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Wenn der Ort des Grauens nicht mehr der abgelegene Sumpf, sondern der ganz normale Alltag ist: In Lovecraft Country stellt Matt Ruff Geistern, Monstern und Kultisten den ganz realen Horror der Rassentrennung, Diskriminierung und Polizeigewalt zur Seite. Gelingt es dem episodischen Roman, diese Themen sinnvoll zu verbinden?

Das englische Originalcover.

Mit Spannung erwartet, von Kritikern hochgelobt und die Serienadaption soll von Oscarpreisträger Jordan Peele und niemand geringerem als J.J. Abrams persönlich produziert werden: Es besteht kein Zweifel daran, dass Matt Ruffs neuester Roman Lovecraft Country den Nerv der Zeit getroffen hat. Anders als der Titel vermuten lässt, handelt es sich hier aber mitnichten um eine Verneigung vor dem Kultautor aus Neuengland, dessen Ängste bis heute das Horror-Genre prägen. Zwar gibt es zahlreiche Anspielungen auf das Werk des misanthropischen Mythenschöpfers, doch eigentlich interessiert sich Ruff weit mehr für eine Seite H. P. Lovecrafts, mit der sich die Fankultur erst in jüngerer Zeit auseinanderzusetzen begonnen hat.

Dass sich in die Angst vor dem Fremden, die Lovecrafts Geschichten auszeichnet, eine ordentliche Portion Rassismus und Antisemitismus mischt, ist allgemein bekannt und soweit geradezu banal. Dass der Umgang mit diesem Wissen sich nicht einfach darauf beschränkt, schulterzuckend „er war halt ein Kind seiner Zeit“ zu sagen, ist eine neuere Entwicklung. So trug die Trophäe, die Gewinner des World Fantasy Awards mit nach Hause nehmen durften, noch bis 2015 Lovecrafts Gesichtszüge. Zwar schmälern Lovecrafts extreme Ansichten seine literarischen Errungenschaften nicht, doch der unschöne Beigeschmack, als der Preis etwa an die nigerianisch-amerikanische Autorin Nnedi Okorafor ging, konnte nicht geleugnet werden. „A statuette of this racist man’s head is one of my greatest honors as a writer”, fasste sie in einem Blogpost 2011 ihre widerstreitenden Gefühle zusammen. Das einen knorrigen Baum vor goldener Mondscheibe zeigende neue Design der Trophäe zielt natürlich nicht darauf ab, Lovecrafts Andenken zu schmälern, sondern darauf, allen zukünftigen Preisträgern ungetrübte Freude über die Auszeichnung zu garantieren. Matt Ruffs Roman agiert auf ähnliche Weise. „Lovecraft Country“ steht für ein Amerika strenger Rassengesetze, in dem schwarze Menschen permanent um ihr Leben fürchten müssen. Dabei geht es dem Autor keinesfalls darum, Lovecraft zu diskreditieren, sondern vielmehr darum, jene Leute zu Helden zu machen, über die sonst nur wenig gesprochen wird: die Science-Fiction Fans, Geeks und Comicleser der ersten (und zweiten) Stunde, die sich in ein Genre oder Medium verliebten, ohne das Privileg zu haben, sich selbst darin repräsentiert zu sehen. Dies ist ein Buch von einem Lovecraft-Fan über einen Lovecraft-Fan für alle Lovecraft-Fans.

Story

Atticus Turner ist ein 22-jähriger Kriegsveteran, der in seine Heimat Illinois zurückkehrt, um sich dort den gleichen rassistischen Anfeindungen ausgesetzt zu sehen wie vorher. Zu seinem Vater Montrose hat er eigentlich kein gutes Verhältnis, doch als dieser ihm erst eine geheimnisvolle Nachricht schickt und dann plötzlich verschwindet, macht er sich mit seinem Onkel George und seiner Jugendfreundin Letitia Dandridge auf die Suche. Allerdings ist ein Roadtrip durch den Osten der USA für drei Afroamerikaner in Zeiten der Jim-Crow-Gesetze zur Rassentrennung nicht gerade ungefährlich. Da trifft es sich gut, dass George Turner nicht nur ein Reisebüro leitet, sondern auch Herausgeber des Safe Negro Travel Guide ist, der Hotels und Raststätten auflistet, in denen Schwarze nicht unmittelbar wieder abgewiesen werden. In Neuengland stößt das Trio auf den adamitischen Orden der alten Morgenröte, selbsternannte Naturphilosophen, die sich an okkulten Ritualen versuchen. Deren Vorsitzender Samuel Braithwhite glaubt, ausgerechnet in Atticus einen Nachfahren des Logengründers ausfindig gemacht zu haben und möchte ihn für seine finsteren Zwecke missbrauchen. Doch es kommt noch schlimmer: Braithwhites Sohn Caleb hat weit ehrgeizigere Pläne und scheut nicht davor zurück, Atticus, Letitia und deren Familien immer weiter in seine Machenschaften zu verstricken …

Alleinstehend lesbare Episoden werden in der letzten Geschichte zu einem Ganzen zusammengefügt.

