Geschätzte Lesezeit: 9 Minuten

Singe die Messe, oh Göttin, der Leipziger Bücher / Sie, die eröffnet der Leser unendliche Freude erregte / Und viel tapfere Bücherfreunde gen Osten lockte / Selbst dann noch, als zürnend Leipzig sein Wetter entsandte / Und tausende Seelen zum Opfer darbot dem Schnee.

Na gut, für ein Epos von homerischen Ausmaßen hatte die Leipziger Buchmesse letzte Woche vielleicht nicht genügend rachedurstige Protagonisten. Wer sich vier Tage lang von fahrenden Sardinenbüchsen aufs Messegelände karren lässt, durch Gänge irrt, die sich jederzeit in Einbahnstraßen verwandeln können und mit dem unheiligen Kondenswasser der großen Glashalle getauft wurde, fühlt sich später aber trotzdem, als hätte er gerade im Alleingang Troja eingenommen – mindestens.

Weder politische Spannungen noch das unerwartete Schneetreiben konnten die 271.000 Besucher schrecken, die von Donnerstag bis Sonntag ihren jeweiligen Bücherleidenschaften frönten, sich fortbildeten, netzwerkten oder auch einfach das bunte Treiben bewunderten. 111.300 m² voller unterschiedlicher Buchlinge! Dahin zog es naturgemäß auch uns vom Teilzeithelden-Romanressort.

Irrfahrt zwischen den Leseinseln

Im Mittelpunkt der Messe stand für uns natürlich, möglichst viele Neuerscheinungen kennenzulernen. Weit über die Hälfte der Autoren und Autorinnen, die ich im letzten Jahr für Teilzeithelden besprochen habe, kamen aus dem englischsprachigen Raum und lagen in Übersetzung vor. Daher hatte ich mir vor allem für den ersten Messetag vorgenommen, eine möglichst lange Leseliste deutschsprachiger Phantastik zu erstellen. Die „Leseinsel Fantasy“, auf der täglich große und kleine Autoren aus ihren Büchern vorlasen, wurde zu meiner festen ersten Anlaufstelle. Hier konnte man sich mit etwas Glück einen Sitzplatz sichern und sich von der anstrengenden Anreise erholen.

Eigentlich hätte man hier auch den ganzen Tag verweilen und gespannt die Ohren spitzen können, aber das wäre eine fast schon kriminelle Missachtung des reichhaltigen kulturellen Angebots der Messe gewesen. So führte man auf der Messe also eher ein Nomadendasein, zog von Insel zu Insel, von Bühne zu Bühne und wünschte sich sehnlichst einen Zeitumkehrer herbei. Übrigens war das größte Problem – und das musste ich als Messeneuling selbst erstmal lernen – nicht etwa das eigene volle Programm, sondern die Frage, wie schnell man auf der Messe von A nach B kommt.

Der Weg von einer Halle in die nächste konnte je nach Wochentag und Uhrzeit fünf oder auch mal fünfundzwanzig Minuten dauern. In letzterem Fall bekam man von der Lesung, die man hatte hören wollen, bestenfalls noch den Applaus mit. Die Strudel und Strömungen der Leipziger Buchmesse zu navigieren, ist eine Kunst für sich und nicht selten lauert hinter jedem Stand bereits die nächste verführerische Ablenkung, die einen erneut zum Odysseus macht.

Passend zum Anlass: Akram El-Bahay liest aus Bücherstadt.
Passend zum Anlass: Akram El-Bahay liest aus Bücherstadt.

Dennoch kam man gelegentlich doch noch rechtzeitig ans Ziel und konnte so bleibende Eindrücke sammeln. Akram El-Bahay las aus Bücherstadt, dem Auftakt zu seiner aktuellen Trilogie Die Bibliothek der flüsternden Schatten über einen Dieb, der eine geheimnisvolle Bibliothek bewachen soll. Für eine Lesung mitten auf der Buchmesse natürlich ein einmalig gutes Thema, das gerade die jüngeren Zuhörer, von denen es im Publikum nicht gerade wenige gab, abholte.

Etwas schwerer hatte es da Fabian Dombrowski, dessen nachdenkliche Geschichte Eine Meditation zum Ende vielleicht eine etwas andere – und vor allem ältere – Zuschauerschaft gebraucht hätte, die das zwischen klug und prätentiös oszillierende Gespräch Pommes essender Asen vielleicht besser hätte einordnen können. Letztlich war aber die Aufmerksamkeit, die eine Lesung bekam, ebenso abhängig von Tag und Uhrzeit, wie alles andere auf der Messe.

Doch nicht nur auf der Leseinsel, sondern überall auf der Messe ging es phantastisch zu. Das begann schon mit den Cosplayern. Obgleich diese im Voraus in eine eigene „Manga-Comic-Con“ Halle ausgegliedert und offenbar mitunter wie Messebesucher zweiter Klasse behandelt wurden, mischten sie sich unverdrossen unter die Leute und bereicherten in vielen Fällen das Messeerlebnis. Große und kleine Phantastikverlage lockten mit Büchern und Autorengesprächen. Ein besonderes Highlight war aber der Stand des Nornennetzes, dem Netzwerk für deutschsprachige Phantastik-Autorinnen. Hier fanden nicht nur regelmäßig Lesungen der einzelnen Nornen statt, sondern auch eine Verlosung, bei der man allerlei kleine Goodies gewinnen konnte.

