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Manchmal haben Spielende das Gefühl, am Ende der Geschichte angekommen zu sein, dem Charakterkonzept alles gegeben zu haben – gerade beim einstigen Erstcharakter. Ist dann der Charaktertod die beste Lösung? Oder steckt in lange bespielten Charakteren nicht doch noch mehr Leben als gedacht?

Wer in den Neunzigerjahren oder frühen Zweitausendern angefangen hat, Liverollenspiel zu spielen, kommt spätestens jetzt an den Punkt, dass sich vielleicht manchmal eine gewisse Müdigkeit einstellt und das Wort „Altlarper“ fällt. Und auch wer noch nicht ganz so lange dabei ist, aber diese eine Herzensrolle von Anfang an gespielt hat, merkt irgendwann, dass es nicht mehr so ganz wie früher ist, wenn man in die Gewandung schlüpft.

Ein Plot nimmt einen nicht mehr so mit, ein Ruf zu den Waffen wird mit sehr viel mehr Ruhe aufgenommen als noch vor ein paar Jahren. Spielende werden entspannter, kennen aber auch ihre eigenen Grenzen besser und sind trotzdem noch immer mit Leidenschaft dabei. Aber auch Charaktere werden älter – und irgendwann stellt sich vielleicht das Gefühl ein, dass da nicht mehr viel kommt und es Zeit sein könnte, den Charakter loszulassen.

So viel mehr als Punkte sammeln

Am Anfang war das Abenteuer. Dauernd.

Egal, wie lange Liverollenspielende schon in ihrem Hobby aktiv sind, alle erinnern sich an ihre Anfänge. Für einige ist das schon eine Weile länger her und viele Dinge haben sich seitdem weiterentwickelt und verändert.

Die Community ist größer, die Hintergründe sind komplizierter geworden und manches Mal kann sich das Gefühl einstellen, dass, wer nicht von Anfang an dabei war, nur schwer den Einstieg findet.

Dasselbe gilt für lange, manchmal seit Jahrzehnten bespielte Charakterkonzepte, die in der Zeit, die sie existieren, nicht nur viel Erfahrung sammeln konnten. Auch Freundschaften, Feindschaften und regelrechte Karrieren sammeln sich in einem aktiven Larperleben, bis eine Rolle so viel mehr ist als eine Freizeit-Persona. Charaktere werden zu geliebten Begleiter*innen, man kennt sich, weiß zu jeder Zeit, wie die Rolle jetzt reagieren und die erworbenen Fähigkeiten einsetzen würde.

Fähigkeiten, die über die Zeit erspielt, erworben und eingeübt, für die ganze Bücher geschrieben, Requisiten gebastelt und eigene Hintergründe erarbeitet wurden. Liverollenspielende erleben über die Jahre ihre eigene Held*innengeschichte.

Charaktergeschichten nehmen den Umfang eines Fantasyromans an, und spielen sich ab wie ein zugegeben recht langwieriger Film. Gäbe es Zuschauende oder Lesende, würden diese möglicherweise nach der wiederholten Rettung einer Welt, der nächsten großen Schlacht und der gelösten Queste mit dem Abspann rechnen.

Die Geschichte ist erzählt – oder?

Nur gibt es im Liverollenspiel keinen Abspann – und manchmal nicht mal ein Happy End. Meistens gibt es nämlich schlicht kein Ende. Geschichten, Hintergründe und Kampagnen werden weitererzählt, weil auch immer neue Spieler*innen und mit ihnen neue Charaktere dazukommen. Der eigene Charakter besucht verschiedene Welten, ist in verschiedensten Plots zuhause.

Veranstalter*innen und Spielende treffen immer wieder aufeinander und kennen sich oft so gut, dass auch mal der eine oder andere persönliche Plot Platz findet, gerade abseits der Großcons.

Wer schon lange dabei ist, findet sich dann vielleicht seltener in neuen Spielsituationen wieder, erfüllt immer wieder dieselben Aufgaben im Haupt-Plot. Das liegt dann nicht etwa an mangelndem Einfallsreichtum seitens der Plot-SL – es ergibt sich einfach.

Wer seit Jahren einen bekannten Magus spielt, wird eher früher als später das benötigte Ritual unter seine Fittiche nehmen und wer schon immer das eine oder andere Lazarett geleitet hat, wird diese Position auch immer wieder angetragen bekommen. Schließlich blicken diese Spielenden und ihre Charaktere auf lange Erfahrung zurück und werden oft auch dementsprechend behandelt.

Spielspaß: Keine Frage des Alter(n)s
Spielspaß: Keine Frage des Alter(n)s

Das ist ein großes Kompliment – kann aber auch das Gefühl erzeugen, dass die großen Momente vorbei sind und der Charakter langsam zum Ambiente für andere wird. Man hat einfach alles schon mal gesehen. An mancher Stelle kommt hier der Rat, die Rolle mit dem sprichwörtlichen großen Knall abzuschließen, den – im besten Fall epischen – Charaktertod zu sterben. Wenn es scheinbar nichts mehr zu erleben und entdecken gibt, noch einmal alles zu geben, um dann zu Gast auf der eigenen Beerdigung zu sein. Denn schließlich ist das doch das emotionale Finale, der große Abschied. Aber ist das wirklich die einzige Möglichkeit?

Was können Spielende tun, wenn es nicht mehr so voran geht und der Charakter einfach „angekommen“ scheint, das Ableben aber nicht das Mittel der Wahl sein soll? Was tun, um sich, wenn man alles kann, alles gesehen hat, wieder neue Ziele zu stecken?

Denn getötet ist der Charakter schnell. Wiederbelebung dagegen braucht manchmal viel Liebe und ein paar Tricks.

