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Ein Parelleluniversum – und es besteht nur aus einem Haus. Dieses jedoch scheint unendlich, und auch wenn es nicht mit besonders vielen Menschen aufwarten kann, dafür doch mit Geheimnissen. Piranesi hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese Geheimnisse zu erforschen, stößt dabei jedoch auf Dinge, mit denen er nicht gerechnet hat.

„Eintrag für den ersten Tag des siebten Monats in dem Jahr, in dem ich zum ersten Mal Piranesi las:“ So würde es aussehen, wenn diese Rezension im Stil von Piranesi verfasst worden wäre. Denn das Buch wird erzählt von einem Mann, der sein Leben in Dem Haus (immer ehrfürchtig großgeschrieben) penibel in Tagebucheinträgen gemäß seiner persönlichen Zeitrechnung festhält. Damit versucht er, Das Haus zu verstehen: ein Labyrinth eher, welches in den unteren Stockwerken von einem Ozean geflutet ist, dessen obere Stockwerke mit Wolken gefüllt sind und dessen mittlere Stockwerke Vögel und den Protagonisten, genannt Piranesi, beheimaten.

Und noch etwas findet sich zuhauf in den mittleren Stockwerken: überlebensgroße Statuen, tausende von ihnen. Piranesi beschreibt sie, nennt und kennt seine Lieblinge. Auch die Gezeiten Des Hauses weiß er auswendig. Doch trotz seiner klaren Auskunft werden immer mehr Fragen aufgeworfen, nicht zuletzt zu seiner eigenen Identität.

Story

Wer nach den ersten Sätzen wissen wollte, wo denn eigentlich die Menschen in der Geschichte sind, beziehungsweise wo Piranesi selbst dann herkommt, wenn es keine gibt, ist dem roten Faden des Buches schon auf der Spur. Dies ist allerdings nicht das Einzige, was schon auf den ersten Seiten Rätsel aufgibt und die Leser*innen gespannt weiterlesen lässt. Der erste der insgesamt sieben Teile des Romans dient dazu, Das Haus vorzustellen und uns einen Eindruck davon zu geben, wo wir uns eigentlich gerade befinden. Er sorgt mit seinen ungelösten Geheimnissen gleich auf mehreren Ebenen dafür, dass wir in die Geschichte hineingesogen werden.

Hier taucht schnell „Der Andere“ auf, der einzig andere lebende Mensch, den Piranesi in den unendlichen Sälen und Vestibülen jemals entdeckt hat. Piranesi, der sich der Präzision und Sorgfalt verschrieben hat, beschreibt ihn in seiner Auflistung von allen fünfzehn Menschen, dessen Existenz im Haus er jemals hat nachweisen können, sehr genau: Der Andere ist Wissenschaftler, zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt, mit einem strengen, aber intellektuell wirkenden Äußeren. Er trägt meistens einen Anzug.

Von den restlichen dreizehn Menschen sind nur noch Skelette übrig. Piranesi fragt sich bei alldem nur, ob er sich zu ihnen in den Alkoven legen soll, sollte er auch sterben. Dabei ist als Leser*in das Verlangen groß, laut auf Antwort auf die RICHTIGEN Fragen zu drängen: Warum schätzt du dein Alter auf Anfang dreißig? Müsstest du das nicht wissen? Was tust du an diesem Ort? Woher weißt du, was ein Affe ist, wenn es im Haus nur Vögel, dich und Den Anderen gibt? Woher hast du deine Kulis? Und woher Der Andere seinen Anzug? Wohin verschwindet er?

Aber Piranesi lässt sich Zeit, bevor er sich selbst diese Fragen stellt, zu sehr ist er mit seinem Umfeld beschäftigt. Die Geschichte wird zunächst mit einer Selbstverständlichkeit erzählt, wie sie zu jemandem passt, der sein ganzes bewusstes Leben an einem Ort verbracht und manche Sachen als gegeben akzeptiert hat. Nur durch Ungereimtheiten in dem, was Piranesi selbst als interessant empfindet, beginnt auch er im Laufe der Geschichte, sich unsere Fragen zu stellen. Dafür braucht es allerdings erst Den Anderen – jemand, den Piranesi als seinen Freund bezeichnet, denn schließlich sei er das einzig andere lebende menschliche Wesen.

