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Stell Dir vor, Monster reiten durch die Straßen und alle finden das normal: In seiner Novelle Ring Shout verarbeitet Historiker P. Djèlí Clark das Entsetzen, mit dem Afroamerikaner*innen im frühen 20. Jahrhundert dem Wiedererstarken des Ku-Klux-Klans zusehen mussten, und schickt eine Gruppe mutiger Rebellinnen gegen groteske Ungeheuer ins Feld.

Während Novellen in der englischsprachigen Phantastik durchaus hoch angesehen sind, haben sie im deutschsprachigen Raum noch immer einen schweren Stand. Entsprechend ist erstaunlich genug, dass der Piper-Verlag vergangenes Jahr Amal El-Mohtars und Max Gladstones This Is How You Lose The Time War unter dem Titel Verlorene der Zeit als alleinstehenden Kurzroman herausbrachte. 2022 hielt für Novellenfreund*innen aber eine noch viel größere Überraschung bereit: Im April erschien P. Djèlí Clarks Ring Shout klammheimlich bei Festa, einem unabhängigen Horror-Verlag, der sich abseitiger Literatur aus den USA widmet und Bücher vertreibt, die „[z]u hart, zu gewagt, zu brutal oder einfach zu weit weg von der Norm“ für den Mainstream sind.

Zweifellos könnte man an dieser Stelle fragen, wie ein weltweit gefeierter zweifacher Nebula-Preisträger, dessen Werk sich intensiv mit seinem afroamerikanischen Erbe befasst, in das Programm eines Verlags passt, der so obskur ist, dass er seine Bücher ohne ISBN vertreibt. Ist eine afroamerikanische Horrornovelle zu weit weg von der Norm, um auf den deutschen Markt zu kommen? Andererseits ist dies aber auch eine gute Gelegenheit, sich darauf zu besinnen, wie notwendig Kleinverlage sind, um gerade dem Horrorgenre, das von seinen großen Geschwistern Fantasy und Science-Fiction allzu oft überschattet wird, gerecht zu werden.

Die Phantastik lebt als Genre von Grenzüberschreitungen und ihr Herz wird zwischen den chlorgebleichten Seiten großer Verlagshäuser nie ganz so laut schlagen wie zwischen den brüchigen Blättern alter Pulpmagazine. Dass sie immer gerade dort interessant wird, wo der Mainstream sich von ihr abwendet, gilt heute noch genau wie vor 50 oder 100 Jahren. Grob ein Viertel der weltweiten Buchproduktion wird aktuell von Random House kontrolliert und gehört damit Bertelsmann. Vor diesem Hintergrund sind wir wie nie zuvor auf unabhängige Kleinverlage mit starkem Profil und Mut zum Transgressiven angewiesen, um die Phantastik als Kulturtechnik davor zu bewahren, gänzlich Konsumprodukt zu werden. In dieser Hinsicht ist es für Clark gewissermaßen eine Auszeichnung, weird, abgründig und unbequem genug zu sein, um bei Festa zu erscheinen.

Story

W. Griffiths Stummfilm The Birth of a NationDie Geburt einer Nation gilt als erster Blockbuster der Filmgeschichte. Während die ideologische Stoßrichtung des Films bereits 1915 unübersehbar war und insbesondere Schwarze Künstler*innen ihn als gefährliche Propaganda erkannten, war er ein kolossaler Erfolg und trug unmittelbar zur Neugründung des Ku-Klux-Klans bei. Bis heute erinnert man sich an den Titel als grandios inszenierten und technisch innovativen Meilenstein, der bedauerlicherweise dem politischen Unverständnis seiner Zeit unterworfen war.

Genau diese Atmosphäre des Wiederauflebens von haarsträubender Menschenfeindlichkeit, […] dient nun P. Djèlí Clark als Grundlage für seine Horrornovelle […]

Dass hier die US-amerikanische Geschichte verdreht und das Lynchen eines ehemaligen Sklaven als heroischer Akt dargestellt wird, dass zum Filmstart als Klansmänner verkleidete Statisten unter Jubel durch die Straßen ritten und der Film in einzelnen US-Staaten direkt verboten wurde, fällt dabei oft unter den Tisch. Zu bequem ist die Annahme, dass man es damals eben nicht besser wusste.

