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Die letzten Wochen und Monate waren für uns alle anstrengend. Die Welt ist unruhig, von Corona bis zu weltweiten Protesten gegen Rassismus verlangt uns der Alltag einiges ab. In dieser Zeit bietet uns John Garth einen Weg in eine ganz andere Welt, in der das Gute am Ende triumphiert: Mittelerde.

Dieser Rezension liegt das englischsprachige Originalwerk zu Grunde. Zitate aus dem Buch wurden durch die Teilzeithelden frei übersetzt. Das Buch wird nächstes Jahr in Deutschland erscheinen.

„Viele Kritiker scheinen anzunehmen, dass Mittelerde ein anderer Planet ist“, schrieb Tolkien in einem seiner Briefe. Doch das ist es nicht, finden sich in Mittelerde doch Unmengen an Ideen, Themen und Stilen wieder, die einer reichen west- und nordeuropäischen Geschichte entstammen.

Es ist kein Geheimnis, dass Tolkien sein Wissen um zahlreiche nordische Mythologien, darunter die Legende des Beowulf und die finnische Kalevala, sowie seine etymologischen und linguistischen Fähigkeiten in seinem Schaffensprozess nutzte. Nicht zuletzt wollte er dadurch seine zu Lebzeiten veröffentlichen Werke und auch die Texte, die später das Silmarillion bilden sollten, eher wie ein Geschichtsbuch denn ein Märchen wirken lassen: Mittelerde sollte in den Kontext unserer bekannten, realen Welt gesetzt werden.

Doch der Mensch kann nur beschreiben, was er kennt. Seine Erlebnisse, seine Erfahrungen sind es, die in sein Werk einfließen. Ob der Biss einer Vogelspinne wirklich die Inspiration für die Riesenspinnen Kankra und Ungoliant war? John Garth nähert sich in seinem neuen Buch, The Worlds of J.R.R. Tolkien, diesen Erfahrungen. 

Der Inhalt

Bei John Garths Buch handelt es sich um ein populärwissenschaftliches Werk, welches, durch zahlreiche Abbildungen ergänzt, von den Orten berichtet, die Tolkien inspiriert haben.

Der Inhalt beschränkt sich nicht nur auf die Plätze, die Tolkien tatsächlich besucht hat. Auch die Orte, von denen Tolkien nur gehört oder gelesen hat, finden Erwähnung und werden vorgestellt. Garth verbindet im Rahmen seiner Recherchen geschickt belegbare Fakten aus verschiedenen Quellen, um ein stimmiges Bild der Inspirationen Tolkiens zu zeichnen. Dazu nutzt er auch bisher unveröffentlichtes Material. Ein „Ort“ in Garths Sinn meint eine Kombination aus der tatsächlichen örtlichen Begebenheit und dem Kontext, in dem diese zu Tolkiens Zeit steht. Dieser Kontext kann aber auch die Geologie oder Ökologie, die Kultur – oder sogar die Nomenklatur des Ortsnamens beinhalten. Auf Tolkiens biographischen Spuren versetzt Garth sich in den Jahrhundertautor hinein und stellt Querverbindungen zu dessen kreativem Schaffensprozess her.

Die ersten Kapitel des Buches konzentrieren sich auf England und Irland. Im Anschluss schwenkt Garth zur Topographie dieser Landschaften über: Es geht um Ozeanküsten, um hohe Berge, kleine Flüsse und malerische Täler. Schließlich wechselt er zu den Orten, wo die Natur durch den Menschen beeinflusst wurde – durch Kriege, Landwirtschaft und Industrialisierung.

Schon auf den ersten Seiten begrüßt uns Hobbingen und das originale Cover von Der Hobbit.

Der Autor führt uns auf eine Reise durch zahlreiche Karten, Gemälde und Zeichnungen, manche von ihnen erstmals veröffentlicht. Wir begegnen Hobbingen, wie Tolkien es selbst gezeichnet hat, bewundern ein Foto der originalen Karte Mittelerdes und stöbern durch Karten von verschiedenen Regionen Englands des frühen 20. Jahrhunderts. Insbesondere die abgedruckten Kunstwerke werfen wunderschöne Schlaglichter auf Mittelerde – unter den Künstlerinnen und Künstlern sind Alan Lee und John Howe, Tolkien selbst und Pauline Baynes. Der Band geizt nicht mit aufbereiteten und teilweise nachkolorierten Fotografien, die den Leserinnen und Lesern nahebringen, welche Landschaften Tolkien früher selbst durchwandert hat.

