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Im Mittelpunkt der aktuellen Debatte um die Sprachkonventionen der deutschen Wikipedia steht eine Gruppe von Phantastikautorinnen. Für ihren Change.org-Aufruf erntet Initiatorin Theresa Hannig sowohl Zuspruch als auch Kritik, doch wem die deutsche Phantastikszene am Herzen liegt, der sollte dieses Engagement auf jeden Fall begrüßen. Ein Kommentar.

Seit einigen Jahren ist feministische Science-Fiction auf dem englischsprachigen Buchmarkt keine Nische mehr, sondern definiert das gesamte Genre, wie auch die kürzlich veröffentlichte Shortlist der Hugo-Awards wieder deutlich vor Augen führt. Zu den neuesten Einträgen in diesem Bereich gehört Mary Robinette Kowals The Calculating Stars. A Lady Astronaut Novel, der von 1952 an eine alternative Geschichte der Raumfahrt erzählt, in der Frauen früher ins US-amerikanische Space Program aufgenommen wurden.

Obgleich er neben den ambitionierten afrofuturistischen oder utopischen Großentwürfen der Gegenwart nicht wirklich bestehen kann, trifft der Roman in einer Hinsicht den Nerv der Zeit: Protagonistin Elma York muss sich als brillante Mathematikerin mit den gesellschaftlichen Erwartungen der 50er Jahre herumschlagen und wird gegen ihren Willen zum Idol einer ganzen Generation junger Mädchen, die ihretwegen von Raumfahrt und Wissenschaft träumt.

Kowals Verständnis dafür, wie wichtig Vorbilder sind, um gesellschaftliche Vorprägung zu überwinden, macht den ansonsten etwas beliebigen Roman überhaupt erst lesenswert.

Althergebrachte Geschlechterrollen und Machtdynamiken?

Dass die Thematik vor allem mit Leserinnen resoniert, obwohl alle Kämpfe, die Elma York und ihre realen Vorbilder ausfechten mussten, heute gewonnen scheinen, liegt wohl nicht zuletzt an den Resten althergebrachter Geschlechterrollen und Machtdynamiken, die sich noch immer vielerorts manifestieren. Zwar finden sich in allen Bereichen, die Kinder zum Träumen anregen, auch weibliche Vorbilder, aber oft sind diese kaum sichtbar oder werden spätestens in der Berichterstattung kleingemacht.

Man denke nur an das vergangene Jahr, als Ursula K. Le Guin verstarb und die WELT völlig unangemessen titelte „Der weibliche Tolkien ist gestorben“. Debatten darüber gibt es dieser Tage viele, doch keine scheint die Gemüter so sehr zu erhitzen wie die Frage danach, wie man Frauen und nichtbinäre Menschen in der Alltagssprache sichtbar machen kann.

Dass nun auch in der deutschen Phantastikszene verstärkt darüber diskutiert wird, ist ausgerechnet einem Streit um die deutsche Wikipedia zu verdanken.

Hüter des Wissens

Welche deutschsprachigen Science-Fiction Autorinnen gibt und gab es eigentlich, fragten sich Theresa Hannig, selbst Autorin, und ihre Kolleginnen Mitte März auf Twitter. Keine ungewöhnliche Frage, neigen doch Diskussionen über Frauen in der Science-Fiction dazu, unweigerlich in den englischsprachigen Raum abzudriften. Ebenso naheliegend war die Idee, alle eingegangenen Vorschläge auf Wikipedia zu sammeln und hierzu eine separate Liste anzulegen. Was dann folgte, kann man in aller Länge auf Hannigs Blog nachlesen. Es gab ausführliche Löschdiskussionen, in deren Verlauf selbsternannte Hüter des Wissens die Relevanz der Liste in Frage stellten und die Initiatorinnen der Selbstvermarktung bezichtigten.

Die Frustration wuchs, das Fazit war, auch wenn die Liste letztlich dank großen Zuspruchs inner- und außerhalb der Wikipedia bestehen blieb, ernüchternd: Der strukturelle Aufbau der deutschen Wikipedia arbeitet massiv gegen die Sichtbarkeit von Frauen an, von nichtbinären Menschen ganz zu schweigen.

Deswegen reichte Hannig eine Petition bei Change.org ein, welche die Abschaffung der Pflicht zum generischen Maskulinum, ein Recht auf geschlechtsspezifische Listen sowie eine Demokratisierung der internen Entscheidungsprozesse fordert und bis dato von über 4.000 Personen unterzeichnet wurde. Die Umsetzung der Forderungen mag in absehbarer Zeit unwahrscheinlich sein, doch das dürfte in diesem Zusammenhang ohnehin die kleinere Rolle spielen.

