subjekt ein Geschlecht haben muss (im Kontrast zum neutralen „the“), werden sich Kritiker und Fans noch einige Zeit mit der neuen Schreibweise abmühen. In der Episode jedoch wird das neue Geschlecht der Doctor so beiläufig erwähnt, als sei es das Natürlichste der Welt. Wen sollte es auch verwundern? Es ist ja niemand da, der sie vorher kannte. Die beiläufige Bemerkung: „Vor einer halben Stunde war ich noch ein weißhaariger Schotte“, dürfte Fans zutiefst amüsieren, die neuen Companions bringen nur ungläubiges Staunen für diesen Satz auf.

Darsteller

Doch Ryan, Yaz, Graham und Grace sind keineswegs reine Claqueure der genialen Zeitreisenden, wie es einige Companions vor ihnen waren. Jeder der vier hat seine eigene Persönlichkeit, eigene Kompetenzen und vor allem eigene Ziele. Ryan möchte seine Behinderung überwinden und Mechaniker werden, Yaz will endlich als Polizistin ernst genommen werden, Graham wünscht sich, als Großvater von Ryan akzeptiert zu werden und Grace als Krankenschwester möchte nur anderen helfen. Gerade Grace ist in der Episode ein Spiegelbild des Doctors, eine furchtlose, patente Frau, die nie vor Gefahren zurückschreckt oder Notleidende im Stich lässt. Tatsächlich dreht sich die Episode in vielerlei Hinsicht um Grace als menschliche Heldin. Während Russell T. Davies und Steven Moffat die Companions oftmals als mysteriöse Auserwählte mit weltbewegendem Schicksal überhöhten, zeigt Chris Chibnall mit der neuen Crew ganz normale Leute, die über sich hinauswachsen. Die Doctor drängt sich nicht in den Vordergrund, macht sich nicht über die Menschen lustig, sondern erkennt ihre Talente und motiviert sie, als Team zu agieren. Dass gleich zwei kompetente Frauen als Führungsfiguren völlig natürlich wirken, liegt nicht nur an Chibnalls Drehbuch, sondern auch am Schauspieltalent von Jodie Whittaker und Sharon D. Carter.

© BBC
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Nicht nur weibliche Kompetenz, auch Multikulturalität und Behinderungen werden als Themen sehr natürlich und respektvoll dargestellt. Chris Chibnall erklärte, sein eigener Neffe habe Dyspraxie, was ihn zu Ryans Charakter inspiriert habe. Die Darstellung eines Charakters mit dieser Behinderung und der behutsame Umgang damit erzielten großes Lob: Sowohl die britische Dyspraxia Foundation als auch zahlreiche Zuschauerkommentare zeigten sich erfreut, dass Doctor Who in positiver Weise auf die Erkrankung aufmerksam machte. Denn Ryan leidet nicht, wird nicht als Opfer dargestellt, sondern als normaler Teenager, der seine Einschränkungen zu überwinden versucht.

Mit Yaz, Grace und Ryan sind zudem gleich drei der Companions Nicht-Weiße, oder „Persons of Color“ (PoC). Auch diese Casting-Entscheidung veranlasste konservative Zuschauer zu skeptischen bis teilweise beleidigenden Kommentaren. Dabei standen Weiße in der fünfzigjährigen Geschichte von Doctor Who fast immer im Mittelpunkt, Charaktere wie Martha oder Mickey waren eher Ausnahmen. Die reale Multikulturalität der britischen Gesellschaft wird mit den neuen Companions nur sichtbarer gemacht. Repräsentation ist ein zunehmend wichtigeres Thema in moderner Unterhaltung, und immer kommt es auf die eigene Einstellung an, wie man als Zuschauer damit umgeht. Während für die einen drei PoCs schon zu viel sind, wünschen sich die anderen mehr nichtweiße Figuren. Doctor Who zeigte seit der Neuauflage der Serie 2005 immer wieder interessante weibliche, nichtweiße oder LGBTQ-Charaktere, die stets unterschiedlich beim Publikum ankamen. Russell T. Davies wurde gelegentlich vorgeworfen, er sexualisiere LGBTQ-Charaktere wie Jack Harkness zu sehr. Steven Moffat hingegen musste sich mit dem Vorwurf des Sexismus auseinandersetzen, da seine Frauenfiguren den Kritikern nach zu passiv blieben und vom Doctor gerettet werden mussten. Chris Chibnall hat in dieser Hinsicht zumindest in Folge 1 alles richtig gemacht: Seine PoC-Figuren sind eigenständig und werden nicht auf ihre Hautfarbe reduziert. Yaz ist Polizistin, keine Britin mit asiatischem Migrationshintergrund, die zufällig auch bei der Polizei arbeitet. Niemand geht auf ihre Ethnie ein – auch in der heutigen Fernsehlandschaft keine Selbstverständlichkeit.

