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Schon einmal ist Alice dem weißen Kaninchen durch seinen Bau in das seltsame Wunderland gefolgt. Nun aber scheint der Nager von einer bösen Macht verdorben und entstellt zu sein. So macht sich das kleine Mädchen auf zu einer neuen Reise, in der das Wunderland in einen Alptraum verwandelt wurde.

Autor Jonathan Green ist im Fantasygenre beileibe kein Unbekannter: Nicht nur hat er drei Bände der beliebten Serie Fighting Fantasy verfasst, aus seiner Feder stammen auch einige Romane und Kurzgeschichten zu Warhammer und Warhammer 40.000 oder die Buchreihe Pax Britannia. 2015 wurde ein weiteres Spielbuch erfolgreich über Kickstarter finanziert: Alice’s Nightmare in Wonderland, das seit 2018 übersetzt beim Mantikore-Verlag vorliegt. Hier verbindet Green die berühmten Werke von Lewis Carroll zu einem neuen Abenteuer für Alice, bei dem das Wunderland einen alptraumhaften Wandel erfährt.

Handlung

Wie soll eine neue Reise von Alice anders beginnen, als in ihrem heimischen Garten? Doch gleich in den ersten von insgesamt 520 Abschnitten wird klar, dass bei diesem Abenteuer etwas anders ist. Denn das bekannte weiße Kaninchen, das stets einen besorgten Blick auf seine Taschenuhr geworfen hat, ist nun selbst verschmolzen mit Zahnrädern und anderen feinmechanischen Teilen. Und so spricht es auch gleich am Anfang aus, was die nun folgende Reise ins Wunderland von den vorigen unterscheiden wird: „Dies hier ist dein Alptraum“.

Im nun folgenden Abenteuer balanciert Autor Jonathan Green stets zwischen Vertrautem und eigener Interpretation. Dabei beschränkt er sich nicht nur auf Lewis Carrolls literarisches Debüt Alice im Wunderland, sondern bedient sich auch der Fortsetzung Alice hinter den Spiegeln oder eigenständiger Werke wie Die Jagd auf den Schnark und Phantasmagoria. Nicht nur dem weißen Kaninchen begegnet Alice wieder, sondern auch anderen bekannten Figuren wie der Grinsekatze, dem verrückten Hutmacher und dem Märzhasen, der Herzogin samt dem niesenden Baby oder den Spielkartensoldaten. Viele von ihnen allerdings sind im alptraumhaft verzerrten Wunderland zu monströsen Gegnern geworden, die sich mit Klauen, Beilen oder mechanischen Armen auf die arme Alice stürzen.

Vertrautes muß nicht langweilig sein

Dabei erweist sich gerade diese Vertrautheit als das größte Manko von Alice im Düsterland: Fast schon in der gleichen Reihenfolge wie in Carrolls originalen Geschichten durchquert Alice das Wunderland und trifft zumeist eben nur auf Gestalten, die man schon lange kennt. Dass diese in der Düsterland-Version oftmals in Monster verwandelt wurden, ist zwar ein netter Einfall, nutzt sich aber auch schnell ab. Die interessante Idee der Tick-Tack-Männer, mechanischer Unholde mit wenig Sinn und Verstand, fügt Greens Vision des Wunderlands eine spannende neue Komponente hinzu, aus der er aber leider außer diversen Gegnern für ein Kampf-Intermezzo nicht viel macht.

Das heißt aber nicht, dass Alice im Düsterland langweilig und vorhersehbar wäre. Dafür ist das Wunderland einfach zu groß und abwechslungsreich: Schon kurz nach Beginn offenbaren sich mehrere Pfade, auf denen Alice an ihr Ziel gelangen kann. Hat sie es durch Schrumpfen und Wachsen geschafft, direkt zum Haus des weißen Kaninchens zu kommen? Hat sie die Tür in den Garten der Lebenden Blumen öffnen können? Oder treibt sie im Meer aus ihren eigenen Tränen, auf dem eine seltsame Schiffsbesatzung auf der Jagd nach dem Schnark ist?

Von guten und frustrierenden Rätseln

Auch finden sich immer wieder originelle und knifflige Rätsel: Lösungsworte müssen über eine Tabelle im Anhang in Zahlen umgewandelt und aufaddiert werden, um zum korrekten Folgeabschnitt zu gelangen. Uhren wollen richtig eingestellt werden, um ein verschlossenes Tor zu öffnen. Und kurz vor dem Ziel von Alice‘ Reise erfordert ein Heckenlabyrinth große Aufmerksamkeit und am besten das Kartographieren auf Papier.