Lovecraft Country ist ein episodischer Horrorroman, der in thematisch lose zusammenhängenden Kapiteln die unheimlichen Erlebnisse der Turners und Dandridges erzählt und dabei immer neue Familienmitglieder in den Fokus nimmt. Die titelgebende Geschichte stellt nur den Auftakt zu einer Reihe von schaurigen und dabei maßlos unterhaltsamen Abenteuern dar, die in die Lebenswelt ihrer jeweiligen Hauptfigur einführen. In Träume vom Which-Haus zieht eine schwarze Frau in eine ansonsten nur von Weißen bewohnte Nachbarschaft und muss dann auch noch feststellen, dass es in ihrem neuen Haus spukt. Das Narrow-Haus schickt Atticus erneut auf eine Suche, diesmal nach dem verschwundenen Sohn eines Zauberers. Hippolyta stiftet Unruhe im Universum schließlich führt seine Heldin sogar auf einen anderen Planeten. Alle Geschichten haben eine direkte oder indirekte Verbindung zu Caleb Braithwhite und der alten Morgenröte, von der die Figuren meist wenig ahnen. Die Horrorelemente variieren je nach Episode, schwanken zwischen subtilen Untertönen, denen man mit diffusem Unwohlsein begegnet, und klassischen Motiven, die ein freudig vertrautes Gruseln hervorrufen. Der eigentliche Horror, und hier schließt das Buch gewissermaßen nahtlos an die Grundstimmung von Jordan Peeles Spielfilm Get Out an, ist jedoch nie das Monster, das im Dunkeln lauert. Es sind der Polizeibeamte, der beim Anblick eines Afroamerikaners direkt zu Waffe greift, der Nachbar, dessen herablassende Annäherungsversuche plötzlich in Beschimpfungen umschlagen, und das stetige Bewusstsein, in einer Gesellschaft zu leben, die sich jederzeit gegen einen wenden kann. Dies sind Elemente, welche, wenn man sich darauf einlässt, ein Gefühl stetiger Bedrohung garantieren.

Der Rassismus wird nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern durch die Lebendigkeit der ihn erlebenden Charaktere thematisiert.

Es wäre jedoch verfehlt, den Roman einfach auf die Formel „Rassismus ist der wahre Horror“ zu reduzieren. Zum einen zeichnet Ruff die rassistischen Strukturen, denen seine Charaktere ausgesetzt sind, jeweils aus individueller Perspektive nach und zeigt so, dass sich ein so allgegenwärtiges und historisch verankertes Diskriminierungssystem, wie es in den USA der 50er Jahre bestand, nicht in wenigen Worten fassen lässt. Der Rassismus in Lovecraft Country ist genau so vielfältig wie die Figuren, die unter ihm leiden. Er äußert sich in jeder Episode anders und beeinflusst die Figuren unterschiedlich stark, wobei vor allem die Unvoreingenommenheit besticht, mit der Ruff die beschriebenen Erfahrungen nebeneinanderstellt. Enttäuschung über die eingeschränkte Berufswahl, kindliches Entsetzen über rassistische Sprache und tatsächliche traumatische Gewalterlebnisse, sie alle dienen ihm als Grundlage für ganz unterschiedliche Spielarten des Horror-Genres. Zum anderen handelt es sich hier gerade nicht um ein Buch, das primär von seiner Message lebt. Zwar verbirgt sich zwischen den Seiten weit mehr als eine Botschaft, aber intellektuelle Beobachtungen und kluge Verweise verblassen neben der schieren Lebendigkeit von Ruffs Charakteren. Sie machen den Roman überhaupt erst lesenswert.

