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Strenge Eltern, Liebeskummer, familiäre Pflichten, Schulstress: Welcher Teenager hat nicht mit diesen Problemen zu kämpfen? Kamala Khan geht es nicht anders – doch im Gegensatz zu den meisten Teenagern ist sie als Miss Marvel ein Mitglied der Earth‘s Mightiest Heroes. Puberty assemble!

Jugendliche sind schon eine seltsame Spezies: Im Hormonrausch fühlt sich jedes Problem wie das Ende der Welt an, und am nächsten Tag ist alles wieder gut. Auch Teenager mit Superkräften sind davon nicht verschont. In Heft 19 der ersten Staffel von Marvel stand Kamala noch mit ihrem Sidekick/Schwarm Bruno auf dem Dach der Schulturnhalle, wo sich die Bürger von Jersey City in Erwartung des Weltuntergangs verschanzt hatten. Wer 2015 andere Marvel-Serien gelesen hatte, weiß, dass es sich bei diesem Ereignis um Secret Wars II handelte.

Die beiden Welten Earth-616 und Earth-1610 (das Ultimate-Universum) drohten miteinander zu kollidieren, was letztendlich aber von den Avengers und anderen Helden verhindert (bzw. rückgängig gemacht) wurde. Und so blieb am nächsten Tag für Miss Marvel alles beim Alten. Na ja, fast alles. Nachdem sie in der ersten Staffel von 2014-2015 schon ihre Idole Wolverine, Medusa und Captain Marvel treffen durfte, steigt sie jetzt in Marvels Helden-Olymp auf. In All-New, All-Different Avengers #3 wird Kamala Mitglied eines brandneuen Avengers-Teams. Ihr größter Traum geht in Erfüllung – doch damit fangen ihre Probleme erst an …

Handlung

In jenem Comic, in dem die Avengers sich neu formieren, bezeichnet Tony Stark Kamala als Fan, die zum Profi wurde. Und tatsächlich sieht man in Ms. Marvel #1 gleich zu Beginn eine Splashpage der jungen Heldin, umringt von Iron Man, Thor, Vision, Spider-Man, Nova und Captain America. Doch kurz nach dem gemeinsamen Abenteuer wird Kamala von Tony nach Hause gebracht, wo ganz banale Hausaufgaben auf sie warten. Schule, Superheldentum, und die Geheimhaltung ihrer Identität vor Vater und Bruder (ihre Mutter hatte sie ja im vorigen Heft bereits durchschaut) – der Sechzehnjährigen wachsen die vielfältigen Aufgaben langsam über den Kopf. Ihre Freunde kommen dabei zu kurz, was Kamala schmerzlich feststellen muss, als Zoe und Nakia sie darauf hinweisen, dass Bruno neuerdings eine Freundin hat. Und selbst ihr religiöser Bruder Aamir überrascht sie mit der Ankündigung, sich verloben zu wollen. Nur Kamala selbst hat seit dem Debakel mit Kamran keine Lust mehr auf Dates.

Ms Marvel inmitten der Avengers (c) Marvel Comics Online
Ms Marvel inmitten der Avengers (c) Marvel Comics Online

Nicht, dass sie Zeit dafür hätte, denn Jersey City wird von einer Bedrohung heimgesucht, die man nicht einfach verprügeln kann: Gentrifizierung! Ein gemütliches Stadtviertel wird von einer Immobiliengesellschaft namens Hope Yards zu einer unerträglichen Hipster-Szenelocation umgebaut. Zur Vermarktung dieser Kampagne benutzt die skrupellose Firma ungefragt das Gesicht von Miss Marvel, was die Bewohner ihrer geliebten Stadt auf die Barrikaden bringt. Das allein wäre ärgerlich genug, doch hinter der Modernisierungsmaßnahme steckt ein bekannter Bösewicht, der die Anwohner nach und nach unter seine Gedankenkontrolle bringt, unter anderem auch Bruno.

Nachdem Miss Marvel dank Bruno und Mike die Schurken von Hope Yards zur Strecke bringen und ihren Ruf teilweise wiederherstellen konnte, wird sie in der zweiten Hälfte des Bandes (Hefte 4-6) selbst zur Bedrohung für Jersey City. Aamir will seine Verlobte Tyesha heiraten und Kamala wird in die Hochzeitsvorbereitungen einbezogen. Die Avengers erwarten von ihr, dass sie ihre Heimatstadt sauberhält, und die nächtlichen Prügeleien mit Crocs-tragenden kanadischen Ninjas (!) lassen sie tagsüber den Unterricht verschlafen. Um der Lage Herrin zu werden, lässt sich die junge Heldin von Bruno klonen. Kurzzeitig scheint es, als könne Kamala jetzt an mehreren Orten gleichzeitig sein. Doch natürlich geht das Experiment schief: In einer der witzigsten Marvel-Storylines der letzten Jahre wird Jersey City von einer Armee albern grinsender Kamala-Klone überrannt. Miss Marvel sieht sich gezwungen, um Hilfe zu bitten, was zu einem amüsanten Zusammentreffen mehrerer bekannter Helden führt …

Charaktere

In manchen Superheldencomics sind Familie und Freunde nur schmückendes Beiwerk, um kurz anzudeuten, dass der Held eine menschliche Seite hat, bevor es wieder ans Übeltäter Verkloppen geht. Oder noch schlimmer, sie werden nur eingeführt, um anschließend grausam zu sterben, was einerseits die pure Bösartigkeit des Antagonisten deutlich macht, und andererseits dem Protagonisten erlaubt, Rache zu schwören (Kyle Rayners Freundin möchte übrigens aus dem Kühlschrank abgeholt werden).

