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Drei Kleinkriminelle auf der Flucht. Ein Gemischtwarenladen, in dem die Zeit stillsteht. Ein alter Mann, der Ratschläge erteilt. Was sich anhört, als hätte es ein Magischer-Realismus-Bot ausgespuckt, ist tatsächlich eine minutiös konzipierte Zeitreisegeschichte des japanischen Autors Keigo Higaschino über die Schwierigkeit, Menschen bei Lebensentscheidungen beizustehen.

Wer kennt sie nicht, die Momente im Leben, in denen man schwerwiegende Entscheidungen treffen muss, in denen man an der sprichwörtlichen Weggabelung steht und sich wünscht, man könnte einige Kilometer weit die Straße runtersehen, bevor man seine Zukunft wählt. Die Vorstellung, dass jede Handlung zahllose unvorhersehbare Konsequenzen hat, dass wir alle in einem Geflecht aus unüberschaubaren Kausalketten gefangen sind, beschäftigt die Philosophie seit Jahrhunderten und prägt als sogenannter Schmetterlingseffekt nicht nur die Chaostheorie, sondern auch die Popkultur.

Kleine Wunder um Mitternacht, der neue Roman des japanischen Krimiautors Keigo Higashino, betrachtet das Problem aus einer anderen Perspektive, die seltener thematisiert wird, nämlich der des Ratgebers. Wozu rät man Menschen, die eine schwere Entscheidung treffen müssen? Und wenn man die Zukunft bereits kennen würde, wäre es damit wirklich leichter, eine Empfehlung auszusprechen? In einer subtilen Zeitreisegeschichte, deren magischer Realismus dem Gefüge von Raum und Zeit erlaubt, für eine Nacht ein klein wenig durchlässiger zu werden, formt Higashino aus einem einzigen phantastischen Element eine Liebeserklärung an die Kunst des Ratschlags.

Story

Als sich die Kleinkriminellen Atsuya, Shota und Kohei nach einem erfolgreichen Einbruch in einem leerstehenden Gebäude verstecken, ahnen Sie nicht, welche Auswirkungen das auf ihr Leben haben wird. Obgleich „Namiya Gemischwaren“ offensichtlich seit Jahrzehnten verlassen ist und die nächtliche Straße menschenleer, wird plötzlich ein Brief eingeworfen. Die drei Diebe merken schnell: Dieser Laden ist buchstäblich aus der Zeit gefallen. Sie vergeht hier anders als in der Außenwelt, und der Brief, in dem eine anonyme junge Frau um Rat bittet, scheint aus der Vergangenheit zu kommen. Da sie ohnehin nichts Besseres zu tun haben, beginnen sie, der Bittstellerin zu antworten – ein erster Schritt, um langsam hinter das Geheimnis des alten Ladenbesitzers Namiya zu kommen.

Dies ist nur eine von fünf Episoden, in denen Keigo Higashino seinen Leser*innen immer neue Hinweise darauf gibt, wie schicksalhaft die drei kriminellen Underdogs mit dem alten Mann verbunden sind, der er sich irgendwann zur Aufgabe gemacht hatte, zum Kummerkasten seines Stadtviertels zu werden. Dabei begegnen einem immer mehr Menschen, die Herrn Namiya (oder dessen drei unfreiwillige Nachfolger) um Entscheidungshilfe gebeten haben. Ein erfolgloser Musiker fragt, ob er seinen Traum aufgeben und den Laden seines Vaters übernehmen soll. Eine unverheiratete Frau erwägt, ihr Kind abzutreiben. Ein Jugendlicher möchte nicht in den Korruptionsskandal seiner Eltern verwickelt werden. Sie alle wissen nicht weiter und brauchen jemanden, der ihnen zeigt, was sie eigentlich wollen, was „das Richtige“ ist und wie diese beiden Dinge in Einklang zu bringen sind.