Die Begegnung mit den Figuren in Lovecraft Country ist der beste Beweis dafür, dass Matt Ruff als Schriftsteller in einer Liga spielt, von der die meisten Autoren nur träumen können. Die Helden und Heldinnen seiner Geschichten sind keine Personen, denen Dinge passieren, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort sind. Was ihnen zustößt resultiert unmittelbar daraus, wer sie sind und welche Entscheidungen sie treffen. Entsprechend läuft ihre Charakterisierung nie auf einer zweiten Erzählebene neben der eigentlichen Handlung her. Im Gegenteil: Die Abenteuer der Figuren lassen uns ihre Persönlichkeit, ihre Wünsche und Träume überhaupt erst erkennen. Letitia ist die Sorte Person, die trotzig in einem Spukhaus wohnen bleibt, wenn alle anderen es verlassen haben, die ihren inneren und äußeren Dämonen direkt ins Auge blickt und die Konfrontation sucht. Montrose Turner ist jene Art Charakter, dessen unversöhnliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit den Umgang mit ihm schwierig macht – doch will man mit Vergangenem in Kontakt treten, schickt man am besten ihn. Die absonderlichen Dinge, die Letitias Schwester Ruby in Jekyll in Hyde Park erlebt, hätten niemand anderem passieren können, denn ihr Lebensweg, den ihre Familie für den eingeschränktesten hält, ist in Wahrheit der offenste. So schlägt man das Buch irgendwann zu, mit dem beinahe mulmigen Gefühl, jeder dieser Figuren einmal direkt in die Seele geblickt zu haben. Hier wird Unterhaltung Literatur.

Schreibstil

Die Episoden des Romans können für sich alleine stehen, führen jedoch zugleich auch jede für sich die Rahmenhandlung weiter, bis sie in der letzten Geschichte Das Kainszeichen alle zusammenlaufen. Der Übergang zwischen den einzelnen Kapiteln wird nicht immer von der weiterlaufenden Handlung bedingt, sondern kommt mitunter auch komplett unvermittelt, bringt die Leser aber nie unangenehm ins Stocken. Da Einzelheiten aus einer Geschichte mitunter in der nächsten wieder aufgegriffen werden, lohnt die genaue Lektüre, auch wenn sie zum Verständnis nie zwingend notwendig ist. Die szenische Unterteilung in Abschnitte von wenigen Seiten trägt ebenso zum angenehmen Leseerlebnis bei wie der gewählte, aber nie hochtrabende Stil.

Ruffs hervorragender Umgang mit Sprache fängt die Stimmung von Fans und Enthusiasten ein.

Gott sei Dank versucht Ruff sich gar nicht erst an einer jener klangvollen Imitationen Lovecraft’scher Sprache, die erfahrungsgemäß allzu schnell hohl klingen, sondern zeichnet die Welt seiner Figuren mit einfachen, klaren Worten, wodurch sich rückwirkend der Eindruck besonders klarsichtiger, aufgeräumter Persönlichkeiten ergibt. Das kreiert einen auffälligen Kontrast zu den fiebrigen und wahnhaften Charakteren, die man aus dem Lovecraft-Universum kennt, und ermöglicht eine Regung, die dem sonst dort üblichen blanken Entsetzen radikal entgegengesetzt ist: freudiges Staunen. Die Begegnung mit dem Übersinnlichen ist für Atticus und seine Freunde nicht automatisch negativ, sodass ein leichterer Ton und eine freundlichere Atmosphäre kreiert werden, als man von einer solchen Hommage erwarten würde. Auch hier geht es letztlich eher darum, die Stimmung von Fans und Enthusiasten einzufangen.

Die Übersetzung lässt mich persönlich etwas verunsichert zurück. Überwiegend ist sie recht gelungen und es gibt keine groben Aussetzer. Allerdings handelt es sich bei einer Geschichte, die in den 50ern spielt und entsprechend von rassistischen Beleidigungen nur so strotzt, doch um eine etwas pikante Übersetzungssituation. Die englischen Wörter und ihre deutschen Äquivalente haben im Sprachgebrauch vermutlich eher unterschiedliche Entwicklungen durchgemacht – gerade was die Selbstbezeichnung schwarzer Menschen angeht. Die Idee, gerade marginalisierte Science-Fiction- und Horror-Fans in einem Buch zu repräsentieren, wird von der omnipräsenten rassistischen Sprache möglicherweise untergraben, insbesondere, wenn sie Assoziationen weckt, die im englischen Original nicht aufkämen. Ein knapper Kommentar zur Übersetzung, in dem dargelegt wird, welche Bezeichnungen weshalb gewählt wurden, hätte mich gefreut.

