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Ein Artikel von Marie Mönkemeyer und Heike Lindholdt

Am 22.01.2018 verstarb mit Ursula K. Le Guin die Grande Dame der englischsprachigen Science-Fiction, eine Autorin, deren Werke großen Einfluss auf viele Kreativschaffende verschiedenster Art hatten und haben. Zeit, einen Blick zurück auf eine Frau zu werfen, die hierzulande viel zu unbekannt ist.

Ursula K. Le Guin begegnete mir zu einem Zeitpunkt, als ich an Science-Fiction nur Raumschiffe, Aliens in allen Farben des Regenbogens, markige Sprüche und dicke Feuerwaffen kannte. Sie zeigte mir, dass Science-Fiction so unendlich viel mehr sein kann und weckte in mir meine bis heute andauernde Begeisterung für dieses Genre. Im Laufe der Zeit und mit weiterer Lektüre lernte ich, in welcher Tiefe sie die Fantasy und Science-Fiction der letzten 50 Jahre geprägt hat und wie wichtig ihre Texte auch heute noch sind.

Als Frau in der Phantastik

Ursula K. Le Guin wurde als Ursula Kroeber in Berkeley geboren und hatte als Kind zweier Anthropologen schon früh Bezug zu Texten und fremden Welten: Im Hause der Eltern verkehrten zahlreiche Wissenschaftler, die Mutter war außerdem Schriftstellerin und verfasste einen Bestseller über Ishi, den letzten Überlebenden der Yahi-Indianer. Ihre Tochter studierte Literatur und lernte auf einer Studienreise nach Paris ihren späteren Ehemann kennen, der ihr einen Nachnamen einbrachte, über dessen richtige Aussprache nicht nur ich lange gerätselt habe (kleiner Hinweis: für die Autorin waren verschiedene Möglichkeiten in Ordnung). Die Prägung des Elternhauses wird oft als Grund dafür angeführt, dass etliche ihrer Protagonisten Ethnologen oder andere Wissenschaftler sind.

Was jedoch macht ihr Werk, bestehend aus Romanen, Kurzgeschichten, Gedichten, Übersetzungen, wissenschaftlichen Essays, Kinderbüchern und vielen weiteren Werken so wichtig? Wissenschaftler als Hauptfiguren phantastischer Romane sind und waren nichts Neues, auch nicht in den Sechzigern, als Le Guin zu schreiben begann. Viele ihrer Bücher sind im deutschsprachigen Raum zudem oft nur Kennern bekannt, was in aktueller Zeit sicher mit dem Mangel an Verfilmungen erklärbar ist (alle Verfilmungen bisher sind grauenvoll), aber durchaus auch etwas mit den eher mittelmäßigen Übersetzungen aus den Siebzigern zu tun haben könnte. Doch obwohl ein Teil ihrer Bücher es nicht ins Deutsche geschafft hat, kommt man auch hier weder an ihr noch an ihren Büchern vorbei. Viele ihrer Ideen waren neu, anders und bis zum Ende konsequent durchgezogen, dazu in der starken, gezielt eingesetzten Sprache eines Menschen, der von der Kraft der Worte überzeugt ist. Seit 1966 mit Rocannon‘s World (Rocannons Welt) ihr erster Roman erschien, gewann sie zahlreiche Preise, unter anderem mehrfach den Hugo-, den Nebula- und den Locus-Award und fand als eine der ersten Frauen im phantastischen Literaturbetrieb seit den 1960er Jahren Anerkennung.

Genreprägung

Le Guin prägte durch ihre ganz eigene Erzählweise besonders die Genres Fantasy und Science-Fiction tiefer, als es uns heute bewusst ist. Ein besonders markantes Beispiel ist der Erdsee-Zyklus, dessen erstes Buch, The Wizard of Earthsea (Der Magier der Erdsee) 1968 erschien. Ich persönlich bin bis heute der Meinung, dass das Volk der Tocamuyac im Rollenspiel Das Schwarze Auge vom Floßvolk der Erdsee inspiriert sind, deutlich prägender dürfte jedoch die Art der Magie sein. In der Welt von Erdsee ist Magie sprachbasiert. Dabei müssen die Magier keine großen Sprüche aufsagen, sie benötigen den Namen dessen, was sie verzaubern wollen. Alles, jeder Mensch, jedes Tier, hat zwei Namen, einen öffentlichen und einen wahren Namen. Um etwas oder jemanden zu verzaubern, benötigt der Magiewirker den wahren Namen des Gegenstands seines Zaubers. Vieles, was einem an zeitgenössischerer Fantasy begegnet, beispielsweise die wahren Namen in den Eragon-Büchern, hat seine Inspiration über die Macht der Namen oft von den Inseln der Erdsee. Nicht unbedingt direkt, mitunter mag die Inspiration über die Werke mehrere Autoren gegangen sein, aber letztlich geht es doch immer wieder auf die Erdsee zurück.

