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Vergangenes Wochenende war ich der Widerstandskämpfer Andersen, der auf seine Hinrichtung wartete. Ich war außerdem der Homosexuelle Jim in einer Schwulen-WG der 80er, der mit ehrlichen Tränen seine an Aids gestorbenen Mitbewohner betrauerte und schlussendlich mit seinem Partner Robert nach Alaska zog. Ich war ein Soziopath, der zusammen mit seiner Erzfeind-Polizistin eine Zeugin umbrachte, um selbst zu überleben.

Ich war ein namenloser Überlebender eines Flugzeugabsturzes, der mit den anderen darüber diskutierte, welchen anderen Überlebenden man essen solle.

Ich war das Gefühl der Ablehnung im Kopf eines Depressiven.

Ich habe Bomben entschärft und bin in die Luft geflogen.

Ich habe die epische Geschichte von Mutanten, Androiden, Wandervögeln und einem Meteoriteneinschlag der „Dynastie der Scherben“ erforscht und entdeckt.

Ich habe aus tiefstem Herzen gelacht, geweint, gekämpft und gewütet … und noch so viel mehr.

ifol 01/16 – the hard facts

Es waren nur dreieinhalb Tage die ich in dem Tagungshaus im Hunsrück zugebracht habe. Nur dreieinhalb Tage, in denen ich so viel erlebt habe und in denen ich noch so viel mehr hätte erleben können. Mini-LARPs, das ist das Durchspielen von Szenarien in einem recht engen Zeitrahmen, nicht mehr als ein paar wenige Stunden, wenn es hoch kommt. Dabei kann der Inhalt alles sein, vom Familien-Weihnachtsessen, ein Banküberfall durch die Zeiten hindurch bis hin zu einem diplomatischen Dinner bei dem mit Plutonium gehandelt wird. Durch den sehr beschränkten Zeitfaktor und dank verschiedener Spielmechaniken, auf die ich später noch eingehen werde, kann man also in ein Wochenende unglaublich viel Inhalt packen.

Das ifol (It’s full of LARP) war so ein Wochenende, das von allen Teilnehmern gemeinsam organisiert und mit Leben gefüllt wurde. Vom 07. – 10. Januar 2016 fand das ifol 01/16 im Tagungshaus des vbs Sohrschied im Hunsrück statt. Die Teilnahme kostete 95 EUR pro Person, was bei komfortabler Unterkunft in Zwei- bis Mehrbettzimmern incl. Vollverpflegung in mehr als ausreichender Menge für drei Nächte durchaus akzeptabel war. Das Tagungshaus im Hunsrück war mit dem Auto gut zu erreichen und für alle anderen Teilnehmenden fanden sich entweder Fahrgemeinschaften oder Shuttle-Services von nahegelegenen Bahnhöfen. Mit dem Eintreffen der Gäste legte die Orga ihre Arbeit nieder und übergab alles Weitere an alle Teilnehmenden.

Frühstück gab es bis zehn Uhr morgens, danach wurden Snacks und Möglichkeiten zum Broteschmieren in einer der Küchen bereitgestellt, für das Abendessen stellte sich jeweils eine kleine Gruppe von Teilnehmern bereit, etwas zu kochen. Am Samstagabend wurde dieses sogar in ein Mini-LARP mit eingebaut. Der Abbau wurde wieder von der Orga koordiniert aber von allen Anwesenden durchgeführt, was zu einem schnellen und unkomplizierten Aufbruch für alle führte.

Auch der Terminplan und die angebotenen LARPs und anderen Programmpunkte wurde von allen Teilnehmern gemeinsam erstellt und gut sichtbar im Aufenthaltsraum angepinnt, incl. der Möglichkeiten, sich für die einzelnen Programmpunkte als Teilnehmer einzutragen. Das Programm war vielseitig und immer war irgendwo etwas los, was aber auch dazu führte, dass man gar nicht alles machen konnte, was man wollte, oder dank Überschneidungen einmal etwas Leerlauf hatte. Doch dann, beziehungsweise nach dem letzten Spiel abends hatte man genug Zeit, sich mit Freunden zu unterhalten, die auch gerade eine Pause machten und die man vielleicht seit längerer Zeit nicht gesehen hatte.

Ich selbst kann hier nur eine kurze Aufzählung dessen machen, was etwa alles angeboten wurde und nur zu den Punkten mehr sagen, bei denen ich selbst anwesend war. Es sei also hier zu betonen, dass dies alleinig meinen eigenen Präferenzen geschuldet ist, und ein wahrscheinlich recht einseitiges Bild der Veranstaltung wiedergibt. Um sich ein komplettes Bild des Angebots machen zu können, muss man wohl selbst einmal dabei gewesen sein. Grundsätzlich sei aber zu erwähnen, dass es für jeden Geschmack etwas gab und man alle Freiheiten hatte, selbst etwas anzubieten. Von spaßig albern bis ernsthaft; von emotionalem Drama bis seicht plätschernd; von Charakterspiel bis zu Metabetrachtungen.

“It’s full of LARPs”

Und was es dort nicht alles gab:

  • „Somewhere in Time/at the movies“ – Banküberfälle die durch Zeit und Filme hindurchgejagt wurden.
  • „Fat Man Down“ – ein Mini-LARP über Fat-Shaming, in denen Leute erfahren, wie es ist, auf beiden Seiten zu stehen.
  • Impro-Theater-Workshops – hier bekam man beigebracht, wie man improvisiert auf Dinge reagieren und Dinge annehmen kann. Ein sehr wichtiges Werkzeug für LARPer
  • „Soulstrip“ – eine Mini-LARP-Installation, in der drei Spieler die Personifizierungen der unterschiedlichen Seiten einer Person spielen, die gerade nach einer heißen Nummer nackt im Schrank steht, weil der eigentliche Partner des Sexualpartners überraschend nach Hause kam.
  • „DNA/Trois“ – ein Mini-LARP, gespielt auf der Straße in einem fahrenden Van … Leider fehlen mir hier mehr Informationen dazu.
  • „Microscope“ – eine Methodik zur gemeinsamen Entwicklung und Erforschung von epischen Storylines.
  • „Artikel 20“ – ein Mini-LARP über das Recht, Widerstand zu leisten.
  • „Stille Nacht“ – ein Mini-LARP über ein Weihnachts-Familienessen und die brodelnden Konflikte in dieser Familie.
  • „Thunderdome“ – ein kurzweiliges ethisches Dilemma über einen Raum, in den drei Leute hineingehen, aber nur zwei wieder heraus.
  • „Plutonium“ – ein diplomatisches Dinner, in dem, wer hätte es erraten, mit Plutonium gehandelt wird.
  • „re:Start“ – eine Raumschiffcrew muss moralische Entscheidungen treffen.
  • „Hinter den Spiegeln“ – eine Möglichkeit, zu erfahren, wie sich depressive Menschen in Alltagssituationen fühlen.
  • „The last hour“ – die letzte Stunde der Widerstandskämpfer vor ihrer Hinrichtung.
  • „I say a little prayer“ – ein Spiel über eine schwule WG in den frühen 80ern, zu Zeiten der AIDS-Hysterie
  • Und vieles mehr.

 

Wie man sehen kann, der Zeitplan war wirklich vollgepackt, wenn man wollte. Ich selbst hatte mir fast den gesamten Samstag keine Termine gelegt, und dennoch wird das ifol mir noch lange im Gedächtnis bleiben. Das liegt vor allem an den zugrundeliegenden Spielmechaniken einiger Spiele.

