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In einem arabischen Emirat legt sich ein muslimischer Hacker mit der Regierung an und muss in die Geisterwelt fliehen. Die Prämisse von G. Willow Wilsons erstem Roman verspricht urbane Phantastik der besonderen Art, irgendwo zwischen Thriller, Märchen und islamischer Mythologie. Bildet das nicht einen immensen Gegensatz?

Für Freunde unkonventioneller Phantastik und Liebhaber von Genregrenzgängen gibt es in diesem Monat eine ganz besondere Neuerscheinung: Angepriesen als mit Fantasyelementen durchsetzter, dystopischer Techno-Thriller, der gleichzeitig von islamischer Mythologie und vom Arabischen Frühling inspiriert ist, war Alif der Unsichtbare letztes Jahr eines unserer meisterwarteten Winterbücher. G. Willow Wilson, ihres Zeichens Autorin der Marvel-Comics, geht mit ihrem ersten Roman aufs Ganze und kombiniert eine Reihe von Themen, die schon jeweils für sich genommen Regalbretter füllen könnten. In den USA, wo das Buch bereits 2012 veröffentlicht wurde, fand es großen Anklang und wurde mit dem World Fantasy Award ausgezeichnet. Nun erscheint es endlich in deutscher Übersetzung. Da ist die Spannung natürlich groß – kann ein so gewagter Genre-Mix wirklich gelingen?

Story

Eigentlich sieht Alifs Leben gar nicht so schlecht aus. Der junge Hacker lebt in einem arabischen Emirat und verdient sein Geld, indem er Onlineschutz vor staatlicher Überwachung und Zensur anbietet. Zu seinen Kunden gehören von Sozialisten bis hin zu Islamisten alle, die sich seine Dienste leisten können. In der Anonymität des Netzes kritisiert er die Regierung, im echten Leben liest er Fantasyromane und trifft heimlich die schöne Intisar, eine Tochter aus gutem Hause. Doch mit einem Mal wird alles anders. Seine Freundin Intisar verlässt ihn für eine arrangierte Ehe und plötzlich sind ominöse Überwachungsorgane des Staats hinter ihm her. Liegt es an dem Programm, das er nach der Trennung geschrieben hat, um Intisar für immer aus seinem Leben zu verbannen? Oder liegt es an dem alten Buch, das ihm gerade zugespielt wurde, einer Geschichtensammlung namens „Tausendundein Tag“? Die Suche nach der Wahrheit führt Alif und seine Kindheitsfreundin Dina über die Grenzen der sichtbaren Welt hinaus und geradewegs in die Heimat der Dschinn und Dämonen …

Auf den ersten Blick ist der Aufbau des Romans relativ einfach. Als spannender Fantasythriller legt er ein ordentliches Tempo vor und verzichtet auf längere Atempausen sowie seitenlange Welterklärungen. Wendungsreich, aber nie kompliziert, führt er seinen Protagonisten immer näher an die Wahrheit heran und darüber hinaus. Gejagt von dem unheimlichen Großzensor, den alle nur „die Hand“ nennen und der offenbar über magische Verbündete verfügt, ziehen Alif und Dina auf ihrer verzweifelten Suche nach einem Ausweg immer mehr Figuren mit hinein. Selbst für den uralten Dschinn Vikram und die amerikanische Konvertitin, die beim Entschlüsseln des Texts helfen soll, erweist sich das Treffen mit den beiden Verfolgten als Schicksalsbegegnung. Allen, die ihnen einmal Unterstützung angeboten haben, scheint der Rückweg in ihr normales Leben auf immer versagt. Eine schwere Bürde für Alif, der sich dieser Verantwortung nur allzu bewusst ist. Die Spannung entlädt sich in einem Finale, in dem plötzlich noch ganz andere Dinge auf dem Spiel stehen und das Schicksal eines ganzen Landes entschieden wird.