Nicht so bei Ms. Marvel: Kamalas soziales Umfeld ist von großer Bedeutung für ihre persönliche Entwicklung. Wer hat in Ausgabe 19 nicht ein Tränchen verdrücken müssen, als Muneeba Khan ihrer Tochter anvertraut, dass sie ihr Geheimnis kennt und stolz auf sie ist? Die schrulligen und liebenswerten Bewohner von Jersey City dienen der Heldin als Anker, sie sind der Grund, warum Kamala trotz der enormen emotionalen Last immer wieder ihr Kostüm anzieht. Inspiriert durch ihre Beschützerin machen selbst Nebencharaktere interessante Wandlungen durch: Die oberflächliche Zicke Zoe entschuldigt sich bei Kamala und macht einen Selbstfindungstrip, komplett mit bunten Haaren und veganem Lebensstil. Aamir Khan, ein Moralapostel ohne Job und Lebensziele, verliebt sich in eine junge Frau und wird zum verantwortungsbewussten Ehemann. Bruno emanzipiert sich indes von seiner früheren Angebeteten und geht mit Mike aus, bleibt aber als Technikgenie weiterhin treu an der Seite von Miss Marvel.

Die wichtigste Entwicklung macht aber die Hauptfigur Kamala durch. In der ersten Staffel musste sie noch ihre Rolle in der Welt kennenlernen, Kräfte ausprobieren, Gegner und Verbündete finden. Jetzt hat sie ihren Platz in der Welt als Verteidigerin von Jersey City gefunden. Diese Verantwortung zu schultern, ist die nächste große Herausforderung. Der (zugegebenermaßen recht alberne) Klon-Handlungsbogen macht das Dilemma deutlich: Kamala möchte es allen recht machen und zu niemandem Nein sagen müssen.

Die Schülerin, die beste Freundin, die Tochter, die Superheldin, diese Rollen kann eine einzige Person unmöglich alleine schultern. Kamala lernt durch die Klonkrise eine wichtige Lektion: Es ist keine Schande, um Hilfe zu bitten. Am Ende sind es zwei erwachsene Helden, die sie daran erinnern, dass sie in erster Linie Kamala Khan ist und danach erst Miss Marvel (wer genau hinschaut, bemerkt in diesem Zusammentreffen erste Grundzüge von Civil War II).

Zeichenstil

Die Zeichnungen sind wie gewohnt bunt, kurios und voller witziger Details. Zu den herrlich krakeligen Figuren von Adrian Alphona, der bereits den Großteil von Staffel 1 illustrierte, und den latent manga-artigen Gesichtern seines Kollegen Takeshi Miyazawa gesellt sich als dritter Zeichner für die Ausgaben 4-6 Nico Leon hinzu. Seine Linien sind klarer und seine Hintergründe kontrastreicher als die zu fließenden Übergängen neigenden Seiten von Alphona. Was alle drei gemeinsam haben, sind amüsante Details wie verschrobene Passanten, die bei der neuesten Schlägerei zwischen Miss Marvel und ihren Gegnern verdutzt aus der Wäsche schauen, seltsame Kreaturen wie das seit Ausgabe 1 immer wiederkehrende fliegende Faultier, oder die Kopfbedeckungen von Lokis Golems.

Diese Liebe zum Detail belohnt den aufmerksamen Leser, der gerne ein zweites oder drittes Mal hinschaut. Grandiose Splashpages als purer Fanservice fehlen in keiner der sechs Ausgaben, und man fühlt sich als Leser ebenso mitgerissen wie Kamala, wenn sie an der Seite der Avengers nach vorne stürmt. Kamala als Superhelden-Fangirl ist auch eine Art Avatar des Lesers, und ihre Freude am Heldentum spürt man auf diesen Seiten besonders.

Die harten Fakten:

 

Fazit

Die begeisterten Fanbriefe, die alle 2-3 Ausgaben abgedruckt werden, bringen es auf den Punkt. Comicfans von 6 bis 66 Jahren melden sich immer wieder bei Redakteurin Sana Amanat zu Wort und betonen, wie sehr sie die Geschichten persönlich berühren. Obwohl Ms. Marvel eine humorvolle Serie mit einer jugendlichen Protagonistin ist, wird sie von Lesern aller Altersschichten geliebt. Denn die vermeintlichen Teenagerprobleme, die Kamala plagen, trifft man auch im Erwachsenenleben immer wieder. Wer kennt nicht den Druck, mehreren sozialen Rollen gleichzeitig gerecht werden zu müssen? Oder sich als neuestes Mitglied einer Gruppe mit höchst unterschiedlichen Persönlichkeiten zurechtzufinden? Oder die Angst, als unfähig dazustehen, wenn man sich mit seinen Problemen an andere wendet?

Diese Belastungen präsentiert die Autorin G. Willow Wilson auf eine gewohnt lebensnahe Weise, die jeden Menschen anspricht. Das ist die wahre Stärke dieses Comics. Mutierte Riesenkröten, Ninjas oder randalierende Klone spielen nur eine Nebenrolle in diesen beiden Geschichten. Bedrohungen, die man durch ordentliches Verdreschen mit Embiggened fists of rage beseitigen kann, sind harmlos. Moralische Entscheidungen hingegen sind die eigentlichen Herausforderungen im Leben, das wird in den Ausgaben 7-12 noch eine deutlich größere Rolle spielen …

Artikelbilder: Panini Comics, Marvel Online
Diese Produkte wurden privat finanziert.

 

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