Geschätzte Lesezeit: 11 Minuten

Gerade bei einer jüngeren Leserschaft erfreut sich Becky Chambers weltweit immer größerer Beliebtheit. Von „sowas wie Firefly“ zu anspruchsvollen Gesellschaftsentwürfen im Stil Ursula K. Le Guins hat die Kalifornierin eine erstaunliche Entwicklung an den Tag gelegt. Spätestens Unter uns die Nacht macht sie zu einer der wichtigsten Science-Fiction Autorinnen der Gegenwart.

Erst letztes Jahr verkündete der Spiegel reißerisch das Ende der Science-Fiction. Er berief sich dabei auf den chinesischen Autor Cixin Liu, dessen Trisolaris-Romane die USA und dann ab 2017 auch den deutschen Buchmarkt eroberten. Schuld daran sei, so der ehemalige Ingenieur, der rasante technische Fortschritt, der die Fiktion immer weiter überhole. Der Zeit erklärte er: „Wenn der Fortschritt keinen Zauber mehr versprüht, ist das der Tod des Science-Fiction Autors.“ Die Leserschaft nahm diesen Schwanengesang ausgesprochen gelassen hin.

Kaum jemand sieht das Lieblingsgenre tatsächlich bedroht. Das liegt vor allem daran, dass Liu hier offensichtlich von harter Science-Fiction spricht, die Naturwissenschaft und Technik in den Mittelpunkt ihrer Geschichten stellt. Die von ihm als „mittlere“, gängiger als weiche, Science-Fiction bezeichnete Variante, die philosophische oder gesellschaftliche Themen behandelt, bezieht er ohnehin nicht ein. Dabei erlebt gerade soziale Science-Fiction dieser Tage einen ungeahnten Aufschwung und gewinnt laufend neue Leser – und vor allem Leserinnen – weit über das alteingesessene Kernpublikum hinaus. Da ist es kein Wunder, dass diese neue Generation, mit der Liu offenbar wenig anfangen kann, dieses drohende Ende nur müde belächeln kann.

Sowohl Science-Fiction als auch andere Bereiche der Phantastik antworten aktuell auf zahlreiche Bedürfnisse, denen ihrerseits eine andere Fortschrittssehnsucht zu Grunde liegt: Marginalisierte Gruppen möchten ihre Lebensrealitäten endlich abgebildet sehen. Gleichzeitig werden Rufe nach alternativen Modellen zum neoliberalen Turbokapitalismus laut. Und über allem steht immer wieder die Frage, wie wir in einer globalisierten Welt der unterschiedlichen Kulturen miteinander leben wollen. Für eine neue Generation an Science-Fiction Leser*innen, die schmerzlich erlebt hat, wie der technische Fortschritt zwar kam, aber in vielerlei Hinsicht ungenutzt blieb, sind dies die harten Themen unserer Zeit. Ihnen widmen sich Cory Doctorow, Ada Palmer und N. K. Jemisin, aber auch Becky Chambers, deren intergalaktische Zukunftsvision sich so subtil als Feelgood-Lektüre tarnt, dass ihr eigentliches subversives Potential oft gar nicht gewürdigt wird.

Kommunikation statt Cowboys

Das Siedlerschiff Asteria gleitet durch die ewige Nacht des Alls, Seite an Seite mit ihren Schwesternschiffen der exodanischen Flotte. Im Wohnzimmer eines Familienquartiers schraubt eine Frau an einem Reinigungsbot. Ihre Tochter, gerade mal fünf Jahre alt, möchte die Sterne sehen. Doch die Mutter ist beschäftigt und so darf die kleine Aya nach ausführlichen Instruktionen zum ersten Mal alleine den Fahrstuhl nehmen, hinauf zur Kuppel, die einen freien Blick in den Weltraum erlaubt. Es ist ein kleiner Augenblick, erfüllt von dem zwiespältigen Gefühl zwischen elterlicher Sorge und elterlichem Stolz, wenn Kinder die ersten eigenen Schritte machen. Dann plötzlich bricht die Katastrophe los…

Die Autorin Becky Chambers
Die Autorin Becky Chambers

Es sind Bilder wie diese, welche im Gedächtnis bleiben, wenn alle Explosionen und Weltraumschlachten längst verblasst sind – eine Kunst, die Chambers in ihrem neuesten Roman auf die Spitze getrieben hat. Der Moment davor, der Umschlag vom Alltäglichen in die Ausnahmesituation, wird von Chambers so wirklichkeitsnah geschildert, dass der gesamte weitere Roman von dieser Ausgangssituation durchdrungen ist. Der Riss in der Hülle des Nachbarschiffs, tote Körper in Schwerelosigkeit, nichts davon brennt sich so sehr ein wie das schreiende Kind, das alles mit ansehen muss und von da an weiß, was es bedeutet, im Weltraum zu leben. Von diesem Gefühl ausgehend fügen sich universelle Themen wie Heimat, Tod und Verlust zu einer Hommage an die unaufhörliche Sinnsuche im Alltag zusammen,