Als weniger unschuldig-naive Personen, die in ihrem Leben wahrscheinlich schon mehr als nur einem Menschen begegnet sind, möchte man als Leser*in diese „Freundschaft“ eher anzweifeln. Im Gegensatz zu Piranesi selbst möchte dieser Mensch Das Haus nicht einfach nur beobachten, pflegen und dokumentieren. Der Andere ist stattdessen auf der Suche nach einem Großen und Geheimen Wissen. Spätestens bei dem letzten der sieben Punkte, aus denen dieses Wissen bestehen soll, dürften die Antagonisten-Alarmglocken schrillen, wenn es heißt: „schlichtere Gemüter dominieren und unserem Willen beugen.“

Piranesi akzeptiert das Tun des Anderen lange, ohne es stärker zu hinterfragen. Dennoch findet er es seltsam, „Piranesi“ genannt zu werden, er könne sich nämlich nicht erinnern, dass das sein Name sei. Auch fragt er sich, welche Gemüter denn gemeint sind, wenn doch nur er und Vögel noch existierten. Trotzdem gibt er die Hoffnung auf eine eventuelle sechzehnte Person nicht auf – sie ist auch diejenige, für die er seine Tagebücher schreibt und das Wissen aufbewahrt.

Erst im zweiten Teil fängt die Handlung an, richtig anzulaufen, und Piranesi kommt nicht mehr umhin, Ungereimtheiten im Haus zu bemerken. Seltsame Schnipsel werden gefunden, Der Andere benutzt Wörter, die Piranesi nicht versteht und lässt durchblicken, dass Piranesi öfter mal Dinge vergessen würde. Bestürzt hinterfragt Piranesi sich selbst und seine Aufzeichnungen und muss entdecken, dass trotz seiner peniblen Dokumentation seine Bücher nicht mehr zusammenpassen. Langsam treten mehr namentlich genannte Charaktere auf, wenn auch zunächst weniger als handelnde Figuren denn als Konzepte oder reine Information, dass sie existieren.

Wo der Anfang der Geschichte eher langsam in Gang kommt und all die Fragen in Ruhe und wie nebenbei aufwirft, geht es ab der Hälfte los mit den Antworten – und das Tempo der Handlung wird gehörig angezogen. Damit beweist der Roman, dass er nicht nur atmosphärische Beschreibungen, sondern auch dichtere, handlungsreichere Szenen bietet. Ein wenig wünscht man sich dennoch, dass sich das Buch mit der Aufschlüsselung gegen Ende etwas mehr Zeit lassen würde. Bei Piranesi läuft es nach den ersten Schubsern Knall auf Fall und wobei das die letzten hundert Seiten schnell dahinschwinden lässt, hätte einiges etwas weniger explizit gesagt und stattdessen stärker erzählt werden können.

Dennoch ist die Handlung gut durchdacht, aber nicht unnötig kompliziert. Stattdessen bietet sie wie beiläufig viele Verweise und interessante Denkansätze, wenn man genauer hinschaut. Die Aufteilung in die sieben Teile ist schlüssig und hilft auch bei der Orientierung. So ist der rote Faden schnell wiederzufinden, wenn man noch einmal Lust hat, hineinzublättern. Auch das Ende selbst ist trotz seiner schnellen Herbeiführung zufriedenstellend und passt zu Geschichte, Thema und Figuren.

Schreibstil

Wie bereits im Hugo-Awards Kurzcheck zu Piranesi angemerkt wurde, besticht Clarke mit einem hohen stilistischen Niveau. Die penible Genauigkeit der Tagebücher von Piranesi und wie er die Welt um sich herum wahrnimmt, sorgt meisterhaft dafür, dass seine eigene Neugier, mehr über das Haus zu erfahren, auf uns überschwappt. So wird dafür gesorgt, dass wir jedes neue Detail über diese mysteriöse Umgebung gierig aufsaugen. Die Erzählform des Tagebuchs, oder eher wissenschaftlichen Logbuchs, eignet sich dafür perfekt – besonders, wo Piranesi selbst auf eine so gar nicht wissenschaftliche, sondern sehr liebevolle und poetische Weise erzählt. Allein durch das Schreiben selbst diskutiert Clarke damit schon den Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Liebe, oder auch Wissenschaft und Kunst, ohne dies jemals explizit im Buch sagen zu müssen.