So präsentiert das gesamte Ensemble einen glaubwürdigen, bunten Querschnitt der britischen Bevölkerung im Jahr 2018 mit unterschiedlichen Persönlichkeiten, die alle auf ihre eigene Weise stark sind. Neben blauen Aliens und Technobabble ist das die eigentliche, wichtige Botschaft dieser Staffelpremiere.

Inszenierung

Viele Kommentatoren hoben die Ähnlichkeit zwischen „The Woman Who Fell to Earth“ und dem Spinoff Torchwood hervor. Tatsächlich ist die Ästhetik der Episode eher düster gehalten, die industrielle Rauheit Sheffields trägt stark dazu bei. Ein Großteil der Handlung spielt bei Nacht, die Hauptfiguren sind statt mit der TARDIS in einem schnöden Volvo unterwegs und jagen von Tatort zu Tatort. Apropos Tatort, für Doctor Who gibt es in dieser Folge einen ziemlich hohen Bodycount: Fünf Personen müssen ihr Leben lassen. Dass einigen Dahingeschiedenen auch noch eine kleine Familiengeschichte verpasst wurde, macht es umso tragischer.

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Doch keine Sorge, das hier ist nicht Game of Who, und auch die Ähnlichkeiten mit der deutlich „erwachseneren“ Serie Torchwood hören hier auf. Es gibt kein Blut, keine Frontalansichten von Leichen, und der Bösewicht wird wie immer nicht durch Waffengewalt, sondern einen schlauen Plan besiegt. In einer Realität, die zunehmend als düster wahrgenommen wird, passt sich auch eine Familienserie wie Doctor Who an die Netflix-Ästhetik an, tappt aber nicht in die Falle, den Zuschauer mit billigen Schockeffekten fesseln zu wollen. Die Episode ist düsterer, aber immer noch positiv und lebensbejahend. Ob dieser neue, „erwachsene“ Stil in den kommenden Folgen wieder durch furzende Aliens abgelöst wird? Vermutlich nicht.

Die Kameraführung trägt der Thriller-Ästhetik Rechnung: Wie im Krimi werden weite Stadtaufnahmen mit fahrenden Autos abgelöst von Nahaufnahmen der Gesichter, und oftmals sind es kleine, enge Räume, in denen sich die meiste Action abspielt, wie etwa in Rahuls Versteck oder Karls Kranführerhäuschen. Dabei sind die Schnitte nicht hektisch, die Kamera lässt sich Zeit, um Dialoge aufzunehmen, die Handlung an einem Ort ausklingen zu lassen, bevor es zur nächsten Szene geht. Unterstützt wird dieses visuelle Element durch den atmosphärischen Soundtrack des neuen Komponisten Segun Akinola, der Murray Gold nach 12 Jahren ablöst. Zwar gibt es zum Leidwesen vieler Fans in dieser Episode noch keine Introsequenz, man kann aber das neue Doctor Who-Theme beim ersten Auftritt des 13. Doctors im Zug kurz hören. Ein klassisches Element ist jedoch geblieben: Als die Doctor auf dem (wortwörtlichen!) Höhepunkt der Handlung dem Antagonisten ihren Namen nennt, fährt die Kamera triumphierend von unten an sie heran und hoffnungsvolle, sphärische Musik ertönt.

Erzählstil

Neuer Produzent, neuer Doctor, neue Companions: Die BBC wollte für die 11. Staffel reinen Tisch machen. Außer dem zuvor erwähnten Verweis auf den schottischen 12. Doctor werden die bisherigen Staffeln nicht erwähnt. Somit ist die neue Staffel bestens geeignet für Neueinsteiger, denen bereits die 10 neuen Staffeln zu viel sind, ganz zu schweigen von den 26 Classic-Who-Staffeln von 1963-1989. Ohne TARDIS und anfangs ohne Sonic Screwdriver ist die Doctor allein auf ihren Intellekt und ihre neuen Freunde angewiesen, ein Low-Tech-Science-Fiction-Thriller, der neue Zuschauer nicht überfordern wird. Wie weiter oben erwähnt, spielen Individuen und ihre Fähigkeiten eine größere Rolle als blinkende Maschinen. Insofern konnte sich Autor Chibnall auch ein paar Meta-Kommentare nicht verkneifen, etwa als die Doctor ihren Widersacher zur Aufgabe überreden will. Wir alle seien zu erstaunlichen Veränderungen fähig, so Nummer 13. Wir könnten uns weiterentwickeln und uns dennoch selbst treu bleiben. Ein Kommentar auch über die Serie selbst, den Chibnall wohl für alle Kritiker eines weiblichen Doctors geschrieben hat.

