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Aycayia wird aus dem Meer gezogen: Ein ungeheuerlicher Fang, halb Fisch, halb Frau, mit furchterregenden Augen, stinkend und voller Seetang. Monique Roffey erzählt in Die Meerjungfrau von Black Conch eine Geschichte von Heimat und Fremdheit, von Liebe in verschiedenen Spielarten, von Postkolonialismus und Feminismus auf einer fiktiven Karibikinsel.

Meerjungfrauen sind allbekannt: Wer kennt nicht Arielle oder Die kleine Meerjungfrau von Hans Christian Andersen? Auch wenn erstgenannte sich erfreulicherweise nun in der neuen Verfilmung wohl eher um ihre Freiheit als um den Prinzen bemüht, und es auch einige furchterregende Wasserbewohnerinnen in der Literatur gibt (hier ein Beispiel aus Hamburg), ist in den meisten Köpfen wahrscheinlich die Disney-Arielle als Prototyp abgespeichert.

Monique Roffey präsentiert mit Aycayia eine ganz andere Meerjungfrau: einsam im Meer und schließlich fremd an Land. Eine, die nicht durch ihren Liebreiz, sondern durch ihre Andersartigkeit zum einen besticht, zum anderen aber auch abschreckt. Die Gesellschaft, die die Meerjungfrau erleben muss, ist ebenso wenig märchenhaft: Anstelle eines romantischen Schlosses wird das fiktive Dorf, das größtenteils vom Fischfang lebt, in den 1970er Jahren Schauplatz dieser Vermischung von Fabel- und realer Welt. Neid, Missgunst und Habgier sind hier genauso selbstverständlich wie die unterschiedlichsten persönlichen Verstrickungen.

Triggerwarnungen

Suizidales Verhalten, Rassismus, Sexualisierte Gewalt

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Die Meerfrau und der Mensch: Eine unmögliche Liebe?

Nachdem der Fischer David während seines alltäglichen Broterwerbs auf die Meerfrau aufmerksam wird, entspinnen sich zärtliche Bande zwischen der Sagengestalt und ihm: Offensichtlich ist sie von seiner Musik angetan, und auch er ist voller Neugier. Doch es ist nicht David, dem sie schlussendlich an den Haken geht. Zwei amerikanische Angeltouristen machen mit ihr einen unerwarteten Fang und freuen sich über ein zu erwartendes Vermögen.

Als David dem drohenden Unheil gewahr wird, handelt er kurzentschlossen und nimmt Aycayia mit zu sich nach Hause, wo er sie in seiner Badewanne unterbringt. Es beginnt ein schmerzhafter und für alle Beteiligten fordernder Prozess. Aycayia wird wieder zur Frau, so wie sie es vor langer Zeit als Taino gewesen ist. Die Taino waren die Ureinwohner*innen der Karibik, die die Invasion der Spanier*innen zu großen Teilen nicht überlebten, wobei immer noch einzelne Menschen eine Nachkommenschaft nachweisen können.

Im Laufe des Buches wird die*der Leser*in erfahren, was die Ursache von Aycayias Verwandlung zur Meeresbewohnerin ist. Und auch David macht eine Wandlung durch, die ihm nicht nur Aycayia, sondern auch anderen Personen näherbringt, mit denen er nicht gerechnet hätte.

Zwischen den beiden entsteht eine Anziehungskraft, die nicht märchenhaft, sondern gekonnt realistisch ist. Aycayia schnarcht, weiß nicht, was sie mit sich und David anfangen soll und muss sich zudem mit ihrer neuen Rolle an Land arrangieren. Im Zuge ihrer Frau-Werdung muss sie nicht nur lernen zu laufen. Vielmehr setzen auch Körperfunktionen ein, die sie seit langer Zeit nicht mehr hatte. All diese Wandlungen gehen nicht spurlos an ihrem Innenleben vorbei.

Doch Monique Roffey erzählt nicht nur die Ereignisse zwischen David und Aycayia, sie entwirft vielmehr ein Sittenbild des Zusammenlebens in Black Conch.

Einen weiteren Fokus der Geschichte bildet Arcadia Rain, der die Aufgabe zufällt, die Reste des kolonialen Erbes ihrer Familie zu verwalten. Alleinerziehend und mit gebrochenem Herzen versucht sie, ihrer Rolle gerecht zu werden. Im Laufe der Ereignisse, die die Meerfrau in der Bucht in Gang setzt, wird auch ihre Geschichte wichtig für David und Aycayia.

Faszinierende Perspektiven und eine lobenswerte Übersetzung

Monique Roffey gelingt es nicht nur, einen vollkommen neuen Blick auf ein altbekanntes Motiv zu werfen, vielmehr schafft sie es, die Handlung durch unterschiedliche, sprachlich klar voneinander abzugrenzende Erzähler*innenperspektiven abzubilden. Teilweise werden die Ereignisse durch eine*n neutrale*n Erzähler*in geschildert. Spannend wird es jedoch, wenn Aycayia und David als Erzählende fungieren: Aycayias Perspektive auf das Geschehen wird lyrisch, in moderner Gedichtform deutlich, während Davids Anteil an der Geschichte in Form von memoirenartigen Tagebucheinträgen des Jahres 2015 abgebildet wird.

Ganz im Sinne der Idealvorstellung des Magischen Realismus gelingt es Roffey ausgezeichnet, das Wunderbare in der Realität zu verankern. Sie verwirbelt alte Legenden der indigenen Bevölkerung mit der Realität des kolonialen Erbes der Karibik und erschafft so etwas neues, wobei die alten Probleme innovativ bearbeitet werden. Die Figur der Arcadia Rain fügt sich derart harmonisch in den Gesamtkontext ein, dass Lesende davon ausgehen müssen, diese Ereignisse könnten trotz ihrer phantastischen Komponenten jederzeit in der Wirklichkeit genauso passieren. Die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Ebenen, seien diese sprachlich oder thematisch, geschehen derart organisch, dass sämtliche Grenzen zwischen den Genres nicht nur verschwimmen, sondern miteinander in den aktiven Austausch gehen.