Dazu zeichnet sich die Welt der Magier der Erdsee durch einen vollkommen nebenbei stattfindenden Bruch mit der Norm weißer Hauptfiguren aus. Denn mit absoluter Selbstverständlichkeit sind die meisten Menschen, die die Inselgruppen der Erdsee bewohnen, people of colour. Es sind nur Nebensätze, die die Leserschaft darüber informieren, dass die Haut der meisten Figuren braun ist, ein ziemliches Novum in der Erscheinungszeit des ersten Buches.

Le Guin dachte Gesellschaften auch auf verschiedenen anderen Ebenen absolut konsequent durch, nicht nur im magischen Bereich und bei der Hautfarbe der Protagonisten, sondern zum Beispiel auch bei politischen Gesellschaften oder fremdartigen Spezies. Dafür besonders berühmt ist ihr preisgekröntes Werk The Left Hand of Darkness (Die linke Hand der Dunkelheit, auch Der Winterplanet), in welchem sie eine Welt schildert, deren menschliche Bewohner ihr Geschlecht wandeln können. Die Bewohner des Planeten sind außerhalb ihrer individuellen fruchtbaren Phase androgyn und haben keinerlei Einfluss darauf, welches biologische Geschlecht sie annehmen. Dieses Konzept stellt den von der Erde stammenden Protagonisten vor große Verständigungsprobleme, denn obwohl er die Sprache beherrscht und aus einer raumfahrenden Kultur stammt, fällt es ihm schwer, einen Zugang zur Kultur der Einheimischen zu finden. Umgekehrt gilt er auf dem Planeten als Perverser, der permanent paarungsbereit ist und eigentlich in der Natur nicht vorkommen sollte.

Bis heute ist dieses von 1969 stammende Buch im englischsprachigen Raum ein absolut prägendes Werk für die Definitionen von sozialem und biologischem Geschlecht, und das nicht nur in der Science-Fiction.

Ähnlich konsequent und berühmt ist The Dispossessed (Freie Geister, auch Planet der Habenichtse und Die Enteigneten). Darin geht die Autorin der Frage nach, wie eine anarchistische Gesellschaft aussehen und funktionieren könnte, aber auch, welche Gefahren sie bergen kann. Wie so oft bezieht sie auch in diesem Buch eine klare kapitalismuskritische Stellung, ohne diese den Lesern jedoch aufzudrängen. Sie zeigt einfach nur, was möglich ist.

Dies gilt auch für ihren Umgang mit Gewalt in den Geschichten, die sie erzählt. Wie oft endet ein Buch oder Film damit, dass Schurken am Ende sterben müssen, dass Gewalt das einzige Mittel des Helden ist, ein Problem letztlich zu lösen? Le Guin zeigt, dass es auch anders möglich ist, dass andere Enden möglich sind. In vielen ihrer Bücher ringen die Protagonisten darum, eine andere, weniger gewaltsame Lösung zu finden. So weigert sich Orrec, die Hauptfigur in Gifts (Die wilde Gabe), erst einmal ganz klassisch, das sein zu wollen, was seine Umwelt von ihm erwartet: letztlich entscheidet er sich eben nicht dafür, ein Mann zu sein, der seine Möglichkeit zur Zerstörung ausnutzt, sondern wählt einen anderen Weg.