Ein gehöriges Maß an Aufmerksamkeit

Viel wichtiger ist, dass Hannig in den letzten Wochen ein gehöriges Maß an Aufmerksamkeit dafür geschaffen hat, dass auch das Wissen in unser aller liebsten demokratischen Onlineenzyklopädie nicht auf Bäumen wächst, sondern einer ganzen Reihe von Verwaltungsprozessen unterliegt, die die meisten User nicht einmal kennen und die, wie das Hin und Her mit der Liste zeigt, auch alles andere als zugänglich sind.

Wer entscheidet, was relevant ist und was nicht, befindet sich in einer zentralen Machtposition. Hannigs Eindruck, dass es sich dabei im Falle der Wikipedia vor allem um Männer handelt, ist zunächst nicht von der Hand zu weisen. Nach Eigenangabe sind 85-94% der Wikipediaautoren männlich, und zwar mit sinkender Tendenz.

Den Grund hierfür bei etwas anderem als den von der Seite selbst formulierten „etablierten Kommunikations- und Machtprozesse[n] auf der Basis der zahlenmäßigen Überlegenheit“ zu vermuten, wäre nach den Ereignissen der letzten Wochen naiv. Insofern klingen auch die Hinweise, wenn Frauen mehr Mitspracherecht wollten, könnten sie sich ja längerfristig für die Enzyklopädie engagieren, besonders herablassend.

Die Astronautin zwischen Sinn und Unsinn

Eine Pflicht zum generischen Maskulinum, wie es die Petition nahelegt, gibt es in der Wikipedia freilich nur in den Lemmata, also den Titeln der Einträge. Wirft man jedoch einen Blick in die generellen Richtlinien zu Namenskonventionen, stößt man auf ein peinliches Trauerspiel kleinlicher Verklausulierung mit einem Beigeschmack von „Wenn es unbedingt sein muss …“. So darf das Binnen-I nur in Eigennamen verwendet werden. Dennoch, und hier wird es interessant, solle „stets darauf geachtet werden, dass eindeutig zum Ausdruck gelangt, ob im jeweiligen Zusammenhang beide Geschlechter gemeint sind oder nur eines“.

Der klassischen Behauptung, Frauen und nicht-binäre Identitäten seien im generischen Maskulinum mitgemeint, läuft das entgegen. Doch bereits der übernächste Satz stuft feminine Formen nicht mehr als notwendig, sondern lediglich als „erlaubt, außer in Fällen, wo sie offensichtlich unsinnig wären,“ ein. Im Ergebnis steht auch in den Artikeln durchweg die männliche Form.

Kennt die Wikipedia Raumfahrerinnen?

Das bedeutet etwa für den Artikel „Raumfahrer“, dass dort die weibliche Form auch dann nicht auftaucht, wenn unter der Überschrift „Berühmte Raumfahrer“ Walentina Wladimirovna Tereschkowa als erste Frau im All gelistet ist. Natürlich würde niemand behaupten, dass die Ergänzung des Femininums an dieser Stelle „offensichtlich unsinnig“ wäre, und doch hat sich bislang niemand dazu berufen gefühlt, den Eintrag zu ändern. Das Konzept Astronautin ist in der deutschsprachigen Wikipedia ähnlich abwesend wie zu Beginn von Kowals Roman.

Dass Frauen und nichtbinäre Personen zunehmend die Nase voll davon haben, immer nur mitgemeint zu sein, dass Sprache Wirklichkeit schafft, indem sie unsere Wahrnehmung bestimmt, und dass wir, wenn wir uns einen Astronauten vorstellen, nun einmal immer zuerst an einen Mann denken werden, sind Tatsachen, an denen nur schwer zu rütteln ist.

Wo Boys Clubs sich die Hände reichen

Die aktive Positionierung der Autorinnen und das darauffolgende Medienecho steht der deutschen Phantastikszene natürlich gut zu Gesicht. Ein brisanter Aspekt wird in der Berichterstattung jedoch ausgespart: In den Kommentarspalten zeigten sich viele Leser und Leserinnen wenig überrascht und wiesen nachdrücklich darauf hin, dass es sich hier um eine Idiosynkrasie der deutschen Wikipedia handle, habe doch das englischsprachige Pendant kein Problem mit geschlechtsspezifischen Listen.