Die Gewinne zog man aus aufwändig gestalteten Boxen, die sich thematisch jeweils an dem Werk einer Autorin orientierten. So viel Kreativität wünscht man sich von jedem Stand.

Such Dir eine aus“: Die bunten Boxen vom Nornennetz.
Such Dir eine aus“: Die bunten Boxen vom Nornennetz.

Auch in den „seriösen“ Bereichen jenseits von Halle 2 rückte Phantastik stärker in den Vordergrund. Populärwissenschaftliche Bücher trugen Titel wie Zeit der Zauberer, im Rahmen der Auseinandersetzung mit Literatur aus dem diesjährigen Schwerpunktland wurden rumänische Märchen vorgestellt und beim angesehenen 3Sat-Moderator Gert Scobel sprach man über Science-Fiction und literarische Utopie. Da konnte man nur dankbar sein, dass man sich mehr als einen Tag Zeit genommen hatte, um die Messe zu erkunden.

Drei Preise an drei Genres: Der Seraph 2018

Die Seraph-Verleihung, die, wie könnte es anders sein, gegen Ende des ersten Messetages ebenfalls auf der „Leseinsel Fantasy“ stattfand, war natürlich ein Muss für jeden, der auf der Suche nach neuer deutschsprachiger Phantastik ist. Der Jurypreis der Phantastischen Akademie e.V wurde dieses Jahr zusätzlich zu den beiden herkömmlichen Kategorien „Bestes Buch“ und „Bestes Debüt“ auch in der Kategorie „Bester Independent-Titel“ vergeben. So kam es, dass die Selfpublisherin Janna Ruth für ihren über die Märchenspinnerei publizierten Roman Im Bann der zertanzten Schuhe einen der begehrten schwarzen Engel mit nach Hause nehmen durfte. Ihr modernes Märchen über Einsamkeit und Selbstfindung im glitzernden Nachtleben setzte sich gegen Nora Bendzkos Kindsräuber und Timothy Dawsons Die Chroniken von Eduschee durch. 

Janna Ruth erhält den Seraph für ihren Independent-Titel Im Bann der zertanzten Schuhe.
Janna Ruth erhält den Seraph für ihren Independent-Titel Im Bann der zertanzten Schuhe.

Auf der Shortlist für das beste Debüt ließ sich dieses Jahr ein gewisser Zeitgeist erahnen. Neben Markus Cremers Steampunk-Abenteuer Archibald Leach und die Monstrositäten des Marquis de Montmartre waren gleich zwei dystopische Romane nominiert. Thekla Kraußenecks Cronos Cube setzt sich mit den Themen digitale Überwachung und Virtual Reality auseinander und schickt einen Helden, der kein gläserner Mensch sein möchte, auf eine digitale Verfolgungsjagd. Dagegen zeigt Theresa Hannigs Die Optimierer eine satirische überzeichnete Zukunft im Perfektionierungswahn. Ihr Protagonist Samson Freitag ist kein rebellischer Kritiker, sondern als professioneller Lebensberater ganz und gar Systemträger, der ganz im Stil der großen dystopischen Klassiker die dunkle Seite seiner schönen neuen Welt entdecken muss. Mit ihrem Buch überzeugte die Münchnerin die Jury, mit ihrer lockeren und ungekünstelten Art dann später auch direkt die Zuschauer. Auf die Frage bei der Abendlesung, was sie mit den 2.000 € Preisgeld mache, antwortete Hannig ganz bodenständig, davon kaufe sie jetzt für eine sehr lange Zeit bei Aldi ein.

Für den Hauptpreis der Verleihung waren neben Akram El-Bahays arabisch angehauchtem Fantasyroman Bücherstadt Mechthild Gläsers Emma, der Faun und das vergessene Buch und Karl Olsbergs Boy in a White Room nominiert. Ersteres versteht sich als eine Verneigung vor der britischen Autorin Jane Austen, letzteres ist ein tiefgründiger Thriller über künstliche Intelligenz. Unterschiedlicher könnte eine Shortlist also kaum sein. Auch der Gewinnerroman Der Kanon mechanischer Seelen von Michael Marrak trägt zu dieser gelungenen Auswahl exemplarischer Genrevielfalt bei. Der futuristische Science-Fiction Roman spielt auf einer kaum bevölkerten Erde und erzählt von Menschen mit der seltenen Gabe, Materie zu beseelen. Indem sie verschrottete Maschinen zum Leben erwecken, versuchen sie, mehr über die Vergangenheit ihres Planeten zu erfahren. Der bereits mit vielen Phantastikpreisen ausgezeichnete Autor ließ sich für den zunächst als mehrere Novellen angelegten Roman von Stanislaw Lems Robotermärchen inspirieren.