Aus jeder Zeile des Buches springt uns entgegen, mit welcher Detailfülle Garth für dieses Buch recherchiert hat, und kleine wie große Anekdoten bringen uns dem Jahrhundertautor Tolkien näher.  Während manche Begebenheiten Tolkien-Interessierten schon bekannt sein mögen, findet Garth doch auch neues Material und kondensiert es zu spannenden Erkenntnissen.

Die Bebilderung ist äußerst gut gelungen.

Erkenntnisse der Vergangenheit lässt er allerdings nicht ungeschoren davonkommen: Garth bemängelt in seinem Vorwort, dass die Frage nach Inspirationen oft durch den Tourismus beantwortet wurde, um das Gefühl zu vermitteln, auf den Spuren Tolkiens wandern zu können. So schreibt er im Vorwort des Buches: „Touristenbüros und Unternehmer ignorieren oder verdrehen oft die biographischen Fakten, um ihren eigenen kommerziellen Interessen zu dienen. Diese Annahmen werden ungeprüft in Lokalzeitungen wiedergegeben oder auf Wikipedia wiederholt und erhalten so einen Anstrich von Richtigkeit.“

Im Gegensatz dazu, schreibt Garth, wären „manche Tolkien-Wissenschaftler besser darin, neue mögliche Einflüsse zu identifizieren, als die Plausibilität dieser Einflüsse zu prüfen.“ Dieses Durcheinander an losen Enden („a spaghetti of loose ends“) fasst er mit The Worlds of J.R.R. Tolkien zusammen, ordnet, berichtigt und ergänzt es an den richtigen Stellen um spannende neue Erkenntnisse.

Schreibstil und Struktur

Garths Schreibstil ist, obgleich es sich um ein wissenschaftliches Werk handelt, prägnant, pointiert und an den richtigen Stellen mitreißend. Keinesfalls hat man hier eine staubtrockene Abhandlung vorliegen. Vielmehr bereitet Garth seine Erkenntnisse in kleineren, leicht verständlichen Abschnitten auf und gibt Leserinnen und Lesern so die Zeit, selbst nachzudenken, ein wenig abzuschweifen und den kreativen Schaffensprozess von Tolkien mitzuerleben. Nichtsdestotrotz ist das Werk mit Sicherheit nicht einfach zu verstehen und stellt manchmal auch Personen mit soliden Englischkenntnissen vor Herausforderungen. Wer sich diesen nicht stellen möchte oder kann, muss sich leider bis zum nächsten Jahr gedulden, wenn das Buch auf dem deutschen Markt erscheint.

Unaufdringliche Infoboxen verraten mehr, ohne Seiten unübersichtlich wirken zu lassen.

In Summe gelingt es Garth aber ganz hervorragend, die Leserinnen und Leser zu den Orten zu begleiten, die Tolkien inspiriert haben. Die Struktur des Buches lässt Platz zum Atmen, zum Blättern, um einer der zahlreichen Fußnoten auf den Grund zu gehen, und zum Verweilen und Bewundern der zahlreichen Abbildungen.

Der Autor

John Garth, geboren 1966, ist ein britischer Autor, Journalist und weithin anerkannter Tolkien-Wissenschaftler. Sein bibliographisches Buch Tolkien and the Great War, welches die Zeit Tolkiens im Ersten Weltkrieg beleuchtet, gilt als Standardwerk. Er hat 2004 den Mythopoeic Award, einen seit 1971 für englischsprachige Phantastikwerke vergebenen Preis in der Kategore Inklings Studies, gewonnen, und gilt als Koryphäe in seinem Bereich.

Erscheinungsbild

Ein Motiv der deutschen Alpen ziert das Cover des neuesten Werks von John Garth.