Schade ist dabei, dass all diese anderen Aufzeichnungen, von denen Piranesi behauptet, sie gemacht zu haben, nicht auftauchen – keine Gezeitentabelle, keine Statuen-Skizzen, nicht einmal Ausschnitte von einer Karte. Hier ist es gleichzeitig ein Glück, dass so lebhaft beschrieben wird, dass man Das Haus und die Statuen so wunderbar vor sich sieht. Auch das könnte allerdings eine gewitzte Entscheidung der Autorin gewesen sein, die damit den Weltenwechsel, der so einzig in unserem Kopf passiert, kommentieren möchte. Generell lässt sich sagen, dass man trotz der einfachen Lesbarkeit des Buches doch nicht umhinkommt, die Komplexität dahinter zu bewundern.

Wenn man aus dem Lesefluss gerissen wird, dann höchstens, weil man sich schnell einen Gedanken aufschreiben wollte, der gerade angestoßen worden ist. Selten drückt Clarke den Lesenden flache Weisheiten ins Gesicht, sondern lässt sie selbst entdecken. Die Erzählung fühlt sich oft so an, als würde man sich in diesem Labyrinth von Haus befinden und es gäbe noch viel mehr darin zu entdecken, sobald man eine Weile darin gelebt habe. Das beweist auch die gute Übersetzung: Kein einziges Mal stolpert man über einen holprigen Satz, der einen die Stirn runzeln lassen würde.

Piranesis Weltenbau selbst ist jedoch sehr einfach und schnell verstanden, zumindest, solange man nicht versucht, den Überblick über die zig Räume zu behalten. Man ist am besten damit bedient, sich nur die wichtigsten zu merken – außer natürlich, man möchte sich das Bonusmaterial einer Karte selbst erstellen.

Die Autorin

Susanna Clarke, 1959 in Nottingham geboren, hat vor Piranesi nur einen einzigen Roman veröffentlicht: Ihr detailreicher Wälzer Jonathan Strange & Mr Norrell, an welchem sie beinahe zehn Jahre lang arbeitete. Dieser gewann in seinem Erscheinungsjahr 2005 den Hugo Award, sowie mehrere andere Preise, nicht nur im Fantasy-Bereich.

Eine Veröffentlichung lag noch zwischen dem genannten Debüt-Roman und Piranesi: Eine Kurzgeschichten- beziehungsweise Märchensammlung aus dem Strange-Universum namens Die Damen von Grace Adieu. Auch ihr nächstes Buch sollte wohl in ihrer bereits geschaffenen Welt angesiedelt sein. Clarke berichtete jedoch, dass sie aufgrund ihres Chronic-Fatigue-Syndroms schlussendlich zu einem ihrer früheren Projekte zurückkehrte – mit weniger Charakteren und weniger Recherche, als es das ursprünglich geplante benötigt hätte.

Erscheinungsbild

Piranesi kann mit Schutzumschlag mit einem doppelten Cover aufwarten, beide davon sind durch die dreifarbige Schlichtheit elegant gelungen. Der Hintergrund eines blauen Sternenhimmels der englischen Version wurde hier durch reine Schwärze ersetzt, und was zuvor golden war, wurde bronzefarben. Der Rest des Designs wurde beibehalten. Trotz der erwähnten Schlichtheit steckt schon das Cover voller Anspielungen: Die Schriftart ist dieselbe wie die von Le Carceri des italienischen Künstlers Piranesi (1720-1778), dessen Werk beziehungsweise Persönlichkeit offensichtlich unumstößlich mit dem Roman verbunden ist.

Die Faun-Statue (auf dem Schutzumschlag das präsenteste Element) kommt zwar auch im Buch vor, überrascht jedoch, wenn man bedenkt, dass eine andere der Statuen, der Minotaurus, bei einem Labyrinth-Buch vielleicht eher zu erwarten wäre. Dieser Fokus auf den Faun stärkt den Verweis auf Die Chroniken von Narnia, der sich an verschiedenen Stellen durch das Buch zieht. Dieses klar im Phantastik-Genre angesiedelte Wesen ordnet den Roman eindeutig im phantastischen Bereich ein und passt auch wunderbar zum Buch selbst.