Dabei kann es aber auch frustrierend sein, wenn man beispielsweise bei den Passwörtern schon auf der richtigen Spur ist, aber noch nicht den genauen Begriff und somit die richtige Summe gefunden hat. Allerdings findet man im Verlauf der Lektüre auch immer wieder Hinweise oder gleich die Auflösung für bestimmte Rätsel; so etwa, wenn man bei der Wasserpfeife rauchenden Raupe etwas von deren Pilz isst und damit einen Blick auf die eigene Zukunft erhascht.

Zeitreise zum Endgegner

Je nachdem, wie gut Alice sich bei diesen Aufgaben macht, vermag sie ihre Reise abzukürzen und bestimmte Passagen – diese übrigens zumeist aus den Quellen neben Alice im Wunderland – gänzlich zu überspringen. Allerdings führen diese verschiedenen Wege irgendwann auch wieder zusammen, um stringent der Haupthandlung zu folgen. Gerade zum Finale ist mir das negativ aufgestoßen, denn hier lotst das Spielbuch schnurstracks zum Bösewicht, ohne noch nennenswerte Abzweigungen anzubieten. Wenigstens ist aber dieser Bösewicht, dessen Identität hier nicht verraten werden soll, ein raffinierter Kniff des Autors, die Ideen von Carrolls Vorlage weiterzuspinnen und ins Düstere zu verkehren. Auch empfand ich es als versöhnlich, dass sich an dieser Stelle Alice‘ bisherige Interaktion mit den Bewohnern des Wunderlands auszahlt, stehen einige von ihnen ihr doch unverhofft als Verbündete zur Seite.

So entwickelt Alice im Düsterland seinen Reiz vor allem daraus, die aus Buch, Film und Fernsehen bekannte Geschichte selbst zu erleben. Auch wenn Jonathan Green in diesem Spielbuch nur wenig hinzuerfindet, so ist es doch eine einfallsreiche Hommage an das berühmte Werk von Lewis Carroll.

Regeln

Für ihre Reise durchs Wunderland verfügt Alice über fünf Attribute: Gewandtheit, Logik und Kampf mit einem Startwert von 6, dazu noch Ausdauer mit 20 und Wahnsinn mit 0. Zudem darf der Spieler 10 Punkte nach Belieben auf die ersten vier Attribute verteilen und so seinen gewünschten Schwerpunkt zwischen Kampf und Rätseln setzen.

Für die Proben, zu denen das Spielbuch immer wieder auffordert, würfelt der Spieler mit 2W6 oder nimmt ein Kartenblatt zur Hand. Ist der Wert nicht höher als das Attribut, ist die Probe bestanden. Ausnahme ist zum einen der Wahnsinn; hier muss man dessen Wert (über)treffen, um zu bestehen. Zum anderen verwendet man bei der Ausdauer wegen des hohen Startwerts 4W6.

Sonderfertigkeiten in Kämpfen

Auch bei der Abwicklung von Kämpfen erfindet Alice im Düsterland das Rad nicht neu. Der Spieler addiert sowohl für Alice als auch ihren Gegner 2W6 zum jeweiligen Attribut Kampf hinzu. Zusätzlich definiert der Abschnittstext noch, wer beim ersten Schlag die Initiative hat und somit einen Bonus in Höhe der Rundenzahl erhält. Derjenige mit dem höheren Wert zieht beim Gegner 2 Punkte Ausdauer ab und erhält für die nächste Runde die Initiative. Bei einem Unentschieden verliert jeder der beiden Kämpfer 1 Punkt Ausdauer. Im Laufe des Abenteuers kann Alice diverse Gegenstände finden, die sie als Waffe verwenden kann und die den verursachten Schaden steigern. Sinkt die Ausdauer eines der beiden Kontrahenten auf 0, ist der Kampf beendet – hoffentlich zugunsten von Alice. Auch hier gibt es aber diverse Fundstücke, die verlorene Ausdauer wieder herstellen.

Sehr originell sind die zwei Sonderfertigkeiten, mit denen Alice im Düsterland dem Spieler erlaubt, Kämpfe zu umgehen oder zu vereinfachen. Beide kann man insgesamt nur dreimal anwenden, allerdings können bestimmte Abschnitte diesen Fundus im Spielverlauf auch wieder auffüllen.

Zum einen ist sich Alice durchaus gewahr, dass sie sich in einer Erzählung befindet, und kann diese dann mit „Die Feder ist mächtiger als das Schwert“ einfach zu ihrem Vorteil umschreiben. Zudem muss man im Wunderland vor jeder Überraschung gefeit sein, so dass die Option „Seltsamer und seltsamer“ die aktuelle Szene noch absonderlicher werden lässt. Doch Vorsicht ist geboten, denn das kann die Situation auch verschlimmern.