Was der alte Herr Namiya wohl wusste und auch die drei Diebe schnell merken werden, ist, wie viele unterschiedliche Funktionen ein Ratschlag erfüllen kann. Oft geht es weniger darum, der Person den richtigen Weg zu weisen, als darum, ihr zu helfen, sich selbst besser zu verstehen. So hilft es den dreien – sehr zu ihrem Verdruss – kaum, dass sie auf ihren Smartphones die Zukunft der Fragenden einfach googeln können, denn deren Entscheidungen werden von allen möglichen Faktoren beeinflusst. Hier liegt auch der Schlüssel zu Higashinos Erzählkunst: Die Tatsache, dass die Zukunft bereits feststeht, vermittelt nie den Eindruck einer deterministischen Weltsicht, welche jeder Vorstellung von freiem Willen zuwiderläuft. Es besteht kein Zweifel, dass jede Figur sich spontan und aus eigener Kraft entscheidet und umentscheidet, doch die Gesamtheit aller Entscheidungen bildet dank des kleinen Risses in der Zeit ein harmonisches Ganzes.

Zeitreisegeschichten, in denen es nur ein feststehendes Kontinuum von Ereignissen gibt, stehen und fallen meist damit, wie geschickt die Ereignisse ineinandergreifen, wenn sich nach und nach das Gesamtbild offenbart. Damit sind sie wie Kriminalgeschichten, nur ohne Verbrechen, bei denen man selbst ermittelt und versucht, die Zusammenhänge zu verstehen. Insofern ist es vielleicht kein Wunder, dass Higashino hier auf verschlungenen Pfaden einen Ausflug ins Phantastikgenre wagt – und der letzte Kunstgriff, mit dem er alles wieder zusammenführt, ist dann auch ausgesprochen befriedigend.

Schreibstil

So schwerwiegend die Themen und so komplex die verschiedenen Handlungsstränge, die der Autor zusammenlaufen lässt, so einfach bleibt dann doch die Sprache: Kleine Wunder um Mitternacht ist in einfacher, erbaulicher Sprache gehalten, die das Gewicht der im Buch getroffenen Entscheidungen beinahe vergessen lässt. Das macht den Roman natürlich außerordentlich zugänglich, geht aber durchaus auf Kosten seiner emotionalen Nachwirkung. Auf dem Umschlag beworben als „ein Roman, der einfach glücklich macht“, besteht kein Zweifel daran, dass alles, auch die Sprache, auf den größtmöglichen Feel-Good-Faktor ausgelegt ist. Freude und Leid wechseln einander in den richtigen Dosen ab, auf jede traurige Episode folgt eine harmlosere – eine Formel wie in einem Hollywoodfilm.

Dies bildet einen beinahe merkwürdigen Kontrast zu dem unverschämt klugen und bis ins Detail durchgeplanten Plot sowie zu den Grundfragen, die der Roman anreißt. Wer sich vom sachten Dahinplätschern der dialoglastigen Erzählung einlullen lässt, verpasst zudem die Hinweise auf die Auflösung des Rätsels um „Namiya Gemischtwaren“, die überall im Text verstreut sind.

Das könnte allerdings auch mit Übersetzerin Astrid Finke zusammenhängen, die ansonsten Bücher von Autor*innen wie Nicholas Sparks übersetzt. Es findet sich kein Hinweis darauf, dass der Roman direkt aus dem Japanischen übersetzt ist. Vielmehr scheint die Übersetzung auf der englischen Fassung von Sam Bett zu basieren. Wie viel bei einer solchen Doppelübersetzung auf der Strecke bleibt, ist natürlich unklar, aber man fragt sich unwillkürlich doch, wie eine Übersetzung von Ursula Gräfe ausgesehen hätte, die neben ihren Murakami-Übersetzungen tatsächlich auch mehrere Krimis Higashinos aus dem Japanischen ins Deutsche übertragen hat.