Dass dem so ist, hat allerdings eine Vorgeschichte. Bereits 2006 gründete sich in der Wikipedia-Community das inzwischen eingestellte Projekt WikiChix, um den latenten sexistischen Strukturen dort entgegenzuwirken. Unabhängig davon gab es zur gleichen Zeit – wenn man wiederum dem herrlich rekursiven deutschen Wikipediaeintrag zu Kritikpunkten an der Wikipedia Glauben schenken darf – einen Fall, der geradezu unheimlich vertraut wirkt: „Ein Beispiel für diese Frustration – obwohl nicht direkt von der WikiChix-Gruppe erwähnt – war der Versuch, in der englischen Wikipedia den Artikel Feminist science fiction anzulegen, ein Vorgang, der zu heftigen Auseinandersetzungen führte, die letztlich, für viele unbefriedigend, durch eine Änderung des Titels in Women in science fiction im Oktober 2002 beendet wurde. Der Artikel Feminist science fiction wurde erst im Juni 2006 erneut angelegt.“

Wirken die Beispiele bekannt, wiederholen sich Dinge?

Dass Hannig und ihre Mitstreiterinnen das Problem als strukturelles erkannt und entsprechend eine allgemeine Diskussion angeregt haben, ehrt sie und dürfte zur Abwechslung mal auch Menschen außerhalb der Szene daran erinnert haben, dass es deutsche Science-Fiction jenseits von Perry Rhodan gibt. Aber das bedeutet längst nicht, dass sich das Problem hegemonialer Männlichkeitsstrukturen komplett in den Bereich Wikipedia auslagern lässt, denn diese scheint mit Strukturen in der Phantastik gewisse Wechselwirkungen zu haben.

So hält sich das Klischee, Science-Fiction sei ein eher männliches Interesse, wacker, obwohl Frauen wie Margaret Cavendish und Mary Shelley zu den Gründungsfiguren des Genres zählen. Auch heute fühlen sich Frauen hier oft bestenfalls mitgemeint, sind nichtbinäre Personen nahezu komplett unsichtbar und verweisen alle mit Staunen auf den englischsprachigen Raum, der in dieser Hinsicht schon viel weiter scheint. Doch ebenso wie in der Wikipediacommunity lässt sich auch dort die neuentdeckte und gefeierte Intersektionalität nicht ausschließlich auf abweichende Strukturen des internationalen Buchmarkts zurückführen, sondern war etwas, für das eingestanden werden musste. So gab es etwa von 2013 bis 2017 Bemühungen, die Shortlists der Hugo-Awards zu entdiversifizieren.

Die rechtskonservative Sad Puppy-Kampagne machte sichtbar, was unterschwellig in der Community immer schon vorhanden gewesen war, zwang namhafte Phantastikautoren wie George R. R. Martin zu Stellungnahmen und gipfelte darin, dass 2015 in mehreren Kategorien kein Preis verliehen wurde. Dass kurz darauf so etwas wie ein Golden Age intersektionaler Science-Fiction anbrach, ist kein Zufall.

Wirft man hingegen einen Blick auf die aktuelle Shortlist des Kurd-Laßwitz-Preises, kommt dort auf sage und schreibe zehn nominierte Männer eine einzige Frau. Auch hier stellt wieder die Sichtbarkeit das entscheidende Problem dar: Nominierungen einreichen können zwar alle, die in der deutschsprachigen Science-Fiction tätig sind, doch zu einem ausgeglichenen Geschlechterverhältnis führt das eben noch nicht. Schließlich liest man, was man kennt, was einem empfohlen und angeboten wird, und dass es sich dabei überwiegend um Bücher von Männern handelt, kann jeder, der sich die Mühe macht, ein paar Wochen lang gezielt darauf zu achten, unmittelbar erleben.

Die Gründe für dieses Missverhältnis mögen vielfältig sein, die Lösung nicht auf einen Schlag herbeiführbar, doch die Liste deutschsprachiger Science-Fiction-Autorinnen, die nun endgültig online bleiben darf, ist eindeutig ein Schritt in die richtige Richtung und ein Hilfsmittel für alle, die an ihren eigenen Lesegewohnheiten und Auswahlmechanismen arbeiten wollen. Ein kleines Stück Sichtbarkeit wurde erkämpft, weil Theresa Hannig, Judith C. Vogt, Annette Juretzki und viele andere Unterstützerinnen und Unterstützer nicht klein beigeben wollten. Bravo, weiter so!

Artikelbilder: glougass@depositphotos, ridofranz@depositphotos, Bearbeitung: Verena Bach

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