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Mia Corvere ist zurück – und diesmal muss sich die schattenmagische Mörderin nicht als Assassine, sondern als Gladiatorin beweisen. Im zweiten Band von Jay Kristoffs Nevernight-Chroniken geht es wieder blutig ans Werk, während die Grenze zwischen Freund und Feind immer weiter verschwimmt. Dabei kommt einem vieles schon bekannt vor.

Mit Nevernight: Die Prüfung erlebte ich letztes Jahr eine Überraschung. Extravagant, melodramatisch und geradezu unverschämt selbstbewusst überzeugte das Teenie-Goth-Epos über den Rachedurst der angehenden Assassine Mia Corvere nicht trotz, sondern gerade wegen seiner Affinität zu gängigen Klischees. Altbekannte Elemente stimmig kombiniert sorgten für Spannung. Sympathische Figuren und eine ausgefuchste Erzählstruktur, vor allem aber das Setting der geheimen Assassinenschule machten den Roman zu einem kleinen Highlight. Der erste Band war zwar einigermaßen in sich abgeschlossen, endete aber mit obskuren Hinweisen auf ein großes Geheimnis um die dreisonnige Welt von Nevernight. Es scheint deutlich mehr auf dem Spiel zu stehen als nur Mias Racheplan. Entsprechend hoch sind nun die Erwartungen an die Fortsetzung. Kann Autor Jay Kristoff seine Schattenmagie noch einmal wirken?

Story

Mia Corvere träumt noch immer davon, den Tod ihrer Familie zu rächen. Zwei der mächtigen Männer, die damals die Rebellion ihres Vaters niederschlugen, leben noch und scheinen unerreichbar. Senator Julius Scaeva und der Großkardinal Francesco Duomo werden streng bewacht und von heiligen Mächten geschützt, die es Mia unmöglich machen, ihre Schattenmagie zu wirken. Auf ihren Orden kann die frischgebackene Assassine nicht zählen, daher muss sie einen selbst für eine Meuchelmörderin unkonventionellen Weg einschlagen: Das Venatus Magni steht an, das größte Spektakel der Republik, bei dem die besten Gladiatoren sich bis zum Tode bekämpfen. Dem Gewinner winkt die Freiheit – und eine Audienz, bei der Senator und Konsul ihm in traditioneller Bettlergewandung entgegentreten.

Kurzentschlossen lässt sich Mia in die Sklaverei verkaufen, um sich der erfolgreichsten Gladiatorenstaffel anzuschließen. Ein Plan, der zunächst einmal höllisch schiefgeht. Statt vom klaren Favoriten Leonidas wird sie von dessen störrischer Tochter ersteigert, die aus einer Gruppe Außenseiter ihre eigene Siegerstaffel zusammenstellen will. Die Chancen dafür stehen aber ziemlich schlecht. Um beim Großen Spiel antreten zu können, müssen Mia und ihre Schicksalsgenossen zusammenarbeiten und Siege erringen, immer in dem Bewusstsein, dass sie sich am Ende selbst in der Arena gegenüberstehen werden. Und das ist noch längst nicht Mias einzige Sorge, denn inzwischen ist auch Ashlinn Järnheim wiederaufgetaucht, einstmals ihre engste Freundin und nun, nach allem, was geschehen ist, ihre ärgste Feindin. Oder…?

Das Setting erinnert an Hunger Games.

Nachdem das Schulsetting in Die Prüfung zwischendurch immer wieder liebevolle Harry Potter-Erinnerungen wachrief, betreten wir mit Das Spiel eindeutig Hunger Games-Terrain. Um an ihr Ziel zu gelangen, kämpft sich Mia durch eine ganze Reihe phantasievoller Arenen, die allerdings kaum bleibenden Eindruck hinterlassen. Wieder muss sie sich beweisen und im Ansehen ihrer Ausbilder aufsteigen, nur dass es sich diesmal um Gladiatoren statt Assassinen handelt. Insofern fühlt sich der Roman als Fortsetzung etwas merkwürdig an. Nachdem man so lange bei Mias Ausbildung mitgefiebert hat, hätte man sich gewünscht, dass bei dieser nächsten Etappe in ihrem Rachefeldzug entsprechende Fähigkeiten zum Einsatz kommen, doch stattdessen beginnt sie gewissermaßen wieder bei null. So bleibt man zwar generell interessiert und lässt sich gerne von Mias weiteren Abenteuern unterhalten, behält jedoch das dumpfe Gefühl zurück, dass die junge Heldin nicht wirklich vom Fleck gekommen ist.

Ironischerweise bremsen gerade die Stärken seines Vorgängers den Roman aus. Mias Lehrer und Mitschüler hatten einen hohen Wiedererkennungswert und wuchsen einem ans Herz, haben jedoch in Das Spiel überwiegend nur kleine Gastauftritte. Die Gladiatorentruppe, um die sich nun alles dreht, ist zwar keineswegs unsympathisch, kann aber den Figuren aus dem ersten Band nicht das Wasser reichen. Entsprechend fühlt sich die Art, auf die einige Nebencharaktere schnellstmöglich aus der Handlung rausgeschrieben wurden, um Platz für neue Begegnungen zu machen, etwas enttäuschend an.

Spoiler

Das gilt in gewisser Weise auch für Ashlinn, die als einzige Figur in einer zentralen Rolle bleibt. Im letzten Buch gab sie sich am Ende als böse Ränkeschmiedin zu erkennen und tötete Mias Liebhaber Tric, was sie für die Fortsetzung zu einer interessanten neuen Gegnerin gemacht hätte. Nun taucht sie wieder auf und wird in Rekordzeit zum neuen Love Interest, was deutlich mehr Zeit gebraucht hätte, um halbwegs glaubwürdig zu sein. Das ist gleich doppelt schade, denn im Prinzip ist eine bisexuelle Protagonistin mehr als willkommen. Doch, ach, der Funke springt nicht über.

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Der Eindruck bestärkt sich im Hinblick auf einen der zentralen Spannungspunkte des Romans. Mia wird vom Erzähler regelmäßig als grausames Monster beschrieben, das nach innerer Erzähllogik alles und jeden verraten müsste. Die Freundschaften, die sie während ihrer Ausbildung zur Assassine schloss, standen immer in leichtem Widerspruch zu dem blutigen Handwerk, das sie gerade erlernte. Wie sollte schließlich eine echte Freundschaft zwischen konkurrierenden Assassinen überhaupt möglich sein? Außerdem stellt sich die Frage: Kann die Dunkelinn wirklich einen Unschuldigen töten? Diese Konflikte wiederholen sich nun eins zu eins in der Arena. Für die Leser hat sich allerdings die Frage nach Mias moralischer Grundhaltung im letzten Buch genauso geklärt, wie die nach ihrer Loyalität. Zugegeben, Kristoff gelingt es erneut, diesbezüglich Zweifel zu säen, sodass die Spannung nicht einfach verpufft, aber alles, was man über Mia noch aus dem ersten Buch weiß, wird hier schlicht noch einmal auf den Prüfstand gestellt.

Die Fortsetzung nutzt ihr Potenzial nicht aus, kann aber dennoch unterhalten.

So bleibt diese Fortsetzung weit hinter ihren Möglichkeiten zurück, kann aber dennoch ganz gut unterhalten. Mia erfährt mehr über die Hintergründe ihrer Familie – einiges hat man kommen sehen, anderes nicht – und auch einiges über ihr Dasein als Dunkelinn. Dass nun zwei geheimnisvolle Kreaturen in ihrem Schatten wohnen, die sich obendrein nicht ausstehen können, ist ausgesprochen amüsant und man wünscht sich deutlich mehr Interaktion zwischen Mister Freundlich und Eclipse. Insbesondere das Finale ist sehr ausgewogen und lässt einen doch recht zufrieden zurück. Es steht zu hoffen, dass Mia im dritten Band ihre Römersandalen im Sand der Arena zurücklässt und zu neuen Ufern aufbricht.

Schreibstil

Die ironisch-abgeklärte Erzählhaltung aus dem ersten Band wird in Das Spiel beibehalten und kommentiert das Geschehen dankenswerterweise so, dass man sich gut abgeholt fühlt, selbst wenn der erste Band schon eine Weile her sein sollte. Nach wie vor findet einiges an Worldbuilding, vor allem historischer Natur, in den Fußnoten statt, die gewissermaßen zum Markenzeichen der Reihe geworden sind. Jay Kristoffs Gabe für kluge Erzählstrukturen scheint allerdings etwas zu schwächeln. Das Buch hat nahezu exakt den Aufbau seines Vorgängers, doch wo die Rückblenden in Die Prüfung nach und nach Mias Kindheitstrauma aufdeckten, eröffnen sie hier Ereignisse, die Wochen oder höchstens Monate zurückliegen. Es gibt keinen ersichtlichen Grund, aus dem all das nicht auch chronologisch hätte erzählt werden können, bis auf einen kleinen Mini-Twist, der aber so vorhersehbar ist, dass er die Frustration, ständig aus der Handlung (strenggenommen ja sogar aus beiden Handlungen) gerissen zu werden, kaum rechtfertigt.

Ein Eindruck, der sich außerdem aufdrängt, ist, dass die Sprache in diesem Band etwas nachgelassen hat. Bezeichnungen neigen dazu, sich bis ins Komische zu wiederholen. So etwa Klischeeausdrücke wie „Kurven“ und „Rundungen“, oder nicht enden wollende Beschreibungen von Ashlinn Järnheims blauen Augen („wunderschön“, „funkelnd“, „sonnenversengt“, „so blau wie der wolkenlose Himmel“, man wünscht sich beizeiten, die Figur hätte einfach gar keine Augen). All das sind Kleinigkeiten, die sich im ersten Teil noch nicht so auffallend häuften. Dennoch gilt: Wenn einem der Ton zusagt, liest sich das Buch sehr ähnlich wie der Vorgänger, wenn auch in mancherlei Hinsicht zu ähnlich.