Perspektivwechsel

Wer sich selbst nach langen Jahren, manchmal Jahrzehnten, nicht vom liebevoll bespielten (Haupt-)Charakter trennen möchte, macht oft erstmal Pause. Sei es nur vom Charakter oder vom Liverollenspiel allgemein, einmal in ein anderes Genre schnuppern oder eine andere Rolle bespielen. Das gibt Gelegenheit, durchzuatmen, und mit etwas Abstand einen neuen Blick auf das eigene Spiel zu werfen. Glücklicherweise haben die meisten mindestens einen Zweit- wenn nicht Dritt-  oder Viertcharakter, wenn sie nicht gleich zu den Sammlern gehören.

Und selbst ein ganz neuer, oder One-Shot-Charakter kann ein gutes Hilfsmittel sein, herauszufinden, welche Möglichkeiten es für den alten Charakter noch gibt. So kann es Spaß machen und Druck rausnehmen, mit dem neuen Charakter auf eine Veranstaltung der eigenen Stamm-Orga zu kommen, und sich einmal ein „Feedback in Abwesenheit“ zu holen. Wer übernimmt die eigene angestammte Position, wenn der Charakter nicht verfügbar ist? Denn gerade in kleinen, vertrauten Spielgruppen kann manchmal ein Gefühl der Unentbehrlichkeit entstehen. Sieht man aber, dass es auch ohne den eigenen Stammcharakter läuft, ist viel mehr Raum für neue Perspektiven. Es kann sogar spannend sein, eine Rolle zu spielen, die der eigenen sonst entgegensteht, und so einmal den Blickwinkel der „Gegenseite“ einnehmen.

Und, ja, es gibt auch Gelegenheit für unaufdringliches Komplimente-Fischen. Denn wer sieht, dass die Abwesenheit des eigenen Charakters auffällt, wird sich vielleicht auch wieder mehr wertgeschätzt fühlen.

Raus aus der Wohlfühlzone

Gerade viele ältere Charaktere sind noch nach klassischen Systemen und Hintergründen entwickelt worden. Der Rahmen der gewählten Rasse, Klasse und Profession ist damit enger gesteckt als heute, wo allein die Auswahl an Hintergründen und verschiedensten Rollen so viel größer ist als in den Anfängen des (Live)Rollenspiels. Auch die erzählten Geschichten sind heute andere und damit auch die Auswirkungen auf Charaktere und Spielende.

Aber niemand sagt, dass das so bleiben muss und dass nicht auch ein Charakter aus einem Plot-getriebenen System sich auf ein bisschen Selbstfindung begeben darf.

Denn wer alles erreicht hat, kann sich neue Ziele setzen. Sei es, indem die Ausrüstung und Gewandung von Grund auf erneuert wird, oder ein Überdenken der Ausrichtung der Rolle. Warum sollte nicht ein Großmeister noch einmal in die Lehre gehen und zum Beispiel ein ganz neues Fachgebiet beginnen. Wie geht eine Profi-Priesterin damit um, wenn sie sich zum Ziel setzt, sich ins Druidentum einzuarbeiten.

Es ist klar, dass ein Charakterkonzept aus einem bestimmten Grund erstellt wird, und dieses erkunden und ausloten soll.

Es spricht aber nichts dagegen, sich auch einmal artverwandte, oder sogar entgegengesetzte Wege anzuschauen und auszuprobieren, um dem Charakter wie auch dem*der Spielenden neue Erfahrungen zu bescheren. So mag sogar eine Richtung eingeschlagen werden, die so nie beabsichtigt war und die der Rolle unerwartete Facetten hinzufügt.

Die Spielenden entwickeln sich weiter und das darf auch einem Rollenspielcharakter zustehen.

Für unbescholtene Neulinge ist es nie empfehlenswert, von Anfang an Meister*in auf vielen Gebieten sein zu wollen. Wer aber seine Rolle seit Jahren spielt, darf sich das schon trauen. Das tut der Glaubwürdigkeit keinen Abbruch, es steigert sie womöglich sogar.

Er lohnt sich, der Blick über den Tellerrand!
Er lohnt sich, der Blick über den Tellerrand!

Auf zu neuen Ufern

All das sind Möglichkeiten, an einem lange bespielten Charakterkonzept festzuhalten und es vielleicht noch einmal neu zu beleben.

Dabei lassen sich neue Facetten an der Rolle, aber auch an uns selbst entdecken. Sie bieten dabei auch einen Ansatz, sich sanfter mit einem möglichen Abschied zu befassen, als es ein Charaktertod erlaubt.

Ist ein neuer Weg erst einmal eingeschlagen, kann in Ruhe über das weitere Vorgehen nachgedacht werden. Möglicherweise gibt einer der genannten Ansätze noch mal genau den Schub, der nötig ist, um wieder ein Gefühl für Abenteuer und eine Begeisterung für Neues mit dem Charakter zu entwickeln.

Manchmal kann es aber auch sein, dass es einfach nicht reicht. Dass der*die Spielende so einfach nur die Zeit bekommt, den Charakter in Ruhe gehen zu lassen und zu überlegen, wie der*die Begleiter*in nach so langer Zeit in den Ruhestand gehen soll.

Vielleicht zieht der Charakter sich zurück, um zu unterrichten und das neue und alte Wissen weiterzugeben oder er*sie besteigt ein Schiff ins Unbekannte. Und bekommt damit die Chance, irgendwann möglicherweise doch noch einmal zurückzukommen, um von den in der Fremde erlebten Abenteuern zu erzählen.

Artikelbilder/Fotografien: © DrachenFest UG & Co KG / Nabil Hanano
Layout und Satz: Roger Lewin
Lektorat: Denise Hollas

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