Schreibstil

Alice im Düsterland fügt sich wunderbar an seine berühmte Vorlage an. Die bekannten Figuren und Ereignisse aus Alice im Wunderland und seiner Fortsetzung finden gekonnt Einzug in dieses Spielbuch und bilden ein überzeugendes Ganzes. Sehr stimmig empfand ich vor allem den höflich-erstaunten Ton von Alice im Gespräch mit den seltsamen Bewohnern des Wunderlands, der ausgezeichnet die Stimmung von Lewis Carrolls Original abbildet. Auch die zahlreichen Gedichte, die Autor Jonathan Green aus den ursprünglichen Werken übernommen hat, tragen zu diesem Gesamteindruck bei und sind dabei hervorragend ins Deutsche übertragen.

Erscheinungsbild

Der Mantikore-Verlag ist ein alter Hase bei Spielbüchern und liefert auch hier gewohnt gute Qualität ab. Eine kurze Einleitung erklärt zunächst, wie die eigenen Entscheidungen des Lesers bestimmen, an welcher Stelle die Geschichte weitergehen soll. Danach folgen auf wenigen Seiten die ausführlich beschriebenen Regeln, bevor der Leser dann als Alice in das Abenteuer aufbrechen kann. Im Anhang finden sich das jeweils einseitige Aktions- und Kampfblatt in mehrfacher Ausführung, um die eigenen Werte und Ausrüstung einzutragen sowie die zahlreichen Kämpfe abzuwickeln.

Alice im Düsterland ist hervorragend bebildert mit Vignetten und ganzseitigen Illustrationen von Kev Crossley. Der dynamische Strich mit zahlreichen Details bringt den alptraumhaften Wandel des Wunderlands wunderbar zur Geltung. Einzig hätten einige der Bilder etwas mehr Schattierung vertragen können, da wegen der vielen Details das Gesamtbild etwas schwer zu erkennen ist. Dennoch ist Alice im Düsterland eine Augenweide.

Sehr vorbildlich finde ich zudem, dass am oberen Seitenrand die jeweiligen Abschnittsnummern zu sehen sind, was das häufige Blättern und Suchen ein einem Spielbuch wesentlich erleichtert.

Für diese Rezension lag die Taschenbuch-Version von Alice im Düsterland vor, die, wie beim Mantikore-Verlag üblich, auch das ständige Blättern sehr gut überstanden hat. Zusätzlich ist das Spielbuch auch in einer gebundenen Fassung erschienen.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Mantikore-Verlag
  • Autor: Jonathan Green
  • Erscheinungsjahr: 2018
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Taschenbuch / Gebunden
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN: 978-3961880126
  • Preis: 13,95 EUR (Taschenbuch) / 19,95 EUR (gebunden)
  • Bezugsquelle: Amazon

 

Bonus/Downloadcontent

Auf seiner Homepage bietet der Mantikore-Verlag auf einer separaten Seite sowohl das Kampfblatt als auch das Aktionsblatt aus dem Anhang als PDF zum Download an.

Fazit

Alice im Düsterland nimmt das berühmte Nonsens-Werk von Lewis Carroll auf und verbindet es zu einem stimmigen Ganzen. So durchwandert der Leser das Wunderland in seinen ganzen Facetten, die aber von einer unbekannten Macht zu einem Alptraum verdreht worden sind. Diese Vertrautheit mit der Vorlage erweist sich aber auch als das größte Manko des Spielbuchs: Zu wenige eigene Ideen fügt Autor Jonathan Green dem Szenario hinzu, und vieles bei der Lektüre bedient vor allem den Wiedererkennungseffekt.

Dennoch ist Alice im Düsterland auf keinen Fall langweilig: Dafür ist der Weg durch das Wunderland dann doch zu abwechslungsreich, gespickt mit originellen und kniffligen Rätseln. Die hervorragenden und detailverliebten Illustrationen von Kev Crossley werten die Lektüre zusätzlich auf.

Unterm Strich bleibt ein solides Spielbuch, das sich sehr gut in das Portfolio des Mantikore-Verlags einfügt, aber hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt, die absonderliche Vorlage weiterzuspinnen.

 

Artikelbild: © Mantikore-Verlag, © Iofoto – Dreamstime.com, Illustrationen: © Kev Crossley, Bearbeitung: Melanie Maria Mazur
Dieses Produkt wurde kostenlos vom Mantikore-Verlag zur Verfügung gestellt.

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