Beim genaueren Hinsehen merkt man allerdings, dass hier bei aller Einfachheit des Aufbaus verschiedene Geschichten harmonisch übereinandergelegt wurden: Alif der Unsichtbare ist ein Thriller über einen aufgeflogenen Hacker auf der Flucht. Es ist zugleich ein Urban Fantasy-Roman, dessen zentrales Thema das Vereinbaren der Gegensätze zwischen Realität und magischer Welt ist. Dabei werden auf einer anderen Ebene die Widersprüche zwischen religiöser Tradition und Moderne verhandelt. Schließlich ist es aber auch eine Coming-of-Age-Geschichte, deren Held so unreif mit einer Trennung umgeht, dass er sich und alle, die ihm nah stehen, in Gefahr bringt, und nun lernen muss, an andere zu denken und Verantwortung zu übernehmen. Das Besondere ist, dass diese Ebenen nie nebeneinander her existieren. Jede Szene des Romans hat Bezüge zu all seinen Bedeutungsebenen, so dass die Einfachheit und Leserfreundlichkeit der Handlung bei aller Komplexität immer gewahrt bleibt. Dieser Kunstgriff würde vielleicht nicht einmal auffallen, würde nicht die Handlung selbst das gleichwertige Überlagern verschiedener Bedeutungsebenen wiederholt zum Thema machen. Literaturwissenschaftlern dürften derartige von den Figuren angestellte Überlegungen bereits bekannt sein, dennoch sind sie alles andere als banal. Was zunächst wie ein Einblick in den Islam aussah, wird gleichzeitig zu einem Crashkurs im postmodernen Denken.

Tiefgründig wird das Buch immer dort, wo es Fragen nach der Realität stellt. Dem klassischen Urban Fantasy-Gegensatz von Realität und Magie oder Realität und Fiktion im Allgemeinen stellt es virtuelle Realität und religiöse Wahrheiten als zusätzliche Faktoren zur Seite. Welcher dieser Ebenen kommt welcher Wirklichkeitsgrad zu? Wie verhalten sie sich untereinander? Welche sehr realen Zwiespälte können für das Individuum daraus resultieren, dass es sich zwischen diesen Ebenen hin und her bewegt? Und welchen Preis muss man bezahlen, will man eine dieser Wirklichkeiten ändern? In einfachster Form begegnet Alif diese Frage, als er sich vor seinen Verfolgern in einer Moschee versteckt. Der heilige Mann, der ihm Unterschlupf gewährt, erzählt von einem kleinen Jungen, der von ihm wissen wollte, ob sein Charakter in einem MMORPG virtuelles Schweinefleisch essen dürfe, oder ob auch das eine Sünde sei. Alif tut das Problem ab, aber den Lesern wird hier einer der Knotenpunkte verschiedener Realitäten gezeigt: Eine virtuelle Glaubenswelt, die für den Jungen sehr real ist, stößt auf eine virtuelle Spielwelt, die der Junge ebenfalls als real verstehen möchte. Der Roman gibt zahlreiche ähnliche Denkanstöße, denen man nachgehen kann. Dabei bleiben sie stets unaufdringlich und überlassen es den Lesern, sie anzunehmen oder zu ignorieren.

Wenn man also ein einziges Leitmotiv nennen wollte, welches in Alif der Unsichtbare zu finden ist, so wäre dies das Versöhnen von scheinbar Gegensätzlichem. In dieser Hinsicht geht der Anspruch des Romans über das phantastische Setting hinaus und versucht, einen Einblick in die tatsächliche Lebenswirklichkeit junger Menschen zu geben, die in sich einen Konflikt zwischen traditionellem Denken und moderner Lebensweise austragen. Den beinahe schon schizophrenen Missklang, zu dem das führen kann, führen einem schon früh Alif und Intisar vor Augen, die vor ihrem heimlichen Beisammensein schnell einen notdürftigen Ehevertrag ausdrucken, um ihrem Sittenverstoß einen Anschein von Legitimität zu verleihen. Die Antithese dazu bildet Alifs Kindheitsfreundin Dina, die eine der wenigen vollverschleierten Heldinnen der phantastischen Literatur überhaupt darstellen dürfte. Ihr Glaube ist kein aufgezwungenes Erbe vergangener Generationen, sondern selbstgewählt, und unterliegt als solcher auch ganz ihrer Kontrolle. Was Alif zu Beginn der Geschichte als blinde Orthodoxie erscheint, erweist sich im weiteren Verlauf als eine Charakterstärke. Wo Intisar davon träumt, ihren Schleier ablegen zu dürfen, möchte Dina den ihren behalten. Hinter dieser Konstellation steht gerade keine Behauptung einer einheitlichen Lösung, sondern ein Appell für Toleranz und Selbstbestimmtheit.