Michael Marrak wird für Der Kanon mechanischer Seelen ausgezeichnet.
Michael Marrak wird für Der Kanon mechanischer Seelen ausgezeichnet.

Der Fantasy-Leseabend

Wer nach der Verleihung ohne Auto zum Fantasy-Leseabend wollte, konnte sich allerdings auf eine lange Anreise gefasst machen. Sobald der Gong ertönte und die Besuchermassen dazu aufforderte, sich zu den Ausgängen zu begeben, war vor lauter Rennen, Retten und Flüchten kein klarer Gedanke mehr zu fassen und man sammelte sich draußen zur großen Tram-Belagerung. Zum Glück waren die Straßen am ersten Abend noch frei von Schnee und Eis, so dass man sich am Bahnhof aufhalten konnte, ohne permanent Angst um sein Leben zu haben, denn der Weg zur Lesenacht führte einen quer durch Leipzig. Dafür war das Werk 2 eine stimmungsvolle Location, die auch für uns Nachzügler noch genug Platz bot. Neben den oben vorgestellten Preisträgern lasen hier deutsche Phantastikgrößen wie Kai Meyer, Bernhard Hennen und Christian von Aster. Bei dieser Elefantenrunde brummte es nochmal so richtig auf der liebevoll angelegten Leseliste für die nächsten Monate.

Als besondere Überraschung erwies sich dabei das Romandebüt von C. E. Bernard. Als Christine Lehnen, so ihr richtiger Name, für ihren ersten fertigen Roman keinen Abnehmer fand, schrieb sie stattdessen einen anderen – und weil sie darauf mehr Lust hatte, schrieb sie ihn auf Englisch. So entstand Palace of Glass – Die Wächterin, und wurde dann auch direkt von einem (ironischerweise deutschen) Verlag aufgegriffen. Das in Übersetzung vorliegende Buch spielt in einem fiktionalen England, in dem der Bevölkerung direkter Körperkontakt beinahe gänzlich untersagt ist. Grund dafür sind Menschen, denen die geheimnisvolle Gabe zu eigen ist, durch Berührungen die Gedanken Anderer zu lesen. Protagonistin Rea ist ein solcher Mensch, der seine Macht verborgen halten muss und nur während illegaler Kampfevents im Untergrund einsetzen kann. Die Lesung selbst war angenehm unaufgeregt und ein guter Vorgeschmack auf den Grundton des Romans. Dagegen war Bernhard Hennen, der aus Der Verfluchte, dem Auftakt zu seiner neuen Saga Die Chroniken von Azuhr, las, natürlich schon ein alter Hase.

Newcomer unter Elefanten: Theresa Hannig liest im Werk 2 aus ihrem dystopischen Debütroman.
Newcomer unter Elefanten: Theresa Hannig liest im Werk 2 aus ihrem dystopischen Debütroman.

Das von ihm vorgestellte erste Kapitel hat zwar mit der eigentlichen Handlung noch wenig zu tun, ließ einen aber schon mal die Luft seiner die italienische Renaissance heraufbeschwörenden Fantasywelt schnuppern. Eine TZH-Rezension ist bereits in Arbeit.

Auch Markus Heitz stellte seinen aktuellen Roman vor, kabbelte sich mit einem Tulpenstrauß, der zur Bühnendeko gehörte und sorgte allgemein für ausgelassene Stimmung. Passenderweise sind nämlich Pflanzen in Die Klinge des Schicksals die Übeltäter und die legendäre Titelheldin Danèstra muss die Welt vor wild wuchernder Vegetation bewahren. Ein Buch also, das man unbedingt im Garten lesen sollte. Mich persönlich spricht es jedoch noch aus einem ganz anderen Grund an: Mit einer Heldin, die zum Zeitpunkt der Geschichte bereits über sechzig ist, setzt Heitz einen schönen Kontrast zu all den jungen und straffen Reckinnen mit Pfirsichhaut, welche die Phantastik eigentlich schon bevölkern, seit die schöne Helena damals aus dem Ei schlüpfte.

Im Hinblick auf eine Leseliste für das nächste Jahr bei Teilzeithelden war unser Donnerstag auf der Leipziger Buchmesse also ein voller Erfolg. Viele Bücher bekannter und unbekannter Autorinnen und Autoren warteten nur auf uns und weitere sollten in den nächsten Tagen folgen. Doch für heute war es genug und wir schleppten uns müden Fußes nach Hause, sortierten unsere Notizen und Bücherwünsche und ahnten noch nicht, dass wir schon in 24 Stunden nichts so sehr vermissen würden, wie unsere Winterstiefel.

Freitag die Erkenntnis: Das kleine Mädchen mit dem Frozen-Cosplay war klüger als wir!
Freitag die Erkenntnis: Das kleine Mädchen mit dem Frozen-Cosplay war klüger als wir!

Fotografien: Heike Lindhold
Artikelbilder: Leipziger Buchmesse, Phantastische Akademie

 

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein