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Mit Tolkien und der Erste Weltkrieg hat John Garth beleuchtet, wie die Erschaffung von Mittelerde mit den Erlebnissen des Professors im ersten Weltkrieg zusammenhing. Sein neues Buch, Die Erfindung von Mittelerde, erkundet nun, welche Orte und Umstände Tolkien inspiriert haben. Wir haben mit dem Autor gesprochen.

J.R.R. Tolkien ist einer der besterforschten Autoren des 20. Jahrhunderts. Seine Werke beschäftigen Millionen, sein Name verspricht Eskapismus, eine gewaltige Welt – und wird außerdem gerne zu Marketing-Zwecken im Tourismus genutzt. John Garth, Journalist und für seine Arbeit über Tolkien mit dem Mythopoeic Award for Scholarship ausgezeichneter Autor, erklärt uns in seinem neuen Buch, Die Erfindung von Mittelerde, was Sarehole Mill, Lauterbrunnen und der Faringdon Folly Tower nahe Oxford gemeinsam haben. Nachdem wir bereits letztes Jahr einen Blick ins Buch geworfen haben, hatten wir nun das Vergnügen, ein Gespräch mit John Garth führen zu dürfen.

Das Interview wurde verbal und in englischer Sprache geführt und sinngemäß übersetzt.

Wie hat alles angefangen?

Teilzeithelden: Wie bist du selbst zum ersten Mal mit Tolkien in Kontakt gekommen – und was hat deine Begeisterung geweckt?

John Garth: Ich habe Der Herr der Ringe zum ersten Mal gelesen, als ich neun Jahre alt war. Da stand dieses dicke, verlockende Buch im Familienregal, mit Kartenmaterial, wundervollen Namen und Bildern. Ich kannte schon die Narnia-Geschichten und auch andere, ähnliche Bücher; da wusste ich rasch, dass das auch etwas für mich wäre. Ich erinnere mich heute noch daran, wie es sich damals anfühlte, diese Dinge zu erleben, ohne das zu wissen, was ich heute weiß.

John Garth, Journalist und für seine Arbeit über Tolkien mit dem Mythopoeic Award for Scholarship ausgezeichneter Autor. Foto ©  Janet Miles, 2016

Ich war jedenfalls sehr jung und die Geschichte hat mich sehr beeindruckt. Nach der Lektüre wollte ich Professor für englische Sprache und Literatur werden, natürlich in Oxford, wie Tolkien. Nun bin ich weder so clever noch so gut ausgebildet, wie Tolkien es war. Ich habe eine staatliche Schule besucht, er eine deutlich bessere; das hat mich aber nicht davon abgehalten, in Oxford zu studieren. Ein solches Studium lehrt einen Überblick über englische Literatur, von frühen angelsächsischen Werken bis heute. Natürlich haben wir auch Teile von Beowulf gelesen. Altenglisch ist dem Deutschen sehr nah, die ganzen grammatikalischen Regeln – die meisten hassten es, aber aufgrund meiner Nähe zu Tolkien fiel mir der Umgang damit leicht. Ich war von der Atmosphäre, von der Machart begeistert. Wir haben uns natürlich auch mit Linguistik und Phonetik auseinandergesetzt, und auch da hatte ich einen Vorteil: Die Appendizes von Der Herr der Ringe enthalten das Tengwar-Alphabet – inklusive phonetischer Beschreibung.

Was ich allerdings dort nicht lernte, war, warum Tolkien für mich so wichtig war. Mitte der 80er Jahre lernten wir, wie wir T.S. Eliott oder William Blake oder Shakespeare lesen konnten, aber irgendetwas an Tolkien war grundlegend anders. Tolkiens Werk war eine Geschichte. Erst, als ich The Road to Middle-earth von Tom Shippey las, verstand ich, dass Tolkien auf seine ganz eigene, unkonventionelle Art funktioniert.

Garths Werke

Teilzeithelden: Wie kam es zu der Idee von Tolkien und der Erste Weltkrieg?

© Klett-Cotta

John Garth: Lange nach meinem Studium war ich damit beschäftigt, ein elbisches Wörterbuch zu schreiben. Daran hatte ich schon als Kind gearbeitet, wenn ich nicht grade mit dem Verfassen alternativer Dungeons & Dragons-Regeln beschäftigt war. Die History of Middle-earth-Bände (zwölf Bände, 1983-1996 erschienen, Anm. d. Red.) erschienen damals fast im Jahresrhythmus und jeder neue Band war für mich wie so ein jährlicher Comic-Sammelband voll neuer elbischer Wörter, die ich nutzen konnte. Als dann der letzte Band erschienen war, war ich traurig; sollte das doch das letzte Buch sein, das von Tolkien veröffentlicht werden würde. Oh, wie falsch ich da lag.

Ich begann jedenfalls, über die rein katalogisierende Arbeit hinaus ein Wörterbuch zu schreiben, welches die Entwicklung der Elbensprachen während Tolkiens Schaffensprozess widerspiegeln sollte. Schließlich hatten die Sprachen sich mit der Zeit verändert, Tolkien hatte sie verändert. Damit das ging, musste ich natürlich verstehen, zu welchem Zeitpunkt Tolkien was genau verfasst hatte. Darüber kam ich zu Tolkien und der Erste Weltkrieg: Als er das Legendarium begann, war er Student und Soldat. Ich begann also, seine Texte in eine chronologische Reihenfolge zu bringen, und erforschte seine Erlebnisse im Ersten Weltkrieg. Das war dann das Ende für mein Wörterbuch: Ich hatte nun breiter gefasste Interessen als pure Katalogisierung.

Das Cover der deutschen Ausgabe. © wbg Theiss

Teilzeithelden: Nach Tolkien und der Erste Weltkrieg folgt mit Die Erfindung von Mittelerde ein Werk, welches nicht nur optisch einen anderen Fokus setzt?

John Garth: Man muss ein Buch nach seinem Ziel und seiner Leserschaft gestalten. Die Zielgruppe ist eine andere als bei meinem ersten Buch. Die Erfindung von Mittelerde soll vor allem Tolkien-Fans begeistern und Einblick für diejenigen geben, die neugierig sind und nachblättern möchten. In Tolkien und der Erste Weltkrieg geht es vor allem um einen Punkt; nämlich wie die Erschaffung von Mittelerde mit einem globalen Krieg zusammenhängt. Es ist eine Erzählung, die einen roten Faden verfolgt. Mein neues Buch ist eher mit einem Buntglasfenster mit vielen verschiedenen Motiven zu vergleichen. Es gibt keine grade Linie, weil das Motiv sehr komplex ist. Wo fängt man überhaupt an? Ich habe die Orte, die Tolkien inspiriert haben, in verschiedene Kapitel eingeteilt: England, Handwerk und Literatur, aber auch Archäologie, Wälder, Berge und natürlich die See haben ihren Platz.

… aber auch Archäologie, Wälder, Berge und natürlich die See haben ihren Platz. © wbg Theiss

Teilzeithelden: Woher stammte die Idee, sich mit diesem komplexen Thema zu beschäftigen?

John Garth: Ich hatte nie den festen Vorsatz, genau dieses Buch zu schreiben. Ich arbeite an einer Art Fortsetzung zu meinem ersten Tolkien-Buch, das sich damit beschäftigt, wie die Krisen von Tolkiens Zeit, die beiden Weltkriege, der Aufstieg von Diktaturen, Mittelerde inspiriert haben. Eine befreundete Journalistin erzählte mir, dass der Verlag, für den sie arbeitete (Frances Lincoln), ein Buch über die Orte, die Tolkien inspiriert haben, sehr begrüßen würde. Die Leserschaft sei sehr für helle, farbenfrohe Bücher über England zu begeistern. Da ich bereits viel Material vorliegen hatte, dachte ich mir: Warum nicht? Das eigentliche Schreiben stellte sich dann als ungleich schwieriger als erwartet heraus. Durch die vielen Zusammenhänge, denen ich begegnete, wurde der Schaffensprozess zu einer Herausforderung. Ich hoffe, durch die verschiedenen Panels, Verweise und Texte bringt das Buch seine Leserschaft dazu, es immer wieder zum Nachschlagen und Blättern in die Hand zu nehmen, während sie Tolkien lesen und dabei verfolgen, welche Zusammenhänge die Szene, die sich ihnen gerade bietet, aufweist. „Hier hat Garth etwas gesagt, was ich total spannend finde“, das ist das Erlebnis, das ich anbieten möchte.

Die Leserschaft sei sehr für helle, farbenfrohe Bücher über England zu begeistern. © wbg Theiss

Teilzeithelden: Welche deiner neuen Erkenntnisse haben dich selbst auch überrascht?

John Garth: Einige. Nur wenige Kilometer außerhalb Oxfords steht beispielsweise der Faringdon Folly Tower. Nun muss man wissen, dass Tolkien sich in einer berühmten Vorlesung mit Kritik an dem Beowulf-Gedicht auseinandergesetzt hat. Er sprach von dem Gedicht als einem Turm, der gebaut wird, und dessen Sinn die Nachbarn nicht verstehen. Sie hatten ihn also umgeworfen. Tolkien hasste, was die Kritiker dem Gedicht angetan hatten; es war schließlich ein Kunstwerk: Vom Turm hoch oben konnte man auf das Meer hinausblicken. Zu der Zeit, als Tolkien diese Vorlesung hielt, war besagter Faringdon Folly Tower gerade erbaut worden. Tolkien hat dieses Bauwerk sogar in Mittelerde verewigt: in Form der Elbentürme im Norden des Auenlandes, dessen Sinn die nächsten Nachbarn nicht verstehen. Die Hobbits haben kein Interesse daran, das Meer zu sehen.

Ein simpleres Beispiel für einen solchen zeitlichen Zusammenhang lautet: In einem erst vor kurzem ins Englische übersetzte Interview mit Tolkien zeigt er Journalisten einen Ordner mit Fotos, die er als Inspiration nutzte. Darunter war ein Foto des letzten Ausbruchs des isländischen Vulkans Hekla. Dieser Ausbruch war von 1947 bis 1948, und die Kapitel, die sich mit dem Schicksalsberg und Mordor beschäftigen, begann Tolkien 1948 zu schreiben. So wie jede andere Person auch hat Tolkien seine Kunst nicht einfach mit Magie erschaffen. Er brauchte Ideen, Anstöße, Inspiration, und ich bin mir sicher: Der Ausbruch des Hekla hat Tolkien inspiriert.

Teilzeithelden: Wie entsteht ein solches Buch und wie sieht die Arbeit daran aus?

John Garth: Zunächst braucht man natürlich ein breites, aber auch detailliertes Wissen über Tolkien sowie genuines Interesse und fundierte Kenntnis der Weltgeschichte seiner Zeit. Meine Tätigkeit als Biograph und mein Interesse am Verständnis der zeitlichen Abfolge war da ein guter Anfang; so konnte ich Erkenntnisse herausarbeiten, die bisher niemand sonst bemerkt hat. Indem ich mich auf Tolkiens Briefe konzentriert habe, konnte ich den Zeitpunkt herausfinden, an welchem Tolkien die Arbeit an seiner Erzählung des Untergangs von Númenor, seiner Atlantis-Geschichte, begonnen hat: Tolkien sprach von einem Klappentext, den er für Der Hobbit verfasst hatte, und wir wissen, dass das im Jahr 1936 war. Dem Volk von Númenor wurde ein Paradies gegeben – und sie werfen es weg! Númenor ist dieser wilde, zornige und traurige Haufen aus Dummheit und Gier. Im Jahr 1936 endete der nach dem Ersten Weltkrieg entstandene Frieden. Hitler besetzte das Rheinland in diesem Jahr, Mussolini ließ in Äthiopien mit Gewehren gegen Speere kämpfen, in Spanien herrschte Bürgerkrieg und in der Sowjetunion fanden „Säuberungen“ statt. Es war ein schreckliches Jahr und Tolkien war von Sorge erfüllt: Um den Frieden, um die Freiheit – um seine Söhne, die in einem kommenden Krieg eingezogen werden würden. Er wusste genau, wie schrecklich ein solcher Krieg war, er hatte den Ersten Weltkrieg erlebt. Das hat diese Geschichte beeinflusst.

Teilzeithelden: Das Buch enthält viele Illustrationen und Karten. Hast du diese selbst ausgewählt?

John Garth: Als ich den Text fertiggestellt hatte, fragte mich der Verlag nach einigen Ideen für Illustrationen der verschiedenen Kapitel. Jemand wurde beauftragt, passende Motive zu suchen. Ich hatte außerdem die Idee, Karten, die Tolkien vielleicht selbst genutzt hatte, zu verwenden. Der Verlag wollte das Buch mit einer Karte des modernen Englands im Mittelerde-Stil bebildern, ich habe ihnen diese Idee ausreden können. Ich wollte nicht die Idee kolportieren, dass die moderne Welt eine Fantasy-Welt ist; ich wollte die Orte zeigen, die für Tolkien als Inspiration gedient haben. Die Motivsuche hatte einige gute und auch einige weniger gute Ergebnisse. Wir haben uns über mehrere Monate immer wieder ausgetauscht; einen Teil der Recherche habe ich selbst übernommen. Ich war sehr pingelig und sie waren sehr geduldig mit mir. Das war ein manchmal frustrierender, aber absolut lohnenswerter Prozess, denn das Ergebnis kann sich wirklich sehen lassen. Am Ende hätte noch mehr Material seinen Weg in das Buch finden können, aber man muss ein Werk dieser Art nun einmal mit einer bestimmten Seitenzahl planen und sich dann auch daran halten.

Der Verlag wollte das Buch mit einer Karte des modernen Englands im Mittelerde-Stil bebildern… © wbg Theiss

Teilzeithelden: Du hast weiteres Material zur Verfügung, das es nicht ins Buch geschafft hat, und arbeitest bereits an einem weiteren Buch. Womit wird sich dieses beschäftigen?

John Garth: Tolkien und der Erste Weltkrieg war im Grunde ein erzählerisches Werk mit Kommentaren. Mein neues Buch beschäftigt sich zunächst erneut mit dem Ersten Weltkrieg – denn ich habe neue Erkenntnisse mitzuteilen – und erstreckt sich über den Zweiten Weltkrieg mit Tolkiens Schaffensprozess bis zum Ende seiner Arbeiten an Der Herr der Ringe. Es wird sich mit der großen und umstrittenen Frage beschäftigen, ob und in welchem Maße der Zweite Weltkrieg die Handlung von Der Herr der Ringe beeinflusst hat; ein Umstand, den Tolkien zu Lebzeiten immer heruntergespielt hat. Einer meiner Kernpunkte lautet, dass der Einfluss von Ereignissen auf ein Werk sich nicht immer nur in einer Allegorie ausdrückt. Die Númenor-Erzählung ist nur ein Beispiel dafür. Wenn man sagt, „Das erste Zeitalter ist der Erste Weltkrieg“, das funktioniert nicht. Aber die Geschichten des ersten Zeitalters sind das Produkt der Geschehnisse des Ersten Weltkriegs, ohne dabei allegorisch zu sein. Nehmen wir beispielsweise Sauron: Im Zuge der Geschichte von Númenor wurde der Charakter, der seinen Ursprung in Beren und Lúthien hat, stark verändert. Er wurde zu einer Art modernem Tyrann, eine Mischung all der Dinge, die um Tolkien herum geschahen; aber seine Erzählung wurde nicht allegorisch.

Was im Leben passiert, hat immer einen Einfluss auf den eigenen Schaffensprozess. Man kann nicht einfach aus sich heraustreten und ich glaube auch nicht, dass Tolkien das versucht hat. Nicht alles in einer Geschichte, was mit der realen Welt außerhalb der Geschichte zu tun hat, ist allegorisch zu verstehen. Das ist ein zu umfangreiches Thema für ein kurzes Interview, aber da gibt es fundamentale Unterschiede!

Teilzeithelden: Lieber John, ich bedanke mich im Namen von Teilzeithelden für die Zeit, die du dir für uns genommen hast.

Artikelbild: © wbg Theiss, © Erin Beck
Layout und Satz: Melanie Maria Mazur
Lektorat: Sabrina Plote
Fotografien: © Erin Beck, © Janet Miles, © Lukas Heinen 

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