Genau diese Atmosphäre des Wiederauflebens von haarsträubender Menschenfeindlichkeit, die von der Mehrheit jedoch einfach nicht wahrgenommen wird, dient nun P. Djèlí Clark als Grundlage für seine Horrornovelle, in der es sich beim Klan tatsächlich um Monster aus einer anderen Dimension handelt. Ihnen arbeiten menschliche Beschwörer zu, die von ihrem eigenen Rassismus verblendet genug sind, um die gesamte Menschheit zu verraten. Mit dem neuen Medium des Films erreicht ihre Magie nun mehr Menschen als jemals zuvor.

Gemeinsam mit einer Gruppe bunt zusammengewürfelter Rebellinnen macht die Heldin Maryse Boudreaux Jagd auf die mörderischen Ku-Kluxe. Die Trägerin eines magischen Schwerts hat ihre Familie an die Monster verloren und brennt auf Rache. Doch als ihr im Traum der grauenhafte Schlachter Clyde erscheint, begreift sie langsam, dass mehr auf dem Spiel steht als ein persönlicher Vergeltungsschlag. Die Ku-Kluxe planen etwas, das nichts anderes bedeuten würde als den Untergang unserer Welt. Und nur Maryse kann sie aufhalten…

Lebenslust im Widerstand

Clarks ebenso blutige wie actiongeladene Tour de Force vor historischer Kulisse ist eine Liebeserklärung an den Widerstand. Vom ersten Augenblick an ist klar: Diese Figuren sind keine gebrochenen Opfer ihrer Umstände, sondern vielschichtige Personen, die sich wehren, das Schicksal selbst in die Hand nehmen und ihr Leben dabei in vollen Zügen genießen. So phantastisch die Grundgeschichte rund um Monster aus einer anderen Dimension sein mag, so realistisch ist die Milieustudie, die der Historiker Clark nebenbei entwirft. Veteran*innen des ersten Weltkriegs, Sozialist*innen, Anhänger*innen der Frauenbewegung und natürlich alle, die als BIPoC vom neu angefachten Rassismus in den USA betroffen sind, leben und lieben in enger Gemeinschaft, ohne sich von der sich zuspitzenden politischen Lage im US-Bundesstaat Georgia die Laune verderben zu lassen.

Eine wichtige Lektion, die mit gängigen narrativen Mustern der Gegenwart bricht.

Mit dieser lebensnahen Darstellung erinnert Clark daran, dass Afroamerikaner*innen sich ihren Unterdrücker*innen schon immer aktiv entgegengestellt haben, und setzt ihren Bemühungen, die heute allzu oft zu Gunsten von White-Savior-Narrativen in den Hintergrund treten, ein Denkmal. Das bedeutet aber keinesfalls, dass er die traumatischen Erlebnisse der Figuren verharmlost oder die Verbrechen jener Menschen beschönigt, die nicht zu den monströsen Ku-Kluxen zählen, ihnen jedoch zuarbeiten. Vielmehr weigert er sich, die jeweiligen individuellen und kollektiven Traumata zu dem zu machen, was das Leben seiner Charaktere vor allem anderen bestimmt. So lernt etwa Protagonistin Maryse, indem sie ihre Vergangenheit aufarbeitet, dass Rache nicht ihr einziger Motivator sein muss. Der Rückbezug auf ihre Vorfahren und all die Menschen, deren bloßes Überleben schon immer Widerstand war, verleiht ihr mehr Kraft als ein Trauma es jemals könnte. Eine wichtige Lektion, die mit gängigen narrativen Mustern der Gegenwart bricht.

Schreibstil

Zentrales Element der Novelle ist die titelgebende Tradition des Ring Shout, auf welche sich Maryse als Ich-Erzählerin wiederholt zurückbesinnt. Als Konglomerat aus westafrikanischer Religion und christlichen Elementen wurde dieser ritualisierte Gottesdienst von den Sklaven in Georgia praktiziert und ist heute beinahe vergessen. Die Shouter reagieren dabei auf ihren Leader, der eine Geschichte singt, die sie mit Rufen und Tanzbewegungen begleiten. In Ring Shout sind ihre Texte nicht nur Teil des Geschehens, sondern beeinflussen die gesamte Form der Novelle, von deren Handlung man sich gut vorstellen kann, dass sie selbst zum Shout wird. Zwischen den Kapiteln gibt es außerdem aus der Kreolsprache Gullah übertragene Auszüge aus Interviews zu verschiedenen Shouts.