Doch auch das Profane erhält seinen Raum: Die Meerjungfrau von Black Conch ist neben allem anderen eine Liebesgeschichte. David und Aycayia fühlten sich schon voneinander angezogen, als sie sich noch vollkommen fremd waren und in verschiedenen Welten lebten. Als David sich entschließt, die Meerfrau zu retten und die beiden sich nach und nach näherkommen, werden Einsamkeit und Begehren zärtlich erzählt, unabhängig von der Erzählperspektive.

„Er begehrte sie, aber er wünschte ihr auch die Freiheit, das zu sein, was sie wollte. Sie lächelte ihn an, und diesmal entdeckte er in ihrem Blick eine stille Hoffnung. Er hatte das Gefühl, für sie sei irgendetwas vorüber oder hätte gerade begonnen.“

Besonders hervorzuheben ist die Leistung der Übersetzerin Gesine Schröder. Fast schon kongenial gelingt es ihr, die verschiedenen Erzählperspektiven abgrenzbar und trotzdem zusammenhängend ins Deutsche zu übertragen. Eine besondere Herausforderung bildet der karibische Dialekt, die Kreolsprache, in dem die Protagonist*innen teilweise sprechen. Doch jede Person spricht anders, durch Sprache werden Haltung, Bildung und sozialer Status transportiert.

Sehr transparent ist am Ende des Buches eine Nachbemerkung der Übersetzerin zu finden, in dem diese erläutert, warum sie bestimmte sprachliche Mittel gewählt hat, die so im Original nicht zu finden sind. Es ist dieser reflektierten und wohlüberlegten Arbeit zu verdanken, dass der Roman auch in deutscher Übersetzung seine Wirkung entfaltet.

Die Autorin

Die sich als „bi-kulturell“ bezeichnende Monique Roffey hat zwei Heimaten: London und Port Spain auf Trinidad, wo sie geboren wurde. Die Autorin von sechs Büchern, ihren Memoiren sowie diversen Kurzgeschichten und Essays ist neben ihren schriftstellerischen Tätigkeiten als Professorin an der Manchester Metropolitan University tätig, wo sie angehende Schriftsteller*innen ausbildet.

Außerdem ist sie Mitbegründerin von Writers Rebel, einer Gruppe, die zu Extinction Rebellion gehört, und darin aktiv. Für ihre Bücher gewann sie mehrere Preise und Auszeichnungen. Weitere Informationen über Roffey finden sich auf ihrer Homepage.

Erscheinungsbild

Schon das Cover zeigt einen Kontrast: Ein sehr großer Fischschwanz ist abgebildet, der in gelb-roten Tönen gestaltet ist und sich so vom grünen Hintergrund abhebt. Einen viel genaueren Blick erfordert die Schildkröte, die viel kleiner als der Schwanz in schwarz zu sehen ist. Viel mehr hebt sich die Schrift des Titels ab, da sie in weißen großen Lettern gestaltet wurde. Leider wirkt es so sehr plakativ, wohingegen der Roman weitaus vielschichtiger ist.

Die Lesenden werden sowohl auf der Rückseite als auch beim Klappentext sehr gut über den Inhalt und die grundlegenden Themen von Die Meerjungfrau von Black Conch informiert. Weiterhin finden sich sehr positive Zitate sowohl von Zeitungen als auch von anderen Schriftstellerinnen. Geradezu geadelt wird es durch Empfehlung von Margaret Atwood, die noch vor der Inhaltsangabe auf dem Buchrücken platziert wurde.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Tropen
  • Autor*in: Monique Roffey
  • Erscheinungsdatum: 19.10.2022
  • Sprache: Deutsch (Aus dem Englischen übersetzt von Gesine Schröder)
  • Format: Gebundenes Buch
  • Seitenanzahl: 240
  • ISBN: 978-3-608-50522-1
  • Preis: 22 EUR (Print) + 17,99 EUR (E-Book)
  • Bezugsquelle Fachhandel, Amazon (deutsch und englisch), idealo

 

Fazit

Die Meerjungfrau von Black Conch verändert unser Bild dieses mythischen Wesens. Denn Aycayia, stinkend, voller Seetang und mit einem stechenden Blick, kommt in die reale Welt und stellt nicht nur das Leben des Fischers David, der sie in seiner Badewanne unterbringt, auf den Kopf. Der Prozess der Frau-Werdung in all seinen Ausformungen, die Liebe und die Einsamkeit, Feminismus, postkoloniale Geschichte und schließlich das Zusammenleben in der Familie: All das sind Themen, die ihren Platz in dem 230 Seiten kurzen Buch finden.

Monique Roffey versteht es, verschiedene Perspektiven auf den Fortgang der Ereignisse mit unterschiedlichen Stilmitteln so zu präsentieren, dass sich diese zu einem harmonischen Ganzen zusammenfügen und, wie es zum Magischen Realismus gehört, das Phantastische in die Realität einzubinden. Die gekonnte Übersetzung des Kreolischen durch Gesine Schröder tut ihr Übriges, ein faszinierendes Leseerlebnis zu schaffen, das aufgrund der Vielfalt und Tiefe der Themen lange nachhallt.

 

  • Vielfältige Themen
  • Starke Protagonist*innen
  • Sehr gute Übersetzung
 

  • Plakative Covergestaltung

 

Artikelbilder: © Tropen Verlag
Layout und Satz: Norbert Schlüter
Lektorat: Saskia Harendt
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