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Die Nevernight-Trilogie erzählt die Geschichte von Geburt, Leben und Tod der Assassine Mia Corvere. Im dritten Band der Reihe wird es also eng für die schöne Schattenmagierin – oder auch nicht, denn Die Rache hält einige Überraschungen bereit, die nicht unbedingt von der guten Sorte sind.

Trilogien sind eine schwierige Angelegenheit, denn sie stehen und fallen mit ihrem letzten Band. Was im ersten Band aufgebaut, angekündigt, vorhergesagt wurde, muss spätestens jetzt eingelöst werden, und die unterschiedlichen über Jahre hinweg gehegten Erwartungen der Fans können sich unmöglich alle erfüllen. Zahlreiche Figuren aus zwei Vorgängerbänden wollen hier ihren gebührenden Abschied von der Geschichte nehmen und möglichst wenig lose Fäden zurücklassen, damit auch die Leser*innen das Gefühl bekommen, ihre Reise über oftmals viele hundert Seiten zu einem befriedigenden Abschluss gebracht zu haben. Dies ist sie, die ehrenvolle aber undankbare Aufgabe des dritten Bandes, die über die Jahre auf verschiedene Arten gelöst wurde, sei es durch lange Epiloge und nicht enden wollende Schlusskapitel, sei es durch einen überraschenden Bruch mit den Regeln der vorangegangenen Bände. Jay Kristoffs Nevernight-Trilogie steht nun vor genau dieser letzten großen Hürde: Der erste Band, Die Prüfung, erging sich in Versprechungen eines Antiheldenepos von ungekanntem Ausmaß gab die Richtung vor und hielt sie mit einem gewissen Jugendbuchcharme, der seiner jugendlichen Protagonistin hervorragend stand, dann auch konsequent ein. Der zweite Band, Das Spiel, wirkte daneben blass und repetitiv. Kann nun Die Rache die strauchelnde Trilogie doch noch zum erhofften fulminanten Finale und würdigen Abschluss führen?

Story

Zwei Männer sind besiegt, einer muss noch fallen, damit Mia Corvere, Assassine, Gladiatorin und Auserwählte geheimnisvoller Mächte, ihren privaten Rachefeldzug gegen die Mörder ihrer Familie abschließen kann. An ihrer Seite hat die schicksalsgebeutelte Schönheit zwei Schattendämonen, ihre mörderische Gefährtin Ashlinn Järnheim, ihren alten Mentor Mercurio – und ihren kleinen Bruder, den sie aus den Fängen des verhassten Konsuls Julius Scaeva befreien konnte. Doch inzwischen geht es um mehr als persönliche Vergeltung. Während Scaeva die Macht über die gesamte Republik an sich reißt und zum Tyrannen aufsteigt, beginnt Mia, die Wahrheit über die Stadt Gottesgrab und ihre eigene Schattenmagie herauszufinden. Wenn sie beim nächsten Wahrdunkel nicht die Krone des Mondes findet, um eine alte Prophezeiung zu erfüllen…

Ja, liebe Leser*innen, wenn ich euch in Anlehnung an das Buch, das ich hier bespreche, ausnahmsweise mal so direkt ansprechen darf, ihr merkt es schon: Von der ungewöhnlichen Geschichte einer Antiheldin, die so ganz anders ist als alle Helden, die man aus großen Sagen kennt, ist hier wahrlich nichts mehr übrig, stattdessen sind wir geradewegs in das siebenhundertsiebenundsiebzigste Sie-ist-die-Auserwählte-Narrativ hineingeschlittert, in dem Gut und Böse leicht daran zu unterscheiden sind, welche Form ihre jeweiligen Schatten annehmen (Katze: gut! Wolf: gut! Schlange: böööse!).

Natürlich ist es nicht per se schlecht, mit Erwartungen zu brechen. Doch erst großspurig einen Bruch mit Genreregeln anzukündigen, um dann wie aus Versehen zu den ältesten und ausgelutschtesten Klischees zurückzukehren, die dann auch noch mit einer Freudlosigkeit heruntergerattert werden, die sonst auswendig gelernten Schillergedichten in der Unterstufe vorbehalten bleibt, das sollte man sich vielleicht doch zweimal überlegen. Kurz: Nevernight hat ein fundamentales Problem mit seinem Setup und ist ein mahnendes Beispiel dafür, weshalb man im ersten Band den Mund nie zu voll nehmen sollte.