Selten hat mich ein Buch, welches ich ausgepackt habe, so begeistert. Die Hardcover-Ausgabe ziert ein Titelbild von Flo Snook, es zeigt ein Motiv, welches unweigerlich an die Schweizer Alpen erinnert. Die einzelnen Seiten bestehen aus hochwertigem, festem Papier; es ist eine Freude, sich durch das großformatige Buch zu blättern. Der Platz wird klug genutzt: Text und Bilder sind unaufdringlich arrangiert, einzelne Infoboxen subtil, aber doch wahrnehmbar hervorgehoben. Keine Frage – innen und außen ein absolutes Schmankerl, das in jedes „Tolkien Shelf“ (Tolkien-Regal, von Fans angelegt, welches Werke von Tolkien und Sekundärliteratur enthält – und natürlich zum Angeben genutzt wird) gehört.

Die harten Fakten:

Den harten Fakten liegt die Hardcover-Ausgabe von The Worlds of J.R.R. Tolkien zugrunde, die in England erschienen ist.

  • Verlag: Frances Lincoln Ltd. (UK)
  • Autor: John Garth
  • Erscheinungsdatum: 09.06.2020
  • Sprache: Englisch (erscheint 2021 in Deutschland)
  • Format: Hardcover; 26,7 x 2,8 x 21,8 cm
  • Seitenanzahl: 208
  • ISBN: 978-0711241275
  • Preis: 21,99 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon, idealo

 

Fazit

Tolkiens Werke begeistern Jung und Alt, immer und immer wieder. Doch zu erfahren, was Tolkien selbst getan hat, wo er verweilt hat, gewandert ist, eben was ihn selbst inspiriert hat – das war in der Vergangenheit nur unter Schwierigkeiten möglich. John Garth ermöglicht diese Reise nun. Er räumt mit falschen Annahmen auf, indem er schlicht und einfach auf Basis seiner eigenen, fundierten und lang andauernden Recherchen zusammenfasst, einordnet und aufbereitet, welche Orte Mittelerde inspiriert haben.

Das Buch beschränkt sich jedoch nicht auf das Dasein als trockene Lektüre für die härtesten Fans, im Gegenteil: Die verschiedenen Karten, Illustrationen, zeitgenössischen Bilder unterschiedlichster Künstler, das hochwertige und subtil das Leseerlebnis bereichernde Layout und zu guter Letzt die unterhaltsamen Worte von John Garth sorgen für ein unterhaltsames und informatives Leseerlebnis. All diese Eigenschaften machen das Buch zu einem Werk, welches vermutlich nicht viel Zeit benötigen wird, um ebenso wie Tolkien and the Great War zu einem Standardwerk im Bereich der Tolkien-Studien zu werden. Nicht nur aufgrund des Inhalts, sondern auch aufgrund der Haptik und des wunderschönen Einbands gehört dieses Buch in jedes gut sortierte Tolkien Shelf – und kann sich dort absolut sehen lassen. Eine E-Book-Version oder ein Taschenbuch würden dem Werk nicht gerecht werden!

Zum Schluss noch ein Schmankerl, welches John Garth uns in den Danksagungen am Ende seines Buches verrät: „Ein Großteil des Materials dieses Buches kam zum Vorschein, während ich für ein anders – noch zu erscheinendes – Buch über Tolkien recherchierte.“ Wir bleiben gespannt, welchen Themen Garth sich in Zukunft widmen wird! 

 

Artikelbilder: © Frances Lincoln Ltd., Fotografien: Lukas Heinen, Layout und Satz: Melanie Maria Mazur, Lektorat: Jessica Albert

2 Kommentare

  1. „Titelbild von Flo Snook, es zeigt ein Motiv, welches unweigerlich an die Schweizer Alpen erinnert.“ … es handelt sich um das Lauterbrunnental, ein Tal im Berner Oberland. Also kein Wunder, dass es an die Schweizer Alpen erinnert ;-)

    • Hallo Cirdan!

      Völlig richtig – in den Untertitel hat diese Information auch Eingang gefunden. Im Fließtext wurde das leider nicht mehr korrigiert.

      Liebe Grüße,
      der Autor :).

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