Rückblickend zeichneten sich diese Schwerpunkte schon in Chambers‘ Vorgängerromanen ab. Bereits mit ihrem Erstling The Long Way to a Small, Angry Planet (Deutsch: Der lange Weg zu einem kleinen, zornigen Planeten) traf die Tochter einer Astrobiologin und eines Luft- und Raumfahrttechnikers einen Nerv. Sieben Jahre lang entwarf die heute Vierunddreißigjährige die Crew der Wayfarer nebenbei, im Job oder auf Busfahrten. Das Ergebnis war ein herzerwärmender Weltraumspaß, der auf Diversität und Charakterentwicklung setzt – und auf gewaltfreie Konfliktlösungen. Letzteres ist besonders bemerkenswert, da der eher episodische Roman ansonsten vor allem an Joss Whedons Kultserie Firefly erinnert, mit der er oft verglichen wird. Doch von kernigen Cowboyelementen ist bei Chambers keine Spur, dafür wird die galaktische Gemeinschaft von zahlreichen intelligenten Spezies gebildet, neben denen Menschen nur eine vernachlässigbar kleine Rolle spielen.

Die vielen Abenteuer, welche die Crew auf dem titelgebenden langen Weg erwarten und die wie in einer klassischen Serie meist auf eine einzelne Figur und ihre Charakterentwicklung hingeschrieben sind, werden mittels Kommunikation und Diplomatie überstanden. Wo Nathan Fillion als Captain Mal Reynolds einen aufmüpfigen Gefangenen noch cool ins nächste Triebwerk kickte, möchte Ashby Santoso, der Captain des Tunnelschiffs Wayfarer, keine Waffen an Bord haben. Neben dieser Absage an amerikanische Mythen über Gewaltprävention wird Protagonistin Rosemary von der Crew an alternative Familienmodelle und experimentelle Geschlechtskonzeptionen herangeführt. Die Leser und Leserinnen stört es nicht, im Gegenteil. Als Chambers kurz vor Vollendung des Buchs ihren Job verlor, erhielt sie bereits im Voraus begeisterte Unterstützung via Kickstarter. 2015 wurde er von Hodder&Stoughton ins Programm genommen und gewann schnell viele Fans.

Zwischen zwei Büchern

© Fischer Tor
© Harper Voyager

Den Zuspruch sowie die Sicherheit eines größeren Verlages im Rücken merkt man Chambers im Folgeroman A Closed and Common Orbit (Deutsch: Zwischen zwei Sternen, ausführlicher besprochen anlässlich der Hugo Awards 2017) durchaus an. Hervorragend erzählt, unendlich viel souveräner als beim ersten Mal, verflicht die Geschichte zwei sehr unterschiedliche Lebenswege: Die Technikerin Pepper floh vor vielen Jahren in einer halsbrecherischen Aktion von einem Planeten, auf dem sie mit vielen anderen Klonen als billige Arbeitskraft eingesetzt wurde. Die künstliche Intelligenz Sidra ist in einem Körper gestrandet, den sie eigentlich nie wollte, und muss die damit verbundenen existentiellen Krisen überstehen. Exakt durchkomponiert und extrem spannend, voller kleiner Weisheiten über Körperlichkeit, Familie und Vergangenheit, übertrifft Orbit seinen Vorgänger spielend.

Hauptschauplatz ist Port Coriol, ein belebter Mond und Schmelztiegel der verschiedensten Spezies und Kulturen. Hier finden große Teile der Handlung statt, die im Vergleich zu The Long Way deutlich stringenter ist. Überlebenskämpfe und Verfolgungsjagden kommen nur in Rückblenden vor und noch immer stellt Gewalt nicht das Mittel der Wahl dar, wenn es um Problemlösungen geht. Dabei wirkt das Buch wie ein Schritt in Richtung herkömmliche Erzählmuster, unterstützt von phantasievollem World-Building und einem Gespür für kulturelle Details. Ungewöhnlich ist höchstens der Umstand, dass mehr noch als im ersten Band alle Figuren grundanständig sind und rücksichtsvolles Miteinander immer an erster Stelle kommt. Ein direktes Sequel ist der Roman übrigens nicht. Pepper und Sidra waren Nebenfiguren in The Long Way…, die nun ihre eigene Geschichte bekommen. Dafür ist die Handlung fokussierter, und in mancherlei Hinsicht auch herkömmlicher. Allerdings liegen Überlebenskämpfe und Verfolgungsjagden in ferner Vergangenheit.