Wie bei dem Thema und Setting nicht anders zu erwarten, steckt der Roman voller Kraftausdrücke und reproduziert die rassistische Sprache des frühen 20. Jahrhunderts. Dies kann zu einem gewissen Befremden führen, da nicht immer klar ist, wann das englische und wann das deutsche N-Wort verwendet wird, und ob der Übersetzung ein Konzept zugrunde liegt. Das ist ein Problem, das beispielsweise auch Matt Ruffs Lovecraft Country hatte. Da jedoch die Figuren viel über ihre Lebenssituationen und deren sprachliche Bedingtheit reflektieren und Erfahrungen miteinander abgleichen, entsteht nie der Eindruck eines unreflektierten Umgangs.

Der Autor

Djèlí Clark ist das auf westafrikanische Erzähltraditionen anspielende Pseudonym des Historikers Dexter Gabriel, der an der University of Connecticut lehrt. Geboren 1971 in New York City, wuchs er unter anderem in Trinidad und Tobago auf. 2011 begann er, Kurzgeschichten zu veröffentlichen. Der Durchbruch gelang ihm 2016 mit der Novelette A Dead Djinn in Cairo. Deren Fortsetzung A Master of Djinn wurde schließlich sein Debütroman und gewann 2022 den Nebula-Award. In seiner Fiktion setzt sich Clark intensiv mit afroamerikanischer Geschichte auseinander, zieht aber auch Inspiration aus der Popkultur der Gegenwart. A Master of Djinn erscheint 2023 unter dem Titel Meister der Dschinn bei Cross Cult.

Erscheinungsbild

Das hochwertig gebundene Buch behält das Originalcover bei, auf dem schwarze Hände einen Ring vor einer grotesken Ku-Klux-Klan-Figur bilden. Es hat die bei Festa übliche „Lederoptik“, ist also etwas rauer als herkömmliche Hardcover und glänzt nicht. Mit einem roten Lesebändchen und den schwarz gerahmten Seiten hat man durchaus das Gefühl, eine besondere Edition in Händen zu halten, die im Bücherregal heraussticht.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Festa
  • Autor: P. Djélì Clark
  • Erscheinungsdatum: 04.2022
  • Sprache: Deutsch (Aus dem Amerikanischen übersetzt von Bernd Sambale)
  • Format: Gebunden
  • Seitenanzahl: 256
  • ISBN: Ohne ISBN
  • Preis: 19,99 EUR (Print) + 5,99 EUR (E-Book)
  • Bezugsquelle direkt beim Verlag, Amazon (nur E-Book), idealo

 

Fazit

Ring Shout ist Liebeserklärung an den afroamerikanischen Widerstand, grausames Actionabenteuer über Menschen, die zu Monstern werden, und historische Aufarbeitung in einem. P. Djèlí Clark fängt die kippende Stimmung des frühen zwanzigsten Jahrhunderts während des Wiedererstarkens des Ku-Klux-Klans ein und erinnert an die mediale Bedingtheit dieser Entwicklung, die den Hintergrund seiner rasanten Handlung bildet. Dabei wendet er sich von den so oft mit dem Schlagwort Afrofuturismus verbundenen Leidensnarrativen ab und zelebriert das (Über-)Leben der Menschen unter schwierigen Umständen und die Reichhaltigkeit der afroamerikanischen Kultur. Die zusammengewürfelte Gruppe aus Widerstandskämpferinnen, die sich mit Magie und Sprengstoff gegen Monster aus einer anderen Dimension zur Wehr setzen, lässt aller ernsten Umstände zum Trotz Raum für hervorragende Unterhaltung.

Von N. K. Jemisins Die Wächterinnen von New York bis hin zu Jordan Peeles neuem Film Nope war 2022 ein großartiges Jahr für das „Schwarze Menschen vs. Eldritch Horror“-Subgenre und Ring Shout reiht sich hier hervorragend ein. Es wäre wirklich zu wünschen, dass sich mehr Kleinverlage des ungeliebten Formats der Novelle annehmen und die Schätze bergen, die dem deutschen Buchmarkt dort jedes Jahr entgehen.

  • Wirft ein Schlaglicht auf afroamerikanische Traditionen
  • Wohldosierter Horror in historischem Setting
  • Sehr spannend
 

  • Die Reproduktion rassistischer Sprache mag notwendig sein, ist aber schwer auszuhalten

 

Artikelbilder: © Festa
Layout und Satz: Roger Lewin
Lektorat: Susanne Stark
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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