Der Autor

Matt Ruff wurde 1965 in New York geboren. Er studierte kreatives Schreiben und landete mit seiner Abschlussarbeit Fool on the Hill zugleich auch seinen ersten Erfolg. Daran konnte auch sein zweiter Roman G.A.S.: Die Trilogie der Stadtwerke anknüpfen, der als Postcyberpunk eingestuft wird. In Deutschland wurde er vor allem mit dem Roman Ich und die Anderen bekannt, in dem es um Menschen mit dissoziativer Identitätsstörung geht. Es folgten Bad Monkeys, das sich dem Thema nochmal aus einer neuen Perspektive widmet, und Mirage, das in einem alternativen Universum spielt, in dem nicht die USA, sondern der Nahe Osten Opfer des 11. Septembers war. Mit seinem sechsten Roman Lovecraft Country wurde er 2017 für den World Fantasy Award nominiert. Die Idee zu dem Buch kam ihm bereits vor mehreren Jahrzehnten, allerdings nahm sie erst deutlichere Gestalt an, als er mit Victor H. Greens Negro Motorist Green Book die reale Vorlage für den Safe Negro Travel Guide entdeckte. Weitere Inspiration zog er aus Pam Noles Essay Shame, der von dem Gefühl handelt, als schwarzer Science-Fiction Fan aufzuwachsen. Ruff lebt mit seiner Frau in Seattle.

Erscheinungsbild

Lovecraft Country ist einer der seltenen Fälle, in denen mir das deutsche Cover tatsächlich besser gefällt als das Original. Das einsame Landhaus auf schwarzgrünen Hügeln, hinter dem bedrohliche Schatten aufragen, die sofort an den Ku-Klux-Klan denken lassen, ist dem englischen Cover nachempfunden, setzt aber verstärkt auf Ernsthaftigkeit. Der Druck des Covers erinnert an einen groben Rasterdruck und wirkt gezielt altmodisch, so dass man meinen könnte, ein jahrzehntealtes Exemplar in Händen zu halten. Die zusätzlich aufgedruckten Gebrauchsspuren verstärken den Eindruck. Ansonsten ist das Buch so hochwertig, wie man es von einem gebundenen Exemplar aus großen Verlagshäusern erwartet.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Carl Hanser Verlag
  • Autor: Matt Ruff
  • Erscheinungsjahr: 2018
  • Sprache: Deutsch (aus dem Englischen übersetzt von Anna Leube und Wolf Heinrich Leube)
  • Format: gebunden
  • Seitenanzahl: 432
  • ISBN: 978-3-4462-5820-4
  • Preis: 24,00 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon (Originalversion: Amazon)

 

Fazit

Lovecraft Country ist keine Lovecraft-Hommage, sondern eine Hommage an all jene Lovecraft-Fans, die ihre Begeisterung für phantastische Literatur aufrechterhielten, obwohl sie in der Welt des Horror-Großmeisters und dem Genre, das er prägte, nicht willkommen waren. Der Roman besteht aus einer Reihe Geschichten, die auch für sich stehen könnten, aber durch eine sich parallel langsam entfaltende Rahmenhandlung zusammengehalten werden. Geschickt vermischt Ruff klassische Horrorelemente mit äußerst realem Sozialhorror und kreiert eine einzigartige Stimmung, ohne dabei irgendwie moralisierend zu wirken. Sein Fokus liegt nicht auf rassistischen Verbrechen, sondern auf Charakteren, die sich von solchen nicht bestimmen lassen. Schwarze Science-Fiction Leser, Comiczeichner und Hobbyastronomen sind die Helden dieser vielschichtigen und abwechslungsreichen Erzählungen, in denen auch Monster, Kultisten und wahnsinnige Mörderpuppen gewiss nicht zu kurz kommen.

Natürlich stechen aus den durchweg gelungenen Geschichten einige besonders hervor. Träume vom Which-Haus, Hippolyta stiftet Unruhe im Universum und Horace und die Teufelspuppe waren meine persönlichen Favoriten und gehören zu den besten Passagen phantastischer Literatur, die mir seit längerem begegnet sind. Die Figurenzeichnung ist Ruff so hervorragend gelungen, seine Szenarien sind so einfach und dabei so eindrücklich, dass einem der Roman Perspektiven eröffnet, ohne dass man es überhaupt richtig mitbekommt. Hier wird Lovecraft mit invertierten Farben neu erzählt, und wer bereit ist, sich auf dieses Update einzulassen, wird reich belohnt. Wer hätte gedacht, dass mein erster Anwärter auf den Titel „Lieblingsbuch 2018“ ausgerechnet aus den schon so oft kopierten, zitierten, aber nie erreichten Tentakeltiefen des Cthulhu-Schöpfers aufsteigt? Ich sicherlich nicht!

 

Artikelbild: © Carl Hanser Verlag, © Klaus Rademaker  | Dreamstime.com, Bearbeitung: Melanie Maria Mazur
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

1 Kommentar

  1. Tolles Buch!
    Wobei ich Matt Ruffs Werke alle toll finde.
    Dieses aber in der gewählten Epoche, der Art wie Rassismus thematisiert wird, auch auch wie auf Lovecraft und die Schwierigkeiten für Fans im Umgang mit einigen seiner Aspekte eingegangen wird, finde ich besonders gelungen.

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