Spielmechaniken mit „impact“

Im Standard-Fantasy-LARP habe ich für eine Spielergruppe mehrere Cons Zeit, ihre Charaktere zusammenfinden und ein Band untereinander herstellen zu lassen. Auf einem Mini-LARP, das nur einige Stunden geht, habe ich diese Zeit nicht und forciere sie zum Beispiel durch verschiedene Mechaniken. Eingeschobene und durch die Spieler ausgedachte Szenen wie Flashbacks oder Spotlights können hier beispielsweise helfen, die Immersion und das Gefühl zu verstärken, das aufgebaut werden soll. Gemeinsam entwickeln und erforschen die Spieler die Spielwelt, in der sie sich befinden, definieren ihre Charaktere und die Bande zueinander. Durch diese Konzentration auf die wichtigsten Punkte in kürzester Zeit kann es tatsächlich funktionieren, ein Gefühl der Gemeinsamkeit aufzubauen.

Natürlich ist das kein Garant, es kommt immer auch darauf an, dass die Spieler sich darauf einlassen und auch, dass sie ein wenig empathisches Geschick beim definieren der Szenen besitzen. Bei solchen Flashback/Spotlight-Szenen ist es üblich, dass der Grundaufbau der Szene vorher definiert wird und benötigte NSC-Rollen wie zum Beispiel Familienangehörige des Charakters aus den anderen Spielern rekrutiert werden. Solche Szenen sind kurz und prägnant, dauern nicht mehr als ein paar Minuten und nicht teilnehmende Spieler sind für den Zeitraum der Szene Zuschauer. Das mag für den Durchschnitts-LARPer, der einen kontinuierlichen Spielfluss gewohnt ist, erst einmal ungewöhnlich sein, doch gibt der Erfolg recht, das Prinzip kann funktionieren. Man lässt alles Überflüssige weg und konzentriert sich nur auf das, was das Konzept nach vorne bringt.

Ein weiteres Konzept, das gern benutzt wird, sind kurze Workshops/Aufwärmübungen, um die Spieler in die richtige Stimmung zu bringen. So war es bei „I say a little prayer“ beispielsweise eine Übung, sich in Dreiergruppen zusammenzufinden, bei denen jeweils einer sich gerade hinstellt und die Augen schließt, während die anderen sanft über seinen Körper streichen (Intimbereiche selbstverständlich ausgeschlossen). Nach einer Minute wird gewechselt. So lernte ich Berührungen durchaus zu akzeptieren und konnte mich sehr viel besser in die doch recht intime Welt der Schwulen-WG fallen lassen, ohne Berührungsängste mit meinen Mitspielern zu haben. Bei „The last hour“ wiederum bestand der Workshop-Teil darin, durch verschiedene Übungen unsere Charaktere in unserem Kopf auszudefinieren und sie mittels guter und schlechter gemeinsamer Erfahrungen miteinander zu verknüpfen. Hierdurch wurde eine gemeinsame Basis für das eigentliche Spiel sowie das Wir-Gefühl geschaffen, das eine Widerstandsgruppe beim Warten auf ihre Hinrichtung haben sollte.

Natürlich gibt es noch sehr viele weitere Spielmechaniken, die ich gar nicht alle zur Gänze beleuchten kann (sowohl, weil mir der Platz als auch die Erfahrung mit ihnen fehlt oder der akademische Zugang). Bei „Stille Nacht“ kam zum Beispiel die Mechanik zum Tragen, dass sobald jemand vom Essenstisch aufstand und ihn verließ (um beispielsweise den Baum zu schmücken), über ihn und seine Probleme hergezogen werden musste. Der jeweilige Spieler stand allerdings nur durch eine Trennwand vom Rest getrennt da und hörte sich alles mit an. Sobald er wieder den Speiseraum betrat, mussten alle wieder heile Welt spielen. Mit solchen Spielmechaniken kann man also auch Spielaktionen bewusst beeinflussen um das Spielziel zu erreichen.