Der Autor

Keigo Higashino wurde 1958 in Osaka geboren. Er entwickelte bereits früh ein Interesse an Kriminalliteratur und verfasste seine ersten Romane neben seiner Tätigkeit als Ingenieur. Nach zahlreichen Romanen und ersten Literaturpreisen gelang ihm 1998 mit dem in Deutschland unveröffentlichten Titel Himitsu endgültig der Durchbruch. Zu internationaler Bekanntheit gelangte er vor allem mit der Physikprofessor-Yukawa-Reihe über einen Wissenschaftler, der die Polizei bei Fällen unterstützt. Keigo Higashino ist verheiratet und lebt heute zurückgezogen in Tokyo.

Erscheinungsbild

Die qualitativ hochwertige gebundene Ausgabe mit Lesebändchen glänzt mit ästhetisch ansprechender Umschlaggestaltung und einem zarten Kirschblütenmotiv, das so hübsch ist, dass man das Klischee dahinter beinahe übersieht. Mit dem Inhalt hat das Design wohlbemerkt nichts zu tun, es verweist lediglich auf das Herkunftsland und schlägt ein weiteres Mal in die Feel-Good-Kerbe, die die Vermarktung des Romans bestimmt. Das ist besonders schade, da das japanische Originalcover wunderschön gestaltet und das englische Cover diesem zumindest nachempfunden ist. Deutsche Verlage und Getty Images: eine Liebesgeschichte, die besser mal an ihr Ende gelangen sollte.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Limes-Verlag
  • Autor*in(nen): Keigo Higashino
  • Erscheinungsdatum: 13. April 2021
  • Sprache: Deutsch (übersetzt von Astrid Finke)
  • Format: gebunden
  • Seitenanzahl: 414
  • ISBN: 978-3-8090-2710-2
  • Preis: 20,00 EUR
  • Bezugsquelle Fachhandel, Amazon, idealo

 

Fazit

Kleine Wunder um Mitternacht wird als ein Buch beworben, nach dessen Lektüre man sich gut fühlt, doch tatsächlich gestaltet sich die minimalistische Zeitreise, in der auf Zettel geschriebene Botschaften zwischen Vergangenheit und Zukunft hin und her reisen können, recht zwiespältig. In verschiedenen Episoden versucht eine Gruppe Kleinkrimineller in einem verwunschenen Gemischtwarenladen, Menschen aus der Vergangenheit bei Entscheidungen zu helfen, und dabei knobelt man selbst so lange an der Frage herum, was es mit dem Geschäft auf sich hat, bis am Ende alles Sinn ergibt. Leider setzt der Roman mitunter so sehr auf den Feel-Good-Aspekt, dass die Tragweite von Entscheidungen allzu sehr aus dem Blick gerät. Dies kann durchaus auch der Übersetzung geschuldet sein, denn der Krimiautor Keigo Higashino beweist durchaus ein Gespür für Tragik und vermeidet dabei jeglichen Pathos.

Gemäß der Plattitüde „Jede Entscheidung ist ein Massenmord an Möglichkeiten“ ist der Roman letztlich nicht so sehr ein Aufruf, sich zu entscheiden, sondern eine Liebeserklärung an alle, denen die verantwortungsvolle Aufgabe zukommt, Menschen bei ihren Entscheidungen zur Seite zu stehen. Denn das ist, wie der alte Namiya seinem Sohn irgendwo in der Vergangenheit erklärt, Schwerstarbeit. So beruhigend es auch sein mag, dass dank eines einzigen magischen Eingriffs am Ende alle Entscheidungen der Figuren wenn schon nicht zum Glück, so doch zumindest zur besten aller möglichen Welten führen, so beunruhigend ist das Bewusstsein, mit dem man nach der Lektüre zu seinen eigenen Entscheidungen zurückkehrt. Denn am Ende entlässt Higashino seine*n Leser*in in die Freiheit, und die ist bekanntlich immer ein wenig beängstigend.

 

  • geschickter Plotaufbau
  • Ratschläge geben als schwierige Aufgabe
  • Feel-good (wenn man’s mag)
 

  • im Ton manchmal etwas zu seicht
  • vermutlich indirekte Übersetzung
  • Feel-good (wenn man’s nicht mag)

 

Artikelbilder: © Limes-Verlag
Layout und Satz: Annika Lewin
Lektorat: Simon Burandt

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