Der Autor

Jay Kristoff wurde 1973 in Perth geboren. Der Australier entwickelte bereits als Kind eine Leidenschaft für Phantastik, doch erst nachdem er ein Jahrzehnt in der Werbebranche tätig war, veröffentlichte er 2012 seinen ersten Roman Stormdancer. Der erste Band einer japanisch angehauchten Steampunk-Trilogie namens The Lotus War stellte nur den Anfang seines kreativen Schaffens dar. Seitdem veröffentlicht er jedes Jahr wenigstens ein Buch, einige davon in Kooperation mit der australischen Autorin Amie Kaufman. 2017 erschien Die Illuminae Akten, der erste Band ihrer gleichnamigen Reihe, auf Deutsch, und schaffte es ebenso wie Nevernight auf die Phantastische Bestenliste von PAN e.V. und Literaturschock. Der dritte Band der Nevernight-Chroniken ist für 2019 angekündigt.

Kristoff lebt heute in Melbourne – nach eigenen Angaben zusammen mit seiner Geheimagenten-Kung-Fu-Assassinenehefrau und dem faulsten Jack Russell Terrier der Welt.

Erscheinungsbild

Wieder gilt: Das Cover von Nevernight gibt ganz hervorragend die Stimmung des Buchs wieder. Das Mädchen mit der venezianischen Maske ist erwachsen geworden, hat enganliegenden Gothicfummel gegen schwere Rüstung und den schmalen Dolch gegen zwei blutbeschmierte Gladii getauscht und trägt einen opulenten roten Federumhang. Im Hintergrund sieht man schemenhaft die Arena, die Botschaft ist wieder einmal klar: Hier geht es zur Sache, weniger subtil, etwas rabiater, aber auf jeden Fall genauso blutig wie beim letzten Mal.

Ansonsten ist das Buch gewohnt hochwertig, allerdings diesmal ohne bunte Schnittverzierung.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Fischer Tor
  • Autor: Jay Kristoff
  • Erscheinungsdatum: 25. April 2018
  • Sprache: Deutsch (Aus dem Englischen übersetzt von Kirsten Borchardt)
  • Format: gebunden
  • Seitenanzahl: 704
  • ISBN: 978-3-5962-9759-7
  • Preis: 22,99 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon (auch zum englischen Original und als Hörbuch)

 

Bonus/Downloadcontent

Es gibt neben den bereits bekannten Karten von Itreya und Gottesgrab auch eine von Krähennest, wo große Teile des Buches spielen. Allerdings ist „Karte“ hier beinahe schon zu weit gegriffen, denn es handelt sich eher um eine hübsche Zeichnung, die zwar auf das Buch einstimmt, aber keinerlei Orientierungshilfe bietet. Die braucht man aber auch nicht, um der Handlung zu folgen.

Fazit

Nevernight: Das Spiel hat mit einigen Schwierigkeiten zu kämpfen, die für den Mittelteil einer Trilogie typisch sind. Einerseits möchte es eine ganz neue Geschichte erzählen, andererseits soll es die bereits angefangene Handlung fortsetzen und letztlich kann es sich zwischen diesen beiden Optionen nicht richtig entscheiden. Das Setting ändert sich massiv. Statt zur Assassine wird Heldin Mia Corvere nun zur Gladiatorin ausgebildet, Heimlichkeit, Tricks und Täuschung weichen brachialen Arenakämpfen. Dadurch bleiben einige liebgewonnene Figuren aus dem ersten Band auf der Strecke und diverse Entwicklungen, die die Protagonistin schon durchlaufen hatte, wiederholen sich. Abgesehen davon kommt nach einigen hundert Seiten Eingewöhnung dann doch Spannung auf und die ehemalige Freundschaft und nun Feindschaft zwischen Mia und der Verräterin Ashlinn Järnheim nimmt eine unerwartete Wendung. So gut wie sein Vorgänger ist der Roman trotzdem nicht.

Fans der Reihe kann man das Buch dennoch vorbehaltlos ans Herz legen, es fühlt sich durchaus noch an wie Nevernight und lässt Vorfreude auf ein großes Finale im dritten Band aufkommen, bei dem endlich alle Karten auf den Tisch gelegt werden. Immerhin ist die Welt so dramatisch überzogen und die Erzählstimme so zynisch wie eh und je. Auch Leser, die einfach nur wissen wollen, wie es weitergeht, werden den Kauf vermutlich nicht bereuen, sollten jedoch nicht zu viel erwarten. Wer allerdings schon Die Prüfung angesichts der vollmundig angekündigten und dann nur halbherzig umgesetzten Antihelden-Chose etwas zu zahm fand, dem sei eher zu Seth Dickinsons herrlich konsequentem Politfantasyroman Die Verräterin geraten.

Artikelbild: Fischer Tor, Bearbeitet von Verena Bach
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

 

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