Besonders bei den emotional heftigeren Spielen (in meinem Fall „the last hour“ und „i say a little prayer“) gibt es am Ende des Spieles öfters ein sogenanntes Debriefing, eine Runde, in der die Teilnehmer über ihre Erlebnisse während des Spiels sprechen und wie sie sich im Nachhinein fühlen. Das ist manchmal ein wichtiger Prozess, um sowohl die Ereignisse des Spiels besser zu verarbeiten als auch bestimmte (negative) Dinge nicht mit in das normale Leben zu nehmen. Außerdem bietet es die direkte Möglichkeit, den anderen Teilnehmern Feedback zu geben. In meinem Fall war ich für die Möglichkeit des Debriefings sehr dankbar.

Much to feel – much to learn

Das ifol ist vorbei und doch irgendwie nicht. Ich habe unglaublich viel erlebt und unglaublich viel gelernt. Besonders die Erlebnisse von „i say a little prayer“ werden mir noch lange nachhallen. Es war das erste Mal für mich, dass ich während eines LARPs aus vollem Herzen geweint habe. Als der erste unserer kleinen WG an AIDS starb und wir ihn zu einer Pianoversion von „Who wants to live forever“ betrauerten, brachen Dämme in mir. Ich kannte die Spielerin von diesem Charakter nicht vor dem Spiel. Ich kannte den Charakter auch erst seit knappen anderthalb bis zwei Stunden. Und dennoch fühlte ich echte Trauer, fühlte ich echten Schmerz. Ich konnte nicht anders, als zu weinen. Das Spiel war sehr intensiv und Nachts wachte ich auf und war mir kurz im Halbschlaf nicht ganz sicher, was von mir Alex war, der Spieler, und was von mir Jim war, der Charakter.

Ich hatte ein enormes bleed-out erfahren und eine Einsicht in das Mindset der Homosexuellen in den 80ern erhalten. Jim wird mich noch länger begleiten. Und ich werde auch Daniel, Benny, Tommy und Robert weiterhin in den Augen ihrer Spieler sehen. Wir haben ein Drama nicht nur auf einer Leinwand gesehen, wir haben es von Innen heraus erlebt und gefühlt, waren Teil davon. Wir haben die Angst um unser eigenes Leben und das unserer Lieben gespürt, die Resignation des „Ich bin der Nächste … ich weiß es.“ und die Trauer um den Tod eines Geliebten. Das Spiel ist abgeschlossen für uns, aber es wird noch lange lange Zeit in uns nachhallen. Ich kann nur noch einmal Danke an die Autoren dieses Spiels und an alle Teilnehmenden an diesem Abend sagen, dass ich diese Erfahrung machen durfte.

Und das ist auch die Quintessenz des ifol 01/16 für mich. Ich habe Freunde getroffen und neue kennengelernt, ich habe in einem sehr begrenzten Zeitrahmen unglaublich viel erlebt und gefühlt und gelernt. Mehr, als ich auf einzelnen LARPs je gefühlt hätte. Ich habe mich ein Stück weit weiterentwickelt und habe neue Zugänge zu alter Musik erhalten. Nie mehr werde ich Queen mit denselben Ohren hören wie zuvor. Das ifol war für mich alles, was LARP in der Quintessenz für mich ausmacht. Als ob man eine gute Bolognese kocht und diese langsam einköcheln lässt. Die Gesamtmasse reduziert sich, dafür wird aber der köstliche Geschmack nur intensiver. Ich kann jedem nur raten, entweder auch einmal auf eines zu gehen, oder aber ein eigenes zu veranstalten.

Artikelbild: 4ever.eu, ifol.magency.de

 

4 Kommentare

  1. Ha! Und ich dachte schon im LARP-Bereich kann bei Teilzeithelden gar niemand mit Leidenschaft schreiben. Auch wenn ich kein Fangirl von Dir bin, toll geschrieben. Danke.

  2. Danke für den sehr schönen Bericht – nächstes Jahr, will ich da auch unbedingt dabei sein! Besonders interessiert mich das Mini-LARP „Hinter den Spielgen“ – ist noch bekannt, von wem das war?

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