Noch ein Wort zum Bösewicht:

Spoiler

Dass „Tim Shaw“, so furchteinflößend er zu Beginn wirkt, sich als feiger Schummler herausstellt, der gegen die Spielregeln seines Volks verstößt, um sich auf den Anführerthron zu mogeln, ist ein interessanter Plottwist. Dementsprechend ist es nur recht und billig, dass die Doctor ihn mit seinen eigenen Waffen schlägt. Sie gibt ihm die Wahl, die DNA-Bomben nicht zu zünden, er tut dies aber, trotz des Waffenverbots – und schadet sich damit selbst, als sich herausstellt, dass die Bomben jetzt in seinem Körper sind. Eine feministische Lesung könnte interpretieren, dass hier eine Frau durch Mitgefühl, Cleverness und Teamwork triumphiert, während der allein agierende, gewalttätige, männliche Jäger seine Schwäche zeigt, indem er betrügt. Doch das würde die Doctor wieder zu sehr auf ihr Geschlecht reduzieren.

Allein ihre Empörung darüber, dass Karl Tim vom Kran kickt, wirkt scheinheilig. Wie viele Kreaturen hat der Doctor auf dem Gewissen, wie auch immer passiv? Ist es wirklich pazifistisch, einen Gegner dazu zu bringen, unbewusst Bomben in sich selbst zu implantieren? Vielleicht wird diese Doppelmoral noch weiter ausgeführt, interessant wäre es.

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Die harten Fakten:

  • Regie: Jamie Childs
  • Drehbuch: Chris Chibnall
  • Darsteller: Jodie Whittaker, Tosin Cole, Mandip Gill, Bradley Walsh, Sharon D Clarke
  • Erscheinungsjahr: 2018
  • Sprache: Englisch
  • Format: Videostream
  • Preis: 2,99 EUR (Einzelfolge), 25,99 EUR (gesamte Staffel)
  • Bezugsquelle: Amazon Video

 

Fazit

„The Woman Who Fell to Earth“ hat gleich am Premierenabend einen Zuschauerrekord gebrochen. Mit 8,2 Millionen Zuschauern in Großbritannien hatte die Episode die höchste Einschaltquote der Serie seit 10 Jahren. Die Kritiker zeigten sich zufrieden, und die meisten der Zuschauer auch. Wie immer waren einige Whovians sofort hin und weg von Nummer 13, andere brauchen noch etwas Zeit, um mit ihr warm zu werden, und wieder andere werden sie wohl nie mögen. Es zeigten sich aber auch zahlreiche Kommentatoren positiv überrascht vom neuen weiblichen Doctor.

Denn oft wird heutzutage viel zu früh die Hype-Maschine angeworfen, Trailer, Fotos, Posts auf sozialen Medien veröffentlicht, und die Fans machen sich anhand unvollständiger Informationen ein Vorurteil über die Qualität einer Serie oder eines Films, den sie noch gar nicht gesehen haben. Wie viele Zuschauer, die von vornherein erklärten, den weiblichen Doctor boykottieren zu wollen, wären eventuell angenehm überrascht, wenn sie nur die Folge schauen würden?

„The Woman Who Fell to Earth“ ist ein herausragender Start für einen neuen Doctor und liefert eine spannende, kompakte Story, sympathische Charaktere sowie eine ganz neue audiovisuelle Ästhetik, neuerdings im 2:1-Format gedreht. Die Episode „ent-täuscht“ viele falsche Erwartungen und lebt von den Talenten ihrer Schauspieler, allen voran Jodie Whittaker, die sicher noch ihren eigenen Doctor-Stil findet. Das bei allen Doctors präsente manische Genie hat sie bereits drauf. Wir freuen uns auf zahlreiche neue Abenteuer!

Aber im Ernst, man sollte einfach keinen Kebab auf wütende Aliens werfen, egal wie betrunken man ist.

Artikelbild: © BBC, Bearbeitet von Verena Bach
Dieses Produkt wurde voprivat finanziert.

 

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