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Microscope von Ben Robbins ist ein Spiel für zwei bis fünf Personen, in dem Zivilisationen erschaffen, aber auch wieder zerstört werden können. Im Vordergrund steht das Erstellen eines Settings, das hier um eine potenziell gewaltige Zeitkomponente erweitert wurde. Rollenspiel findet als ein Teil des Spiels statt.

Es gibt keine Spielleitung, die Mitspieler erschaffen zusammen die Themen, historischen Zeitpunkte und Details für die von ihnen kreierte Spielwelt. Zwischen diesen erdachten Zeitpunkten können Tage, Wochen oder sogar Jahrtausende liegen. Ausgehend von den Fixpunkten zoomen die Spieler dann hinein und können die erstellten Details mit frei definierten Charakteren ausspielen. Dabei läuft die Zeit keineswegs linear ab, es wird hin und zurück gesprungen, wie es beliebt.

Die Regeln

Das Regelwerk ist als Schritt-für-Schritt-Anleitung aufgebaut, dessen Texte während des Spiels laut vorgelesen werden können. Am Ende des Bandes gibt es eine Kurzübersicht, die den Spielablauf noch einmal zusammenfasst. Zur besseren Visualisierung der „Zeitleiste“ empfiehlt Robbins die Verwendung von Karteikarten, man kann aber auch online mit Hilfe einer kartenbasierten Webapp wie gingko oder der iOS-App Microscope Journal spielen.

Erst in der Gruppe, dann jeder für sich

Zu Beginn gibt es eine Gruppenphase, in der die Mitspieler gemeinsam die Basis für den weiteren Verlauf festlegen. Sie fassen dabei einfach in einem kurzen Satz grob zusammen, worum es gehen soll. Nicht jeder Spieler mag dieselben Themen, deshalb wird gemeinsam eine sogenannte „Palette“ erstellt, eine Liste von Elementen, die gewünscht oder unerwünscht sind.

Nach der Gruppenphase geht das eigentliche Spiel los, in der die Mitspieler nacheinander festlegen, welcher Teil der Geschichte im Fokus stehen soll. Abwechselnd erschafft jeder daraufhin eine Zeitperiode, ein Ereignis oder eine Szene, die mit dem aktuellen Fokus in Verbindung stehen muss. Deren Atmosphäre kann entweder positiv oder negativ sein. Durch den gesetzten Schwerpunkt hat der jeweilige Spieler viel Macht, die Richtung des Spiels kurzzeitig, aber nachhaltig, stark zu beeinflussen. In Szenen gibt ein Spieler entweder das Ergebnis vor oder setzt einen Rahmen, in dem er und die anderen sich frei bewegen.

Viel Macht ohne Verantwortung

Robbins besteht darauf, dass nichts Microscope schneller kaputtmache, als das Spielen per Gruppenkonsens. Das bedeutet, dass man sich nach der Gruppenphase nicht gegenseitig beim Ideenfinden helfen soll. Das schafft eine „Spotlight“-Situation, die ziemlich unangenehm sein kann, wenn man sonst Hilfe oder Anregungen gewohnt ist. Robbins ist aber sicher, dass sich das Spiel durch diese Regel interessanter und überraschender gestaltet. „Mit viel Macht geht viel Verantwortung einher“ ist ein Satz, der auf Microscope nicht zutrifft, denn man kann wirklich alles tun, ohne negative Konsequenzen fürchten zu müssen.

Charaktererstellung

Eine vordefinierte Charaktererstellung gibt es nicht, da sie einfach nicht notwendig ist. Die Spieler erstellen für Szenen erzählerisch Figuren, die sie untereinander verteilen und ausspielen.

Preis-/Leistungsverhältnis

Die PDF-Datei liegt mit 9,99 USD in einem Bereich, den ich prinzipiell für angemessen halte. Macht man sich deutlich, dass das Spiel die Erschaffung ganzer Zivilisationen ermöglicht, also einen hohen Wiederspielwert enthält und auch für andere Rollenspiele genutzt werden kann, ist der Preis sogar vergleichsweise günstig, finde ich.

Erscheinungsbild

kurzcheck-microscope_cover-regelwerkDie 81 Seiten des Regelwerks sind sachlich, klar und minimalistisch gestaltet, wie ich es bei einem Spiel, das kein vorgefertigtes Setting mitbringt, erwarten würde. Die moderne Schriftart unterstützt die Universalität Microscopes und ist auch für Brillenträger angenehm lesbar. Das PDF enthält verschachtelte Lesezeichen, die als Inhaltsverzeichnis genutzt werden können.

Die harten Fakten:

 

Bonus/Downloadcontent

Ist nicht vorhanden.

Fazit

Microscope ist eine Art Rollenspiel, in dem die Spieler, ohne Spielleitung, ganze Kulturen und Zivilisationen erstellen und zerstören können. Rollenspiel ist zwar Teil des Ganzen, steht aber meiner Meinung nach nicht im Mittelpunkt; diese Stellung gebührt eindeutig der Entwicklung der Spielwelt. Nach einem festen Ablauf fügen die Spieler der Geschichte Details hinzu und spielen diese gegebenenfalls aus.

Ich habe einen Oneshot gespielt, in dem wir ein steampunkiges, dystopisches Dark-Fantasy-Setting mit einer Prise „Singularität“ erschufen, was gut funktionierte, für mich allerdings ein wenig Brettspielcharakter hatte.

Wer auf das Erstellen von Settings steht und sehr freies, punktuelles Rollenspiel mag, wird an Microscope seine Freude haben. Allen anderen empfehle ich es als Werkzeug, um Spielwelten für andere Systeme zu bauen.

Daumen4maennlichNeu

Artikelbild: Lame Mage Productions

 

2 Kommentare

  1. Ich recke für Microscope meinen Daumen schon allein des innovativen Konzeptes wegen steil nach oben. Ben Robbins ist einer, der völlig unabhängig von dem, was für Rollenspiele normalerweise üblich ist, eine Vision einer neuen Art von Spiel entwickeln kann. Micriscope enthält deshalb auch keine Versatzstücke aus anderen Systemen, sondern nur das Allernötigste um diese besondere Spielerfahrung zu ermöglichen.
    Wir haben Microscope gespielt, weil uns die Settingerschaffung von Fate Core ein bisschen dürftig vorkam. Das war super. Inzwischen spielen wir seit 9 Sitzungen Fate Core auf unserer Microscope-Welt und ein Ende ist nicht in Sicht. Ich kann Microscope nur wärmstens empfehlen.

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