Chronik der Weltraumgeborenen

Ähnlich verhält es sich auch im neuen Buch, das etwa Ashbys Schwester Tessa durch ihren Alltag begleitet. Dennoch ist Record of a Spaceborn Few, das heute als Unter uns die Nacht bei Fischer TOR erscheint, noch einmal völlig anders als alles, was Chambers zuvor geschrieben hat. Auf eine typische Handlung, wie man es von Science-Fiction Romanen beinahe schon erwartet, verzichtet sie nun endgültig. Stattdessen verfolgt sie sechs Figuren, die auf ihre Weise alle um Selbstentfaltung ringen, und zeigt durch deren Augen, wie die auf Abschottung und Bewahrung bedachte Kultur der Flotte mit ihren eigenen Traditionen ringt.

Die ungewisse Reise der Asteria und ihrer Schwesternschiffe ist seit Generationen beendet, ihr ursprünglicher Zweck, die Menschheit vor dem Untergang zu bewahren, hat sich erfüllt. Doch eine einmal angenommene Lebensweise ist schwer abzulegen und noch immer ist die leerläufig um einen Stern kreisende Flotte von Spacern bewohnt, die sich auf keinem Planeten niederlassen wollen – selbst nachdem der katastrophale Hüllenriss ein ganzes Schiff auslöscht.

© Harper Voyager
© Harper Voyager

Zu den Figuren, die wir begleiten, gehört Kip, der von der Universität träumt und seinem Teenageralltag auf dem beengten Schiff um jeden Preis entfliehen will, aber Schwierigkeiten hat, die Disziplin für seine langfristigen Ziele aufzubringen. Dass es immer mehr junge Leute in die weiten Welten der Galaktischen Union zieht, kündigt einen drohenden demographischen Wandel an. Chefarchivarin Isabel und Hüterin Eyas hingegen bekleiden wichtige Ämter und bringen dem Leser jene Traditionen näher, die Kip so regressiv vorkommen.

Wir begleiten Isabel dabei, wie sie die tentakelige Alienwissenschaftlerin Ghuh’loloan, ihre langjährige Korrespondentin, durch die Flotte führt und mit ihr über Gesellschaftsformen, Bräuche und die allgemeine conditio humana fachsimpelt, stets im Kontrast zu anderen intelligenten Spezies. Andererseits lernen wir mit Eyas die Bestattungsrituale der Spacer kennen, die ihre Toten rituell kompostieren, um sie zu ehren – ein Überbleibsel aus der Zeit, als noch unklar war, ob die Flotte je einen bewohnbaren Planeten finden würde. Viele Traditionen, die früher überlebenswichtig waren, wirken gerade zu Beginn des Romans arbiträr und überkommen.

Nach und nach lernt man jedoch, die zu Brauchtum geronnenen Strategien von früher als Teil der exodanischen Kultur zu verstehen. Chambers World-Building erreicht hier seinen Höhepunkt und gehört zu den durchdachtesten und detailreichsten der letzten Jahre. Das Finanzsystem für den Außenhandel sowie den Binnenmarkt, Sozialleistungen und Gesundheitsvorsorge, ja sogar Prostitution, alles wird im Laufe des Romans thematisiert und so natürlich in die Handlung eingewoben, dass man mit dem Leben auf der Asteria immer vertrauter wird, ohne es überhaupt zu merken. Chambers erlaubt einen Blick auf die Menschen, der differenziert, aber uneingeschränkt hoffnungsvoll ist. Wenn wir uns zusammenreißen und zielorientiert handeln müssten, scheint ihre Ausgangsfrage zu sein, wie würden wir dann eine Gesellschaft organisieren, die tatsächlich funktioniert?

Das bedeutet keinesfalls, dass in der Flotte utopische Zustände herrschen. Die exodanische Gesellschaft ist so sehr darauf bedacht, ihre zerfallende Kultur zusammenzuhalten, dass niemand vorbereitet ist, als Sawyer, ein junger Mann ohne familiäre Verbindungen zur Exodusflotte, sich auf der Asteria niederlassen will. Er wird zu einem Gegenmodell zum sternenwärtsgewandten Kip, sehnt sich nach zwischenmenschlicher Verbundenheit und Zugehörigkeitsgefühl. Das gesellschaftliche Versagen ihm gegenüber wird zum roten Faden der Handlung, falls es überhaupt einen gibt.