Schreibstil

Wer viel auf Englisch liest und bei deutschen Übersetzungen gerne mal über holprige Passagen stolpert, die quasi nach einer Rückübersetzung schreien, darf aufatmen: Alif der Unsichtbare ist nicht nur gut geschrieben, sondern auch hervorragend übersetzt. Stilsicher garantiert die klare Sprache ein angenehmes Leseerlebnis und vermittelt problemlos zwischen dem saloppen alltäglichen Sprachgebrauch der Protagonisten und der geschliffenen Erzählsprache, sodass kein unangemessener Kontrast entsteht. Komplexe Sachverhalte werden einfach und ohne übertriebene Abschweifungen dargestellt, etwa wenn die Figuren über die Unterschiede zwischen westlicher und östlicher Literatur sprechen, ohne dabei mehr Beispiele zu nennen, als unbedingt nötig wäre. Ähnliches gilt für die Passagen, in denen es um Alifs Tätigkeit als Hacker geht. Die metaphorischen Beschreibungen von Säulen aus Code und Lücken in der theoretischen DNA eines Programms sind vage genug, dass man beliebige Vorstellungen hineinlesen kann. Das mag wie eine Ausflucht wirken, garantiert aber, dass Fachleute die von den Metaphern gelassenen Lücken selbst füllen können, statt den Text immer wieder gedanklich korrigieren zu müssen. Alle anderen können einfach den Plot weiterverfolgen, ohne sich in komplizierten technischen Details zu verlieren. Dies ist kein Hard Science-Fiction-Roman und versucht es auch gar nicht zu sein.

Je nach ihrer Herkunft entschlüpfen vielen Figuren gelegentlich einige Wörter auf Arabisch, Urdu oder Bengalisch, welche überwiegend im Glossar des Buchs nachgeschlagen werden können. Die Beschreibung des fiktiven arabischen Emirats und der magischen Welt, die nach und nach aufgedeckt wird, vermischt Profanes und Phantastisches auf ungewohnte Weise. Die von Wüstenlandschaften umgebene Stadt am Persischen Golf muss zumindest einer westlichen Leserschaft bereits fremd und mystisch erscheinen, noch bevor man überhaupt erfährt, dass hier im Verborgenen Geister hausen. Spätestens nach dem ersten Sandsturm sieht man keinen Widerspruch mehr zwischen heruntergekommenen Computershops und gestaltwandlerischen Dschinn und die Erzählebene bemüht sich nicht, diesen Widerspruch künstlich zu erzeugen.

Die Autorin

Willow Wilson wurde 1982 in New Jersey geboren und entdeckte bereits früh ihre Leidenschaft für Comics und insbesondere für die X-Men. Als sie während ihres Studiums erkrankte, begann die Atheistin, sich intensiv in verschiedene Religionen einzulesen und entwickelte eine starke Faszination für den Islam. Motiviert durch die Ereignisse vom 11. September 2001 setzte sie sich außerdem mit Islamkritik auseinander und versuchte, sich selbst von einem säkularen Lebensstil zu überzeugen. Diese Berührungsängste gab sie zwei Jahre später auf, als sie nach Kairo zog, um dort Englisch zu unterrichten. In Ägypten angekommen, konvertierte sie. Diese Entwicklung sowie ihre Erinnerungen an Ägypten hielt sie in ihrer Autobiographie The Butterfly Mosque (dt. Kairo Sunset: Meine Suche nach Liebe, Gott und der Wahrheit) fest.