Das untere Cover, welches die Buchstaben des Titels wie den Faun auf Säulen trägt, ist ebenfalls passend: Man gewinnt einen Eindruck vom Innenleben des Hauses. Die Liebe zum Detail trotz seiner Einfachheit ist erstaunlich: Die Innenseite des Covers und der Schmutztitel sind bedruckt mit den Dingen, die Piranesi zum Schmuck in seinen Haaren trägt. Es ist, als ob man sich mit dem Aufblättern Piranesi immer weiter nähern würde.

Der hintere Klappentext ist kurz, verrät aber genug, um neugierig zu machen. Die üblichen zitierten Empfehlungsschreiben darunter begrenzen sich zum Glück auf nur zwei, diese allerdings von den angesehenen Autor*innen David Mitchell (Wolkenatlas) und Madeline Miller (Ich bin Circe). Der innere Klappentext verrät etwas mehr, nimmt jedoch keinen wichtigen Inhalt vorweg. Alles in allem eine sehr gelungene Gestaltung.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Blessing Verlag
  • Autorin: Susanna Clarke
  • Erscheinungsdatum: 05.10.2020
  • Sprache: Deutsch (Aus dem Englischen übersetzt von Astrid Finke)
  • Format: Gebunden
  • Seitenanzahl: 272
  • ISBN: 978-3-89667-672-6
  • Preis: 20,00 EUR (Print) + 9,99 EUR (E-Book)
  • Bezugsquelle Fachhandel, Amazon (Deutsch und Englisch), idealo

 

Fazit

Piranesi schrammt haarscharf an der vollen Punktzahl vorbei. All das, was Clarke uns in ihrem neuen Roman bietet, ist viel zu interessant, um so schnell auserzählt zu sein. Das Setting Des Hauses steckt (wie der Roman selbst) trotz seiner Einfachheit voller Überraschungen und sprudelt nur so von Clarkes Ideen und Fantasien. Piranesi ist angenehm zu lesen und regt doch zum Nachdenken an: über das Alleine-Leben, über Identität und Psyche, über unsere eigene Welt und Fantasiewelten, über die Wahrheitssuche und Wissenschaft und über die Liebe zu der Umwelt, wie auch immer diese aussehen mag.

Besonders in der Zeit nach dem Lockdown kann man die Gefühle und Entscheidungen des Charakters Piranesi zur allzu gut nachvollziehen. Trotzdem ist dies kein ermüdendes Revival dessen, was wir selbst viel zu lange erlebt haben, sondern eine in sich selbst spannende, fantastisch-spekulative Geschichte, die besonders im zweiten Teil an Tempo anzieht – wenn auch vielleicht ein bisschen zu sehr.

Die Erzählweise des Logbuches und der damit einhergehende Stil sind dabei passend zu Roman und Thema, sind einfühlsam und anschaulich. So lässt Clarke die Lesenden ganz in Piranesis Welt eintauchen und es von vorne bis hinten genießen.

  • Vielschichtigkeit
  • Erfindungsreichtum
  • Interessanter Erzählstil
 

  • Zu abruptes Ende

 

 

Artikelbilder: © Blessing Verlag
Layout und Satz: Melanie Maria Mazur
Lektorat: Alexa Kasparek
Dieses Produkt wurde privat finanziert.

 

Über die Autorin

Ariane Siebel liebt phantastische Geschichten. Keine ist davor sicher, von ihr eingesogen zu werden, am liebsten in Buchform. Diese Liebe begleitet sie auch in akademischer Hinsicht: Sie studiert Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis mit dem Hauptfach Literatur. Wenn sie nicht liest, schreibt oder sich inmitten einer RPG-Runde befindet, beschäftigt sie sich meistens mit den restlichen kulturellen Sparten, wie Film und Theater. Am meisten begeistert sie sich für Genreüberlappungen, humorvolle Ansätze und kleine Subgenres.

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