Einmal Jenseits und zurück

Das beginnt bereits damit, dass der Prolog des ersten Bandes Geburt, Leben und Tod einer legendären Assassine ankündigt, so als würde die Trilogie mehrere Lebensabschnitte umspannen, die Bücher dann aber nur drei bis vier Jahre abdecken. Dass Mia im ersten Band ein Teenager ist, der das Töten erst noch lernen muss, ergibt Sinn, dass sie im dritten Band, als ihr sagenhaftes Leben sich dem Ende zuneigt, noch keine zwanzig Jahre alt ist, lässt sie noch immer wirken, als stehe sie ganz am Anfang. Zwischen den Bänden liegen zeitlich fast keine Pausen, in denen die Protagonistin ihre Fähigkeiten erproben und charakterlich wachsen könnte, was Mia zu einer frustrierend statischen Figur macht, deren Entwicklung sich nur an der – sehr begrenzten – Partnerwahl und den – sehr berechenbaren – Rachemorden ablesen lässt.

Verschärft wird der Bruch mit dem einst so groß angekündigten Feuerwerk an subversivem Realismus dadurch, dass dem Tod, der nicht nur zentrales Motiv einer Trilogie über eine Assassinenkirche ist, sondern ja auch Mia am Ende dieses Buches ereilen soll, jeglicher Schrecken genommen wird. Der zweite Band endete damit, dass eine Figur von den Toten zurückkehrte, die nun konsequenter Bestandteil der Handlung ist und alle ungelösten Konflikte bis ins kleinste Detail ausdiskutieren kann. Diese allgegenwärtige Erinnerung daran, dass das Ableben einer beliebten Figur nicht von Dauer sein muss, lässt alle folgenden Tode relativ gleichgültig wirken – und tatsächlich hält es dann die nächste wichtige Figur, die stirbt, keine hundert Seiten im Teilzeitjenseits aus, bevor auch sie wieder quickfidel durch die Gassen von Gottesgrab hüpft.

Der große Böse

Auch strukturell hat der Roman so seine Probleme. Der Höhepunkt, auf den alles zuläuft, bleibt die Konfrontation mit Scaeva, einer Figur, zu der die Leser*innen wenig Bezug haben und dem so gut wie keine moralischen Ambivalenzen zugestanden werden. Hier hätte Mias kleiner Bruder eine große Rolle spielen können, um die von ihr selbst zwar immer bestrittene aber narrativ felsenfest zementierte Rechtschaffenheit seiner ihm völlig fremden Schwester in Frage zu stellen und eine andere Perspektive einzuführen. Stattdessen lernt er jedoch schnell, die junge Frau zu bewundern, und so können wir uns bei der Lektüre wieder ins wohligwarme Gewissheitsgefühl zurücksinken lassen, dass Scaeva den Tod verdient.

Viel interessanter ist Mias Abrechnung mit der Roten Kirche und den Menschen, die sie im ersten Band ausgebildet haben. Leider scheinen auch sie allesamt in einen Topf voller Instant-Urböse gefallen zu sein, aber immerhin hat man zu ihnen eine direktere Verbindung. So ist der Kampf gegen sie nach zwei Dritteln des Buchs das letzte Mal, dass man einen konkreten Grund hat, wirklich Anteil an der Handlung zu nehmen, und er hat wenig Auswirkungen auf deren weiteren Verlauf. Zwar werden Figuren entführt und müssen nachher aus Scaevas Palast befreit werden, aber Mia hat ohnehin kein anderes Ziel als die Konfrontation mit ihm, braucht also keinen weiteren Anlass, sich schattenschwingend ins große Finale zu stürzen.

Allgemein bekommt man den Eindruck, Jay Kristoff habe über seinen Erfolg endgültig verlernt, Spannung aufzubauen. Verschiedene Abenteuer und Actionszenen sind für sich genommen nicht langweilig, aber bleiben oft merkwürdig zusammenhangslos. Nachdem eine Gefahr überwunden ist, folgt darauf meist dieselbe Gefahr nochmal – ABER IN GROSS! Ein größeres Monster, eine größere Armee, ein größerer Julius Scaeva (ja, das passiert wirklich). Als leichte Unterhaltung, über die man nicht nachdenkt, geht der Roman damit vielleicht durch, aber als Abschluss einer Saga mit hochgehaltenen subversiven Selbstansprüchen bleibt er substanzlos und blutarm. Da hilft auch das mühselig eingearbeitete und vielleicht noch mühseliger zu lesende Beziehungsdreieck nicht mehr.

Schreibstil

Schon im noch deutlich überzeugenderen ersten Band stach die Diskrepanz zwischen groß angekündigten Blutbädern und den dann doch erstaunlich harmlosen Beschreibungen ins Auge. Nachdem die sprachlichen Feinheiten zudem im zweiten Band zunehmend nachließen und mich angesichts der klischeetriefenden Adjektivexzesse wüschen ließ, Ashlinn Järnheim wäre ohne Augen auf die Welt gekommen, beginnt nun auch die Erzählstimme zu nerven. Was sich zuvor noch als ironisch-abgeklärt im Stil etwa von Jonathan Strouds Bartimäus-Büchern verkaufen ließ, wirkt nun, da klar ist, wie zahm der Inhalt bleiben wird, unangemessen arrogant. Ansonsten sind Ashlinns Augen noch immer blau genug, um in jedem Kapitel beschrieben zu werden, außerdem ist die neue Lieblingsabgedroschenheit offenbar die „schlanke Klinge“, mit der die Frauen im Roman ständig verglichen werden. Die vielen Flüche, welche die Figuren ständig ausstoßen müssen, damit man ja nicht vergisst, dass dies keine gewöhnliche Heldengeschichte ist, wie man ja weiß, fluchen Helden nicht, haben inzwischen jegliche Wirkung verloren, ebenso wie die vielen expliziten Sexszenen, die zur Story ungefähr so viel beizutragen haben wie ein Chicken-Nugget zu einem Schwertkampf.

Die Offenbarung, wer sich hinter der geheimnisvollen Erzählstimme und somit dem Chronisten von Mias Leben verbirgt, ist ernüchternd und lässt sich mit dem ersten Band erneut nur bedingt in Einklang bringen. Als Twist taugt die Lösung des Rätsels wenig, da man erstmal damit beschäftigt ist, sich klar zu machen, dass damit auch alle Sexszenen von dieser Figur geschrieben wurden.

Doch nichts schlägt die unbeholfene Art, mit der Kristoff sich im dritten Band an einer ganz anderen Form von Metafiktion versucht: Die ersten beiden Nevernight-Bände tauchen im Laufe der Handlung in der Bibliothek der Roten Kirche auf und werden zum Teil der Handlung. Daraus resultieren leider kaum kluge Spielereien mit Textebenen, sondern vor allem peinliche Selbstrechtfertigungen, wenn der Autor seine Figuren über die Bücher diskutieren lässt und ihnen dabei häufig angeführte Kritikpunkte in den Mund legt. Die Taktik, auf narrative oder sprachliche Schwächen aufmerksam zu machen, indem die Charaktere sie selbst ansprechen, nennt man üblicherweise Lampshading und sie hat ein allgemein bekanntes Problem: Dass eine Gladiatorin in der Geschichte ausdrücklich anmerkt, wie unangenehm männlich die Perspektive in den Sexszenen ist, macht die Sexszenen nun mal nicht besser, sondern mach nur verstärkt darauf aufmerksam, dass die Schwäche im dritten Band immer noch vorliegt. Der humorvolle Ton, der wohl signalisieren soll, wie locker der Autor mit Kritik umgeht, kippt zunehmend ins Defensive und gipfelt in einem flapsigen: „Wenn ihr so große Literaturexperten seid, warum schreibt ihr dann nicht einfach selbst ein Buch?“ Diese Dünnhäutigkeit lässt den rotzigen Ton der Reihe retrospektive wirken wie das süffisante Getue eines unsicheren Teenagers. Schlimmer ist nur das Eigenlob, wenn Figuren die überraschende Wendung im ersten Band loben, uns aber nur unglücklich daran erinnern, dass der aktuelle Band bislang keine vergleichbare Szene anzubieten hatte.