Unterwegs zu den Sternen

Es scheint nämlich, als habe sich Becky Chambers mit Spaceborn Few endgültig von jedem typischen Handlungsmodell, das man von Science-Fiction Romanen erwartet, verabschiedet. Die Figuren begegnen einander, suchen nach Sinn und ihrem Platz in der Welt, erleben glückliche Momente im Familien- und Freundeskreis, denken nach über ihre Kultur und deren Traditionen, lehnen sie ab oder versuchen sie zu erklären. Abgesehen von ihrer gemeinsamen Heimat haben sie teilweise ebenso lose Verbindungen zueinander, wie sie zwischen den Figuren verschiedener Romane bestehen. Als Vorbild für diese Erzählweise diente ihr vor allem Ursula K. Le Guins Kurzgeschichtensammlung Changing Planes, wie Chambers dem Locus Magazine verriet. Das Ergebnis sind tiefe Einblicke darin, wie eine der zahlreichen Kulturen des Wayfarer-Universums funktioniert, wobei sie letztlich in verschiedene nicht auf einander reduzierbare Perspektiven zersplittert.

Wer sich also ursprünglich von einer vermeintlichen Firefly-Hommage hat anlocken lassen, findet sich spätestens jetzt in einer völlig anderen Erzählwelt wieder. Becky Chambers Romane haben keine Moral im eigentlichen Sinne. Sie nehmen einen lediglich mit und zeigen einen möglichen Verlauf der Dinge, wenn alle Beteiligten sich nach bestem Wissen und Gewissen um rücksichtsvolles Handeln bemühen. Daraus ergibt sich jedoch kein überzuckertes Weltraumwunderland, sondern ein lebensnaher Realismus, von dem viele Science-Fiction Autoren nur träumen können: Soziale Probleme lassen sich eben nicht in die Luft jagen wie der nächstbeste Todesstern. Das Leben ist antiklimaktisch, wie übrigens die meisten guten Handlungen auch. Ebenso können weder globale Erwärmung noch ein politischer Rechtsruck in einer Klimax aufgelöst werden, schlimmer noch: Gewaltfreiheit hinterlässt oft den schalen Geschmack von Untätigkeit. Wir alle müssen lernen, viel antiklimaktischer zu denken und die Sinnfreiheit schlimmer und schmerzlicher Ereignisse zu ertragen.

Dennoch ist der Grundton von Record of a Spaceborn Few ein versöhnlicher. Es gibt kein klares richtig oder falsch und letztlich auch keine befriedigende Auflösung der Handlung – außer im Kleinen. Das große Ganze bleibt kompliziert und widersprüchlich, doch deswegen sind die Bemühungen um Sinnstiftung, ob sie in einer Kultur angelegt sind oder erst noch entwickelt werden müssen, niemals vergebens. Und so ist es am Ende eben nicht der spektakuläre Weltraumunfall, der in Erinnerung bleibt, sondern das spielende Kind, zum ersten Mal alleine unterwegs zu den Sternen.

Über den Roman

  • Verlag: Fischer Tor
  • Autorin: Becky Chambers
  • Erscheinungsdatum: 27. März 2019
  • Sprache: Deutsch (Aus dem Amerikanischen übersetzt von Karin Will)
  • Format: Taschenbuch
  • Seitenanzahl: 464
  • ISBN: 978-3-5967-0262-6
  • Preis: 9,99 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon (auch in Originalsprache)

Artikelbild: Fischer Tor, Bearbeitet von Verena Bach
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

1 Kommentar

  1. Ich lese kaum „harte“ Science-Fiction. Sie liest sich für mich meist wie Ingenieurs-Fantasien – vielleicht korrekt, aber völlig uncharmant. Dann lieber poetische, philosophische Weltenentwürfe mit Fokus auf Dialog und soziale Situationen.

    Insofern müsste Chambers was für mich sein, dachte ich damals, als der „kleine, zornige Planet“ erschien. Jedoch war ich von der Lektüre maßlos enttäuscht. Das Buch war (für mich!) wie „Gilmore Girls im Weltraum“. Überdreht, oberflächlich, angestrengte Suche nach Pointen. Mein Fazit: Nie wieder. (Wobei ich nun durch diese Besprechung hier Gefahr laufe, der Autorin doch noch eine Chance zu geben.)

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein