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Vier wagemutige Helden auf einer Jagd quer durch Europa, verfolgt von finsteren Mächten: Nach anderthalb Jahren geht unsere Cthulhu-Kampagne nun langsam zu Ende. Was haben die Spieler und der Spielleiter mitgenommen, und welche Tipps haben sie für andere Spieler und Spielleiter?

Über fünf Jahre muss es jetzt schon her sein, dass ich zum ersten Mal mit dem Call of Cthulhu-Rollenspiel in Berührung gekommen bin. Seitdem hat das System nicht nur einen festen Platz in meinem Schrank, sondern auch auf meinen Spieltischen. Nicht zuletzt, weil wir seit mittlerweile anderthalb Jahren die Horror im Orient-Express-Kampagne spielen. Doch irgendwann geht alles zu Ende, und so stehen wir nun vor dem letzten Abenteuer der Kampagne. Zeit, das Erlebte Revue passieren zu lassen und anderen Gruppen hoffentlich hilfreiche Tipps zu hinterlassen. Achtung, es können kleinere Spoiler folgen.

Was ist überhaupt Horror im Orient-Express?

Horror im Orient-Express ist eine mehrteilige Kampagne für das Call of Cthulhu-Rollenspiel, welche erstmalig 1991 von Chaosium Inc. veröffentlicht wurde. In der ersten Edition zählten die vier Bücher noch ca. 250 Seiten inkl. Handouts und zusätzlichen Charakteren. 2014 legte Chaosium den Klassiker neu auf und veröffentlichte zu den bereits existierenden Abenteuern eine Menge neuer Abenteuer. So wuchs der Inhalt auf satte 816 Seiten an. Gleichzeitig veröffentlichte Pegasus eine deutsche Version der Kampagne, die aber mittlerweile auch komplett ausverkauft ist.

Da der Kampagnenband wirklich nirgendwo für einen vernünftigen Preis erhältlich war, kaufte ich schließlich die englische PDF der zweiten Edition. Während der Kampagne jagen die Spieler im Europa der 1920er Jahre einem Artefakt hinterher. Mit dem Orientexpress fahren die Ermittler alle wichtigen Stationen von London bis nach Konstantinopel ab, allerdings haben Sie nur wenige Gelegenheiten, überhaupt den Luxus des Zuges zu genießen. Denn das Erste, was man als Spieler bzw. Spielleiter wissen sollte: Ein Großteil der Kampagne findet nicht unbedingt im eigentlichen Zug statt. Dennoch ist der Orient-Express ein zentrales Element, und jedem Spielleiter steht es frei, die Fahrten entsprechend auszuarbeiten.

Umfangreiches Zusatzmaterial

Der Travelers Guide.

Was sofort positiv heraussticht, ist die schiere Masse an Zusatzmaterial, die den eigentlichen Abenteuern beiliegt. Das erste Buch der Kampagne beschäftigt sich mit der Vorbereitung der Kampagne, mit der Geschichte des Orient-Express mit allgemeinen Reisemöglichkeiten in den 20er Jahren und noch vielen Detailinformationen mehr. Zusätzlich liegt der Kampagne der sogenannte „Travelers Companion“ bei, in dem nicht nur alle wichtigen Informationen über das Personal des Orient-Express zu finden sind, sondern auch Hinweise zu Zollbestimmungen und Karten mit Hoteltipps und Sehenswürdigkeiten der einzelnen Stationen. Dies ist wundervoll zeitgenössisch aufgemacht, sodass man das Dokument getrost den Spielern in die Hand drücken kann, damit sich diese selbst über ihr nächstes Reiseziel informieren können. So müssen Handouts aussehen!

Weiterhin ist es möglich, die Kampagne entweder mit zusätzlichen Abenteuern zu strecken oder durch den Fokus auf die Haupthandlung zu kürzen. Neben den Hauptabenteuern in den 1920er-Jahren liegen zudem Einzelabenteuer im Mittelalter, der spätviktorianischen Zeit und der Neuzeit bei, die jeweils Prequels, Sequels und Nebenschauplätze der Kampagne darstellen. Außerdem entführt ein Nebenabenteuer die Spieler auf eine ganz besondere Reise, die ich hier nicht spoilern will. Allgemein kann man aber sagen, dass es sich bei Horror im Orient-Express um eine epische Kampagne handelt, für die man je nach Spielfrequenz und Länge locker über ein Jahr benötigen kann.

Spielbarkeit aus Spielersicht

Auch wenn man sich nach anderthalb Jahren nicht mehr an alle Details der zurückliegenden Abenteuer erinnern kann, so sind meinen Spielern doch einige Momente im Gedächtnis geblieben, an die sie sich positiv oder auch negativ zurückerinnern. Allgemein kann man sagen, dass sich die Spieler bei der Charaktererstellung etwas einschränken müssen. Es gibt Charaktere, mit denen man an Bord eines Luxuszuges einfach fehl am Platze ist, und bei einer Reise quer durch Europa sollten gewisse Sprachkenntnisse vorhanden sein. Zudem gibt es auch wie in vielen anderen Call of Cthulhu-Abenteuern wichtige Abschnitte, die mit Recherchen und den obligatorischen Würfen auf „Bibliotheksnutzung“ zu lösen sind. So sind Charaktere mit universitärem Hintergrund absolut notwendig. Natürlich gibt es aber auch Kämpfe und okkulte Prüfungen zu bewältigen, weshalb man seine Gruppe gut ausbalancieren sollte.

Wagonplan des Orient-Express.

Was für unsere Spieler etwas schwierig war, war die Menge an Handouts und Information, die sich während der Kampagne angesammelt hat. Dadurch, dass wir online gespielt haben, hatten wir zum Glück ein digitales Archiv, wo alle Handouts nach Stationen sortiert und abgelegt waren. Dennoch war es manchmal schwierig, sich zum Beispiel an einen Zeitungsartikel zu erinnern, den man vielleicht am ersten Abend des Abenteuers bekommen hatte. Hier sollte man als Spieler definitiv aufmerksam zuhören und sich zusätzlich noch eigene Notizen machen. Das gleiche gilt auch für Namen von bestimmten Nicht-Spieler-Charakteren (NSC).

Das Design der einzelnen Abenteuer ähnelt sich

Leider laufen viele der Hauptabenteuer der Kampagne nach einem relativ ähnlichen Schema ab: Ankunft in Ort, Recherche, Suche, Konflikt, Abreise. Bei den ersten Orten fällt dies noch nicht so krass auf, je weiter man aber in der Kampagne voranschreitet, desto negativer wirkt dies auf die Spieler. Die Nebenabenteuer sind da eine gewisse Ausnahme, weshalb wir auch dringend empfehlen würden, einige davon in die Kampagne zu streuen. Außerdem bietet die Kampagne in manchen Orten zu wenige Anhaltspunkte für die Spieler, und so wurde die Jagd nach dem eigentlichen Ziel eher zu einem Warten auf wichtige Ereignisse. Hier kann man als Spieler an manchen Stellen auch mehr Freiheiten vertragen. Allgemein sind viele der Abenteuer sehr linear angelegt.

Im Großen und Ganzen waren unsere Spieler trotzdem sehr zufrieden mit der Kampagne, wobei einige Abenteuer deutlich besser bewertet wurden als andere.

Spielbarkeit aus Spielleitersicht (Achtung Spoiler!)

Detaillierte Beschreibungen der Städte, hier: Lausanne im Winter.

Als Spielleiter steht man wie bei vielen großen Kampagnen am Anfang erstmal vor einem großen Berg an Informationen und Arbeit. Allein die 816 Seiten Inhalt durchzulesen, verschlingt erstmal einiges an Zeit. Dadurch, dass viele verschiedene Autoren an den Abenteuern saßen, gibt es zudem teilweise gravierende Unterschiede in der Strukturierung der Abenteuerbeschreibungen, was hier und da zu einer gewissen Unübersichtlichkeit führt. Dies ist aber alles halb so schlimm, denn allein den Kampagnenband zu lesen ist schon hochspannend und macht unheimlich Spaß! Die detaillierten Beschreibungen der Städte und Länder, durch die man reist, zeichnen ein absolut stimmiges Bild, zudem sind genug Informationen für den Spielleiter vorhanden, um eine spannende Spielwelt zu erzeugen. Auch wenn die Antagonisten zwischendurch etwas blass bleiben, so hat man doch genug Möglichkeiten, dies etwas aufzubrechen. Spätestens nach der Mitte der Kampagne sollten sich die Spieler ständig beobachtet und in Gefahr fühlen.

Da Call of Cthulhu durchaus ein System ist, wo Spielercharaktere recht schnell sterben oder wahnsinnig werden, macht es Sinn für jeden Spieler, einen Zweitcharakter in der Hinterhand zu haben. Allerdings wird es im Verlauf der Kampagne immer schwerer, neue Spielercharaktere glaubhaft und sinnvoll zu integrieren. Auch deshalb sollte man als Spielleiter an manchen Stellen Schaden von Gegnern oder erlittene Verluste an geistiger Stabilität reduzieren, um nicht zu viele Spielercharaktere zu verbrennen. Dennoch sollte man auch nicht so nachgiebig mit seinen Spielern sein, denn der Tod und der Wahnsinn lauert bei Call of Cthulhu nun mal hinter jeder Ecke.

Schwankende Qualität der Geschichten

Werbebroschüre des Orient-Express.

Des Weiteren sollte man sich als Spielleiter gut überlegen, welche Nebenaktivitäten die Spieler wirklich wahrnehmen werden. Warum sich die Spieler zum Beispiel während ihrer Suche nach dem Artefakt in eine Liebesgeschichte einmischen sollen, ist mir ein Rätsel und so gibt es immer wieder Nebengeschichten die einfach nicht gut in die Hauptgeschichte integriert sind. Hier zeigt sich stark die schwankende Qualität der Abenteuer. Auch bei den Nebenabenteuern sollte man sich gut überlegen, welche man tatsächlich mit der Gruppe spielen will. Das Szenario „Der Traumland-Express“ sollte aber definitiv bei euch auf der Liste stehen, denn dieses Szenario ist eine schöne Abwechslung zur normalen Kampagne und war für unsere Spieler ein absolutes Highlight.

Wie schon beschrieben, sollte man als Spielleiter außerdem die Antagonisten etwas bedrohlicher wirken lassen. Über einen großen Teil der Kampagne treten diese fast gar nicht in Erscheinung, nur um später den Spielern fast ins Gesicht geworfen zu werden. Da lassen sich bestimmt auch Zwischenstufen finden. Ach, und noch eine Sache: Wer ernsthaft glaubt, das Szenario um Baba Jaga wäre superinteressant, hat sich leider geirrt.

Zum Schluss noch ein paar kleinere Tipps für diejenigen unter euch, die Lust haben, diese Kampagne nun zu leiten:

  • Spielt einige der Zugfahrten aus! Der Orient-Express ist fantastisch beschrieben, und eure Spieler werden es euch danken, wenn ihr dies nutzt.
  • Haltet euch nicht zu genau an den Zeitplan, sondern lasst euren Spielern ein paar Freiheiten.
  • Gebt euren Spielern nützliche Tipps, falls sie mal nicht weiterkommen, und überlegt euch, wie die Spieler an wichtige Informationen herankommen können, wenn sie ihren Wurf auf „Bibliotheksnutzung“ nicht bestehen!
  • Haltet die Tabellen für geistige Umnachtungen und Geistesstörungen immer griffbereit!
  • Versucht, Recherchephasen interessant zu gestalten!
  • Gebt jedem Spieler einen Kontakt, den er während der Reise nutzen kann!

 

Wer immer noch mehr Tipps benötigt, kann sich auch Inspiration von anderen Spielleitern in Form von Spielberichten im Forum von Pegasus holen. Wer zudem jetzt Lust auf Call of Cthulhu bekommen hat, der findet bei Teilzeithelden sowohl eine Rezension des neuen Grundregelwerks als auch des neuen Investigatoren-Kompendiums.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Chaosium Inc.
  • Autor(en): Geoff Gillan, Thomas Ligotti und andere
  • Erscheinungsjahr: 1991 (erste Edition), 2014 (zweite Edition)
  • Sprache: Englisch, Deutsch
  • Format: A4, PDF
  • Seitenanzahl: 816
  • ISBN: Buch 1: 1-56882414-9, Buch 2: 1-56882418-1, Buch 3: 1-56882422-X, Buch 4: 1-56882426-2
  • Preis: 119.95 USD (Box, aktuell nicht erhältlich), 59.95 USD (PDF)
  • Bezugsquelle: DriveThruRPG

 

Fazit

Ja, Horror im Orient-Express ist sicherlich nicht perfekt. Dafür schwankt die Qualität der Abenteuer zu stark, und einige Dinge sind zu repetitiv. Aber wenn man sich als Spielleiter dieser Herausforderung stellt und kleinere Fehler ausbessert, so hat man eine Kampagne vor sich, die auf jeder Seite vor Details und Spannung nur so strotzt und die die Gruppe auf eine einzigartige Reise mitnimmt. Die Fahrt mit dem Orient-Express gehört für mich trotz ihrer Fehler zu einem absoluten Highlight meiner Rollenspielkarriere, und auch wenn man im Rückblick bei einigen Entscheidungen der Autoren die Nase rümpft, so merkt man doch schnell, dass man trotzdem extrem viel Spaß hatte. Auch wenn der Umfang erstmal einschüchternd wirken kann, so kann ich euch nur eins empfehlen: Traut euch ran, ihr werdet es mit Sicherheit nicht wieder vergessen!

 

Artikelbilder: © Chaosium, Bearbeitung: Melanie Maria Mazur
Das Produkt wurde privat angeschafft.

 

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