Deutlich extremer sind die Bewohner des Planten Athshe in The Word for World is Forest (Das Wort für Welt ist Wald). Sie wenden gar keine körperliche Gewalt an, sie brauchen erst Terraner, also Menschen, um genau das zu erlernen. Eigentlich leben sie im Einklang mit dem Wald, der die Welt ist, bis die Terraner in bester Imperialistenmanier mit Flammenwerfern kommen. Wer hier an Camerons Avatar denkt, bekommt vielleicht eine Ahnung davon, wie prägend Le Guins Bücher sind. Allerdings geht es hier nicht um ein seltenes Metall, sondern um das auf der Erde knapp gewordene Holz, was heute fast wie eine grausige Warnung aus den siebziger Jahren vor dem Klimawandel wirkt und der Autorin einen Hugo-Award und den Ruf einbrachte, sich auch ökologisch und antimilitaristisch stark zu machen. Zwar kommt es in The Word for World is Forest letztlich zu Gewalt seitens der Athshe, doch auch hier wird von dem Erwarteten abgewichen, denn eine Lösung für die Probleme ist die Gewalt nicht.

Ein Bild der Zukunft

Obwohl Le Guins zahlreiche Essays, Buchbesprechungen und Sachtexte allgemein weniger Beachtung finden als ihre Fiktion, soll die vielseitige Tätigkeit dieser klarsichtigen Literatin nicht in Vergessenheit geraten. Noch letztes Jahr wurde ihre Textsammlung Words Are My Matter: Writing About Life and Books, 2000-2016 mit dem Hugo-Award ausgezeichnet. Sie war keine Phantastin im stillen Kämmerlein und auch keine abgehobene Bewohnerin des Elfenbeinturms. Neben Rezensionen verfasste sie Texte über das politische Zeitgeschehen, insbesondere über feministische Themen und das Übernehmen von gesellschaftlicher Verantwortung. Doch am häufigsten schrieb sie über das Schreiben selbst. So dachte sie bereits 1986 im Aufsatz The Carrier Bag Theory of Fiction Romane nicht als Podeste, auf denen Heldendenkmäler aufgestellt werden, sondern als eine Art Tragetasche, in der Autorinnen und Autoren tagtäglich Welten sammeln. Eine solche Tasche, versicherte sie, habe zwar Platz für die althergebrachte Geschichte von kurzen, heroischen Konflikten, sei damit aber noch lange nicht ausgefüllt. Statt Helden interessierten sie Menschen, statt gewaltsamen Konflikten das gesamte Spektrum des Lebens. Nur in dieser Form, so appellierte sie an ihre Leser, werde die Science-Fiction vom mythologischen zum realistischen Genre.

Le Guin glaubte an die Kraft der Phantasie und der Worte. Sprache war stark für die 88-jährige Taoistin, eine Quelle des Konfliktes wie auch der Lösungen, der Erweiterung des eigenen Horizonts und vor allem Nährboden für die Zukunft. Sie war sich dessen bewusst, dass Autoren aller phantastischen Genres immer auch die Zukunft mitdenken, dass Fantasy und Science-Fiction eine Vorbildfunktion haben. In ihren fiktionalen Texten suchte sie nach anderen Erzählweisen, nach gewaltfreien Lösungen für kulturelle Konflikte und dieselben Themen, die sie in ihren nicht-fiktionalen Texten wie ihren Reden thematisierte. Sie wusste, welche Bedeutung Worte haben. Als ihr 2014 die Medal for Distinguished Contribution to American Letters für ihr Lebenswerk verliehen wurde, appellierte sie an die Aufgabe der Autoren für unser Bild der Zukunft. Wenn wir Science-Fiction schreiben oder lesen, malen wir uns aus, wie die Zukunft aussehen könnte und vielleicht auch sollte. Wir lernen, was möglich ist, wie wir uns verhalten könnten, was wir tun könnten, wie unser Leben aussehen könnte. Dafür brauchen wir Phantasie und phantastische Literatur – und das hat mir Ursula K. Le Guin gezeigt wie keine andere Frau.

In diesem Sinne möchte ich mit einem Zitat aus City of Illusions (Stadt der Illusionen) schließen: Der Weg, den man geht, ist nicht der einzige Weg.

Artikelbild: © by Marian Wood Kolisch

 

1 Kommentar

  1. Ist ja nun schon eine Weile her. Sehr schöner Nachruf! Habe als Teenager „Earthsea“ verschlungen und vor etwa zwei Jahren über „Freie Geister“ und „die Geißel des Himmels“ zurück zur Autorin gefunden. Ich denke, dass ihre Beiträge was Phantastik betrifft mit die relevantesten sind. Zumindest aus gesellschaftlicher Perspektive.

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