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Das deutsche Detektivrollenspiel Private Eye, das sich der reinen Detektivarbeit im spätviktorianischen London ohne jeglichen Horrormythos oder andere Fantastik widmet, erschien ursprünglich zwischen 1988 und 1993 in drei Editionen. Nach fünfzehnjähriger Pause nahm sich 2008 die Redaktion Phantastik dieses Systems an und produzierte neben dem dicken Grundregelwerk der aktuellen vierten Edition auch bereits diverse Abenteuerbände. Da der englische Titel des Spiels diverse Kunden glauben macht, es handle sich um die Übersetzung eines ausländischen Produkts, gibt es seit Herbst 2013 auch eine englische Fassung.

Private Eye ist nur als Printprodukt erhältlich und so basiert diese Rezension auf der Hardcover-Fassung des Grundregelwerks.

Inhalt

Mit insgesamt fünf Kapiteln umfasst das Grundregelwerk von Private Eye die drei üblichen Teile, die man von einem solchen Band erwartet: Die Spielregeln, Hintergrundmaterial sowie ein einleitendes Abenteuer.

Die Regeln

Private Eye liefert zwar sein eigenes Regelsystem mit, allerdings fällt dieses mit unter dreißig Seiten eher frugal aus. Die Werte für sechs Attribute (Stärke, Geschicklichkeit, Konstitution, Intelligenz, Aussehen und Bildung) werden mit je einem W100 ausgewürfelt, wobei eine Gesamtsumme von mindestens zweihundertfünfzig vorhanden sein sollte. Anschließend würfelt man – Intelligenz und Bildung geben Boni – mehrere W10, um deren Summe auf diverse Fertigkeiten wie Psychologie, Verhören oder Stadtkenntnis zu verteilen, die dabei bereits über einen Grundwert zwischen fünf und zwanzig verfügen.

Bei der Berufswahl ist das System offener: So werden diverse Professionen vom Versicherungsdetektiv, Geheimpolizisten oder Gerichtsmediziner bis zum Butler oder der Gesellschafterin aufgeführt. Bei der Auswahl gelten keine wertmäßigen Beschränkungen und die Spieler werden auch auf die Vorteile eines guten Ensembles wie Adliger und Butler hingewiesen.

Proben werden mit einem W100 abgelegt, wobei der passende Fertigkeitswert nicht überwürfelt werden darf. Ein Kampfsystem ist – gekennzeichnet als Expertenregel – zwar enthalten, es wird aber grundsätzlich von Kämpfen in einem Detektivrollenspiel abgeraten. Zuletzt werden Aufstiege erklärt, bei denen man bei Erhalt ausreichender Erfahrungspunkte weitere W10 für die Steigerung der Fertigkeiten werfen darf.

Die Regeln können die Nähe zu Call of Cthulhu und Basic Roleplaying – einem der Urväter detektivischen Rollenspiels – nicht leugnen und betreten lediglich altbekannte Pfade. Allerdings geben sowohl die Autoren als auch die Herausgeberinnen auf Nachfrage offen zu, dass das Grundbuch der Vollständigkeit halber ein nutzbares System beinhalten soll, das aber nach eigenem Gusto auch gerne durch ein anderes ersetzt werden darf. So enthält der Regelteil dann auch einen letzten Passus, der gezielt auf die Eignung von Private-Eye-Abenteuern für Systeme mit fantastischerem Einschlag wie etwa Cthulhu by Gaslight, Midgard 1889, Castle Falkenstein oder Victoriana hinweist.

Ein Abschnitt mit Erläuterungen für den Spielleiter, wie man Detektivabenteuer angehen sollte, fehlt gänzlich. Zwar liefert das Einführungsabenteuer im letzten Kapitel des Buchs (s. u.) durch gut strukturierte Informationen und eingestreute Tipps eine Vorstellung von den Möglichkeiten im Detektivrollenspiel, dennoch hätte ich mir schon ein paar konkrete Tipps im Regelkapitel gewünscht. Allerdings hat die Redaktion Phantastik eine derartige Hilfe stattdessen als Teil des limitierten Spielleiterschirms veröffentlicht.

Der Hintergrund

Dafür vermag der umfangreiche Hintergrundteil wesentlich mehr zu überzeugen. Das erste von drei Kapiteln widmet sich ausführlich dem Leben eines Londoner Detektivs des späten viktorianischen Zeitalters um 1890. Kaum ein Detail wird ausgelassen: Das Selbstbewusstsein als weltumspannendes Empire, Post- und Verkehrswesen, Orden und Gesellschaften, der Lebenswandel der sozialen Schichten, die Rolle der Frau, sogar Mode und Freizeitbeschäftigungen werden besprochen.

Schon diese ausführlichen Seiten beeindrucken und vermitteln inspirierendes Material, das sich auch für andere Rollenspiele in dieser Epoche hervorragend eignet.

Das Stadtlexikon

Der Metropole London des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist ein eigenes Kapitel gewidmet, in dem ausführlich die einzelnen Stadtteile beschrieben werden. Berühmte Orte wie Scotland Yard, die Nationalgalerie oder das Britische Museum erhalten ihre eigenen Einträge, die durch Grundrisse ergänzt werden. Besonderes Schmankerl sind kurze Infokästen über Londoner Merkwürdigkeiten – wie etwa das Haus, das laut Grundbuch gar nicht existiert oder das Denkmal für das erste öffentliche Tragen eines Regenschirms. Wichtige Adressen, ein historischer Abriss und kurze Passagen über berühmte Zeitgenossen wie etwa Charles Darwin, H.G. Wells oder natürlich Königin Victoria komplettieren das Kapitel.

Auch dieser Abschnitt – vor allem die besonderen Schrullen der Londoner – eignet sich hervorragend systemübergreifend für viktorianisches Rollenspiel.

Kriminalistik

Das dritte Hintergrundkapitel widmet sich schließlich explizit der Arbeit von Polizei und Detektiven. Auch hier erfährt der Leser eine Vielzahl an Details über die Historie der Ermittlungsarbeit und den Wissensstand im späten 19. Jahrhundert. Erläutert das Kapitel zunächst die Geschichte der Erfassung von Straftätern von ihren Anfängen um 1810 in Paris bis hin zu neuesten Entdeckungen wie den Fingerabdrücken, so folgt ein ausführlicher Exkurs über verschiedene Todesursachen wie Erschießen oder Vergiften. Auch die Spurenkunde kommt nicht zu kurz, wurden doch in dieser Epoche erste Methoden entwickelt, um etwa Blutflecken von Menschen und Tieren zu unterscheiden. Schließlich erfahren noch die Möglichkeiten zur Recherche und diverse Tatwerkzeuge eine ausführliche Betrachtung; den Abschluss bilden dann eine Ausführung über Recht, Gesetz und das Polizeiwesen sowie berühmte Kriminalfälle.

Das Kapitel „Kriminalistik“ ist mein persönlicher Höhepunkt des Buches. Neben der schieren Detailfülle erweist sich die Vielzahl von Möglichkeiten, mit der die Detektive eine Straftat untersuchen können, als umfassende Inspirationsquelle für mögliche selbstgeschriebene Fälle. Auch ist gerade aus unserer modernen Sicht interessant, wie viele heutzutage selbstverständliche Methoden damals noch in den Kinderschuhen steckten und nur mit Mühe von den Gerichten anerkannt wurden – vielleicht haben ja auch die Spieler beim Finale eines Abenteuers Schwierigkeiten, einen Richter von der Aussagekraft eines Fingerabdrucks zu überzeugen?

Das Beispielabenteuer

Das Einführungsszenario „Familienglück“ fällt mit fast vierzig Seiten überraschend umfangreich aus. Vor dem Hintergrund der London Pub Wars stoßen die Detektive in der Kneipe The King’s Head auf drei Handlungsstränge, deren Geheimnisse enthüllt werden können:

Spoiler

Den Witwer Evander Dotts plagen Geldsorgen, wirft sein Pub doch kaum noch genug ab, um sich und seine beiden Töchter zu ernähren. Da kommt ihm das Angebot des seriös scheinenden Peter Tayland gerade recht, der die Kneipe in Wahrheit aber nur zu einem späteren Zeitpunkt gewinnbringend wieder verkaufen will. Tayland bedient sich zudem eines der Angestellten des King’s Head, der heimlich in die eigene Tasche wirtschaftet und Dotts finanzielle Sorgen noch verschärft.

Zu allem Überfluss ist der unglückliche Familienvater noch einer Heiratsschwindlerin aufgesessen, die ihren Verehrer um sein gar nicht mehr vorhandenes Vermögen erleichtern will. Zuletzt ist seine jüngste Tochter mit ihrem Liebhaber durchgebrannt, was der windige Angestellte als Entführung darstellt, um sich mit einem Erpresserbrief noch mehr zu bereichern.

[Einklappen]

Auch dieses Kapitel strotzt vor Details: Nach möglichen Einstiegen der Spielercharaktere in das Szenario werden Vorgeschichte, Lokalitäten, Spuren und NSC sorgfältig vorgestellt. Daran schließt sich die eigentliche Handlung in drei Akten an, die ich mir für einen besseren Überblick allerdings gerne in kurzer Zusammenfassung in der Einleitung des Szenarios gewünscht hätte. Zahlreiche Handouts schließen das Kapitel ab.

„Familienglück“ demonstriert vorzüglich, wie aus einer auf den ersten Blick schlichten Familientragödie ein spannendes Detektivabenteuer werden kann, das die mythischen und übernatürlichen Elemente anderer Rollenspiele gar nicht nötig hat. Bemerkenswert ist, mit wie wenigen spielmechanischen Informationen „Familienglück“ aufwartet – bis auf kurze Hinweise für die Vergabe von Erfahrungspunkten, einige kurze Grundwerte für die diversen NSC und kleine Infokästen für spezielle Regelsituationen ist das Abenteuer fast schon systemneutral.

Preis-/Leistungsverhältnis

Mit knapp vierzig Euro liegt Private Eye in der gleichen Preiskategorie wie andere Grundregelwerke vergleichbaren Formats und Umfangs.

Erscheinungsbild

Private Eye CoverIst das stimmungsvolle Titelbild von Manfred Escher noch farbig gehalten, bleibt das Innenleben des Hardcovers in Schwarz-Weiß. Der zweispaltige Text ist sehr übersichtlich gesetzt und durch zahlreiche zeitgenössische Fotos, Werbeanzeigen und Karten aufgelockert, von denen einige allerdings sichtbar im Netz recherchiert wurden und verwaschene JPG-Artefakte aufweisen. Auch die Seitenrandillustration mit diversen Detektivutensilien gefällt, allerdings überlappt diese mit der äußeren Textspalte, was den Lesefluss mitunter behindert. Diese kleinen Schnitzer schmälern den positiven Gesamteindruck jedoch nur wenig. Das Abenteuer ist zusätzlich mit einigen ansehnlichen Portraits und Grundrissen aus der Feder von Sabine Weiss illustriert.

Die Strukturierung des Bandes ist vorbildlich: Die fünf Hauptteile – Regeln, Hintergrund und Beispielabenteuer – verfügen zusätzlich zum Gesamtverzeichnis am Buchbeginn über ein eigenes Inhaltsverzeichnis zu Kapitelbeginn. Ein umfangreicher Anhang mit Charakterblättern, Kurz- und Konvertierungsregeln sowie Preislisten schließt den Band ab. Ein Index fehlt, das ist wegen der umfangreichen Verzeichnisse aber zu verschmerzen. Als besonderes Schmankerl liegt zusätzlich noch eine farbige A1-Faltkarte der Metropole London im Jahr 1895 bei, die bei der Redaktion Phantastik auch separat erhältlich ist.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Redaktion Phantastik
  • Autor(en): Thilo Bayer, Jan Christoph Steines, Ulrike Pelchen, Sylvia Schlüter
  • Erscheinungsjahr: 2008
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Hardcover
  • Seitenanzahl: 256 s/w
  • ISBN: 978-3-00-025694-3
  • Preis: 37,90 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon, Sphärenmeisters Spiele

 

Bonus/Downloadcontent

Auf der Downloadseite der Redaktion Phantastik findet man neben den Charakterblättern diverse Szenarien, Kurzabenteuer und Grundrisse im PDF-Format. Neugierigen sei besonders Das Londoner Halstuch ans Herz gelegt, das neben Kurzregeln einen kleinen Kriminalfall samt vorgefertigten Charakteren umfasst.

Fazit

Die eigentlichen Regeln von Private Eye mögen zwar altbacken und wenig originell sein, dafür trumpft das Grundregelwerk mit einer hervorragenden Fülle von Hintergrunddetails auf. Die zahllosen Details über England und London um 1890 zusammen mit dem ausgezeichneten Kapitel über die Arbeit eines Kriminologen suchen auch unter vergleichbaren Rollenspielen ihresgleichen.

Selbst wenn man kein Interesse für das strikt historische Szenario aufbringt, wie es etwa das enthaltene Abenteuer demonstriert, so lohnt sich die Lektüre als Quellenbuch doch für jede Gruppe, die Interesse am Detektivrollenspiel oder dem spätviktorianischen London hat.  

Daumen4Maennlich

 

Artikelbilder: Redaktion Phantastik

 

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