2007 veröffentlichte Wilson, die vorher bereits journalistisch tätig war, mit Cairo ihre erste Graphic Novel. Es folgten zahlreiche Veröffentlichungen bei DC und Marvel, unter anderem die Reihe Air und Vixen: Return of the Lion. 2012 erschien mit Alif the Unseen ihr erster Roman. Seit 2014 kennt man die preisgekrönte Autorin aber vor allem als Schöpferin von Kamala Khan, der neuen Ms. Marvel (hier geht es zur TZH-Rezension von Band 5).

Erscheinungsbild

Beim Buch handelt es sich um ein praktisches und robustes Taschenbuch, wie man es vom Verlag gewohnt ist. Auf dem Cover prangt vor rotem Hintergrund ein USB-Stick, aus dem weißer Rauch aufsteigt. Ob die arabischen Schriftzeichen dahinter eine tatsächliche Bedeutung haben oder reine Kosmetik sind, bleibt unklar. Der Schriftzug jedenfalls, der über jedem Kapitel steht und auch die einzelnen Absätze im Buch trennt, scheint nur zur Verzierung zu dienen und ist nach meinem bisherigen Wissensstand unleserlich. Schade.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Fischer TOR
  • Autorin: G. Willow Wilson
  • Erscheinungsjahr: 2018
  • Sprache: Deutsch (aus dem Amerikanischen übersetzt von Julia Schmeink)
  • Format: Taschenbuch
  • Seitenanzahl: 528
  • ISBN: 978-3-5962-9936-2
  • Preis: 9,99 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon (englisches Original: Amazon)

 

Bonus/Downloadcontent

Es gibt eine Karte der Stadt, in der sich Alifs Abenteuer zutragen. Diese ist zwar nett anzusehen, aber nicht wirklich notwendig, um der Handlung zu folgen.

Das Glossar soll mit den arabischen Vokabeln helfen, doch auch die sind keinesfalls tragend für die Handlung. Philologisch macht die Liste nicht viel her und manche Schreibweisen dürften Islamwissenschaftlern Albträume bereiten. Für belletristische Zwecke genügt sie aber. Außerdem enthält das Buch einen Anhang, der die fünf Arten der Dschinn im islamischen Glauben vorstellt.

Auf der Seite des Fischerverlags findet sich eine Leseprobe.

Fazit

Alif der Unsichtbare erzählt eine spannende Geschichte von bemerkenswerter Vielschichtigkeit. Der Roman behandelt politische Unzufriedenheit und religiöse Fragen mit der gleichen Leichtigkeit wie das Verhältnis zwischen Realität und Fiktion, ohne dabei besondere Vorkenntnisse vorauszusetzen. Dabei glänzt er durch sympathische Figuren und eine optimistische Grundstimmung. Wer einen extrem unterhaltsamen Urban Fantasy-Roman mit ungewöhnlichem Setting lesen möchte, wird hier genauso fündig wie alle, die beim Lesen gerne in die Tiefe gehen mögen. Wie viele der zahlreichen Denkanstöße man während der Lektüre mitnehmen und weiterdenken möchte, bleibt jedem selbst überlassen.

Dass beide Ebenen – oberflächliche Unterhaltung und tiefgehende Reflektion – sich gegenseitig nicht beeinträchtigen, ist ein Kunstgriff, der längst nicht allen Genreautoren gelingen dürfte und lässt ahnen, weshalb der World Fantasy Award dieses Buch in eine Reihe mit Werken wie Patrick Süskinds Das Parfum stellt. Um dessen Rang wirklich zu erreichen, hätte die Autorin einem allerdings wohl auch auf Figurenebene mehr abverlangen müssen. Dennoch gilt: Wenn es auch kein großer Roman unserer Zeit sein mag, bleibt Alif der Unsichtbare doch ein wegweisendes Werk der Phantastik, welches zeigt, dass postmoderne Themen und Islam keinen Gegensatz bilden müssen.

Artikelbild: Fischer TOR, Bearbeitung: Melanie Mazur
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

 

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