Der Autor

Jay Kristoff wurde 1973 in Perth geboren. Der Australier entwickelte bereits als Kind eine Leidenschaft für Phantastik, doch erst nachdem er ein Jahrzehnt in der Werbebranche tätig war, veröffentlichte er 2012 seinen ersten Roman Stormdancer. Der erste Band einer japanisch angehauchten Steampunk-Trilogie namens The Lotus War stellte nur den Anfang seines kreativen Schaffens dar. Seitdem veröffentlicht er jedes Jahr wenigstens ein Buch, einige davon in Kooperation mit der australischen Autorin Amie Kaufman. 2017 erschien Die Illuminae Akten, der erste Band ihrer gleichnamigen Reihe, auf Deutsch, und schaffte es ebenso wie Nevernight auf die Phantastische Bestenliste von PAN e.V. und Literaturschock.

Kristoff lebt heute in Melbourne – nach eigenen Angaben zusammen mit seiner Geheimagenten-Kung-Fu-Assassinenehefrau und dem faulsten Jack Russell Terrier der Welt.

Erscheinungsbild

Rein optisch ist die Nevernight-Reihe noch immer eine der ansprechendsten, die in den letzten Jahren auf dem deutsche Phantastikmarkt erschienen sind, und das Coverdesign macht einiges her: In einem schattenhaften Ballkleid, ihre Dämonen hinter sich versammelt, steht Mia am Ende ihrer Reise. Dass der Verlag auf die eingefärbten Schnitte bereits beim zweiten Band verzichtet hat, ist etwas schade, denn das Konzept wurde vom englischsprachigen Original übernommen und wird im Buch entsprechend beschrieben.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Fischer Tor
  • Autor: Jay Kristoff
  • Erscheinungsdatum: 29. Januar 2020
  • Sprache: Deutsch (Aus dem Englischen übersetzt von Kirsten Borchardt)
  • Format: gebunden
  • Seitenanzahl: 784
  • ISBN: 978-3-5967-0358-6
  • Preis: 24,99 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon, idealo

 

Fazit

Es genügt nicht, mit Pauken und Trompeten einen guten Start hinzulegen, man muss auch irgendwann wieder vom Himmel herunterkommen, und in dieser Hinsicht legt Nevernight – Die Rache eine kolossale Bruchlandung hin. Das Wiedersehen mit bekannten Figuren ist natürlich nett zu lesen, aber der subversive Eigenanspruch, mit Mia Corvere eine legendäre Antiheldin zu erschaffen, die jenseits aller herkömmlichen moralischen Fantasycodes steht, wird schlicht nicht eingehalten. Er weicht einer ganz gewöhnlichen Heldensaga über ein auserwähltes Mädchen, die eher wirkt wie ein zweitklassiges Jugendbuch, in dem etwas viel geflucht wird. Die episodenhafte Handlung ist zwar unterhaltsam, aber zugleich völlig beliebig, mit Erwartungen wird allgemein wenig gebrochen und die wenigen Twists sind entweder vorhersehbar oder lassen einen ratlos zurück. Nachdem klar ist, dass Figuren von den Toten zurückkehren können, fühlt es sich zudem nicht mehr so an, als stehe Mias Leben wirklich auf dem Spiel.

Aber verzweifelt nicht, meine edlen Freunde: Wenn euch der Sinn nach einer erbarmungslosen Antiheldin steht, die für ihre Rache über Leichen gehen wird, werft doch einen Blick in Seth Dickinsons völlig unterschätztes Das Imperium der Masken, dessen Band ebenfalls bei Fischer Tor erschienen ist. Mein persönlicher innerer Teenie-Goth hat außerdem überhaupt keine Zeit, enttäuscht zu sein, denn mit Ich bin Gideon hat Tamsyn Muir letztes Jahr den besten Roman über Totenbeschwörerinnen veröffentlicht, den ich je gelesen habe. Ich würde allerdings auch davon ausgehen, dass sich im Internet die eine oder andere Arya-Stark-Fanfiction findet, die lesenswerter ist als dieses unblutige Blutbad.

 

Artikelbild: © Fischer Tor
Layout und Satz: Melanie Maria Mazur
Lektorat: Nina Horbelt
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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