Geschätzte Lesezeit: 12 Minuten

Eine Katastrophe ist plötzlich und unvorhergesehen über euch hereingebrochen. Ihr seid allein und isoliert. Kommunikation mit der Außenwelt und anderen Menschen findet nur über ein kleines Videofenster statt. Es bleibt nur wenig Zeit, um massive Probleme zu lösen und – soweit die traurige Gewissheit – nicht alle von euch werden es schaffen.

ViewScream ist ein Science-Fiction-Horror-Rollenspiel, das für die gegenwärtige Zeit der Pandemie gemacht zu sein scheint. Sowohl SpielerInnen wie auch Charaktere befinden sich nicht im gleichen Raum. Eine spezifische Gefahr hindert sie daran, den physischen Raum zu überwinden und zueinander zu finden. Sie können nur über Bildschirme und Mikrofone miteinander kommunizieren, müssen dabei versuchen, tödliche Probleme zu lösen und ihrer jeweiligen Notsituation zu entkommen. Denn in jedem Szenario kämpfen die Charaktere einen unfairen Kampf, bei dem die Karten von Anfang an gezinkt sind – und nicht zu ihren Gunsten.

Direkt zu Beginn sei auch gesagt, dass es sich bei ViewScream nicht um ein „vollständiges“ Rollenspielsystem handelt, sondern um ein narratives, storygetriebenes Spiel mit einem ganz bewusst gewählten Fokus. Es ist also kein Starfinder oder Stars without Number, die eine breite Palette von Abenteuern ermöglichen, sondern eher ein spielleiterloses Ten Candles oder Geh nicht in den Winterwald. Wem solche Storygames nicht zusagen, der wird wahrscheinlich auch an ViewScream keinen Spaß haben. Wer aber bereit ist, sich auf ein immersives, dramatisches und tragisches Spiel einzulassen, der sollte auf jeden Fall weiterlesen.

Die Spielwelt

ViewScream findet nicht in einem ausgearbeiteten Hintergrund statt. An Stelle detaillierter Settinginformationen liefert das Spiel kurze Anrisse von Hintergründen, die dann von den SpielerInnen am Tisch spontan ausgestaltet und erweitert werden. Das Spiel setzt also stark auf den Willen der SpielerInnen, bekannte Topoi und Klischees zu nehmen, um damit die großen weißen Flächen des Hintergrunds auszufüllen.

Zumeist sind ausführliche Informationen auch nicht notwendig. Wenn mysteriöse Aliens an Bord herumschleichen, oder eine außer Kontrolle geratene KI versucht, alle Menschen einen langsamen und qualvollen Tod sterben zu lassen, dann ist das komplexe Machtgefüge von Mitsuhama Aeronaut Inc. ebenso zweitrangig wie die politische Großwetterlage des Gamma-Tau-Sektors. Die Welt der Charaktere schrumpft auf die unmittelbare Gegenwart, ihre Probleme und die wenigen Menschen, mit denen sie in Kontakt stehen.

Eine solche Herangehensweise ist immer ein zweischneidiges Schwert. Sie setzt voraus, dass alle SpielerInnen bereit sind, aus dem Stehgreif zu improvisieren, Fakten zu setzen und aufeinander einzugehen. Das setzt ein hohes Maß an Kooperation und Kreativität voraus, die nicht durch Hintergrundtexte substituiert werden kann.

Was der Autor von ViewScream allerdings hervorragend macht, ist das geteilte mediale Reservoir bekannter und evokativer Bilder anzusprechen. Mit einigen kurzen Einleitungssätzen pro Szenario dürfte jedeR SpielerIn sofort einen Eindruck davon haben, was für eine Art Spiel ihn oder sie erwartet. Um das Ganze zu verdeutlichen, kann man sich am besten die Übersetzung eines Einleitungstextes anschauen. Das folgende Beispiel kommt aus dem ersten Szenario des Bandes „A maculate conception“.

Dies ist ein Notsignal des Wissenschaftsschiffs Sycorax. Da ist etwas auf unserem Schiff, und es legt Eier. Aber sie sind nicht geschlüpft: Sie sind leer. Unser Kapitän – bevor sie sich umbrachte – sagte, dass … dass sie denkt, wir sollen in sie hineingehen. Hören Sie, bitte, wir brauchen Hilfe. Was auch immer dieser Xenomorph ist, er hat den Großteil der Crew unseres Schiffes getötet. Ich empfange nur ein paar Lebenszeichen. Unser Schiff ist beschädigt und wir sind in Gefahr. Erbitte sofortige Hilfe.“

Die Bilder, die sich im Kopf der LeserInnen bilden, verdeutlichen direkt, worum es geht. Man fühlt sich bestimmt nicht zufällig an einen bekannten Ridley-Scott-Film aus den späten 70er-Jahren erinnert. SpielerInnen, die sich popkulturell nicht hinter dem sprichwörtlichen Mond versteckt haben, sollte das ausreichen, um ein oder zwei Stunden zu improvisieren. Auf ähnliche Art und Weise sind auch die restlichen Szenarien angelegt. Bei den meisten davon handelt es sich wie bereits gesagt um Science-Fiction-Szenarien, aber es gibt auch einige Beispiele für Aufhänger in der Gegenwart oder sogar im Fantasy-Bereich. Wer also schon immer mal wissen wollte, worüber sich Sauron und Saruman per Palantir ausgetauscht haben, der kann es hier nachspielen.

Die Regeln

Die Regeln des Spiels sind vollkommen auf ein „Freeform“-Rollenspiel ausgelegt, also ein Spiel ohne Würfel und mit wenig Steuerung durch die Spielleitung. Alle SpielerInnen bekommen vor Beginn des Szenarios einen vorgefertigten Charakter ausgehändigt, der sich zuerst durch seine Funktion definiert, also zum Beispiel „Brücke“, „Maschinenraum“, „Sensoren“ oder „Krankenstation“. Weiter ausgearbeitet wird er durch die folgenden Punkte:

  1. Ihre Persönlichkeit. Beispielsweise: ruhiger und besonnener Offizier, der unter Druck zum Tyrannen wird.
  2. Ihren aktuellen Aufenthaltsort: eingesperrt auf der Brücke.
  3. Ihre Probleme: belagert von außen, Verlust der Atmosphäre und Versagen der Umweltkontrollen.
  4. Ihre Lösungen für die Probleme anderer.

Ferner bekommt jeder Charakter zwei Verknüpfungen zu den anderen Mitgliedern der Besatzung, die positiv oder negativ sein können und die Grundlage für das Rollenspiel zwischen den SpielerInnen bilden sollen. Außerdem kann es sein, dass der Charakter ein dunkles Geheimnis hat, und/oder vermutet, dass ein anderer Charakter ein solches haben könnte. Zumeist entsteht so direkt von Anfang an eine explosive Mischung, die sich in der relativ kurzen Spielzeit, von durchschnittlich ein bis zwei Stunden, mit einem Knalleffekt entlädt.

Das Spiel selbst wird von den eigenen Problemen und den Lösungen der anderen SpielerInnen dominiert. Wer es nicht schafft, mit Hilfe der anderen seine Probleme zu lösen, der wird der Katastrophe nicht entgehen. Hier allerdings kommt der tragische Aspekt des Spiels zum Tragen: Einige der Lösungen sind zum Scheitern verurteilt und werden nicht funktionieren. Auf den Bögen sind Lösungen immer mit den Verweisen „erfolgreich“ oder „Fehlschlag“ gekennzeichnet. Die Charaktere wissen das natürlich nicht, sondern werden es erst erfahren, wenn die Lösung im Spiel angewandt wird.

Die Charakterblätter sind somit in der Regel nicht länger als eine Seite und können somit auch gut unmittelbar von Spielbeginn gelesen werden. Lediglich die SpielerIn der „Brücke“ sollte etwas mehr Vorbereitungszeit einplanen. Zwar handelt es sich um ein spielleiterloses System, aber die Verantwortung dafür, den Überblick über das Geschehen zu behalten und das Pacing zu bestimmen, liegt in der Regel bei dieser SpielerIn. Er oder sie stellt eine Verbindung zu einer anderen Abteilung her und kann entweder eine rein spielerische Szene starten oder nach den Problemen des oder der anderen fragen. Außerdem kann er oder sie die Charaktere untereinander verbinden, so dass beispielsweise „Sensoren“ und „Krankenstation“ miteinander reden können. Wenn zwei SpielerInnen versuchen, eine Lösung für ein Problem zu finden, sollte die SpielerIn der Brücke sich das notieren und einige Minuten später nach dem Status fragen, da keine Lösung direkt greift. Damit das Spiel nicht in ein Wirrwarr von Stimmen ausartet, ist es natürlich wichtig, dass alle SpielerInnen eine gewisse „Funkdisziplin“ halten. Auch darauf sollte die SpielerIn der Brücke achten. „Brücke“ ist somit am ehesten eine Art Spielleitung „Light“.

Das Spiel endet, wenn alle Lösungen der Charaktere benutzt wurden. EinE oder mehrere SpielerInnen werden aber noch ungelöste Probleme haben. Jeder Charakter mit ungelösten Problemen ist dazu verdammt, das Spiel nicht zu überleben. Alle SpielerInnen bekommen am Ende zwar noch einmal die Gelegenheit, abschließende Worte zu sagen, aber für mancheN wird es nur für Verwünschungen, nicht aber für Erlösung reichen.

Spielbarkeit aus Spielleitungssicht

Es gib wie bereits gesagt keine klassische Spielleitung, aber die SpielerIn der Brücke muss in jedem Fall eine koordinierende Rolle spielen. Für ihn oder sie ist das Spiel mit dem meisten Aufwand verbunden, da ihn oder sie den Überblick darüber behalten muss, wer gerade an wessen Problemen arbeitet, wer mal wieder etwas mehr Zeit im Rampenlicht gebrauchen könnte und wie die Spannungskurve verläuft.

Da „Brücke“ aber ebenso MitspielerIn ist, fehlen ihm oder ihr die klassischen Werkzeuge der Spielleitung, und er oder sie ist sehr auf die Kooperation und den guten Willen der anderen SpielerInnen angewiesen. Andernfalls wird ein so freies Spiel nicht funktionieren. „Brücke“ sollte sich also darauf einstellen, nicht nur als Charakter, sondern auch als SpielerIn am meisten „Stress“ zu erleben.

Wenn allerdings alle SpielerInnen bereit sind, sich auf diese Art des Spiels einzulassen, und gemeinsam an einem Strang ziehen, dann wird auch die SpielerIn der Brücke die Gelegenheit haben, in die Spielwelt abzutauchen. Das stimmt für ViewScream im gleichen Maße wie für alle kollaborativen Storygames. Man sollte also vorher abwägen, ob diese Art Spiel für die eigene Gruppe geeignet ist.

Hat man sich allerdings entschlossen, das Experiment zu wagen, so lässt einen ViewScream nicht hängen. Das Buch enthält eine ganze Reihe von Tipps, was man tun kann, um das Spiel möglichst flüssig und atmosphärisch dicht zu gestalten. Hierbei wird eine breite Reihe von Möglichkeiten besprochen. So wird beispielsweise empfohlen, dass der oder die aktuelle SprecherIn immer direkt in die Webcam schauen sollte, um den Eindruck einer direkten Kommunikation über Videobildschirm zu verstärken. Ein kleiner Tipp, der aber tatsächlich große Wirkung zeigt, da die meisten Menschen dazu tendieren, bei Videochats auf die Bilder der anderen SpielerInnen zu schauen, die meistens seitlich am Bildschirmrand oder im unteren Bereich angeordnet sind, so dass man sich nie direkt ansieht.

Von dieser Art Tipps gibt es eine ganze Reihe, die von der Erfahrung und dem Auseinandersetzen mit dem Medium zeugen, das hier benutzt wird. Aber auch generelle Hinweise zum Gestalten eines Spannungsbogens, dem gemeinsamen Erzählen in einem Freeform-Rollenspiel oder dem Umgang mit Spotlight-Verteilung werden angesprochen, womit der Band auch generell für Fans dieser Art des Rollenspiels interessant ist.

Spielbarkeit aus SpielerInnensicht

Für die SpielerInnensicht gilt ähnliches wie für die Spielleitung. Wenn man bereit ist, sich auf das generelle Prinzip einzulassen, und diese Art von Freeform-Spiel mag, dann kann man ein enorm immersives und spannendes Spiel erleben. Man muss allerdings bereit sein, auf die gefühlte Sicherheit von Werten, abstrakten Lebenspunkten etc. zu verzichten und bereit sein, seinen Charakter auch sehenden Auges in die Katastrophe zu führen.

Gerade der letzte Punkt ist essenziell, damit ein möglichst spannendes und bereicherndes Spiel entsteht. In ViewScream gibt es für den Charakter wenig zu gewinnen. Das Beste, worauf er oder sie hoffen kann, ist es, mit knapper Not von einem zum Untergang verdammten Raumschiff zu entkommen. Der Feind des Szenarios kann in der Regel nicht final besiegt werden, und das Überleben einiger weniger wird mit dem Leben von Freunden bezahlt werden müssen.

Als SpielerIn tut man also gut daran, die Schönheit im Scheitern zu suchen, statt zu versuchen, das Spiel zu gewinnen. Bei diesem Scheitern wird man allerdings an die sprichwörtliche Hand genommen. Das Regelbuch widmet beispielsweise ein ganzes Kapitel dem Thema „Wie erfinde ich Technobabble“, also quasi pseudowissenschaftliches Gerede ohne echten Hintergrund. Wer jemals die Crew der Enterprise von Quantenfluktuationen im Subraumspektrum hat reden hören, weiß, worum es hier geht.

Aber auch der Szenariobogen selbst gibt Hilfestellungen wie zum Beispiel exakte Konversationstrigger, die dem Gegenüber einen Hinweis geben, worauf man hinauswill. So könnte beispielsweise die SpielerIn der Brücke wissen, dass der oder die ErsteR OffizierIn gegen ihn oder sie intrigiert, und die Hintergründe mit der Aufforderung „Nun sag endlich die Wahrheit, verdammt noch mal“ preisgeben werden. Dieser Trigger kommt außerdem mit einem Hinweis, wann er am wirkungsvollsten eingesetzt werden kann.

Insgesamt ist es ViewScream sehr gut gelungen, seinen Freeform-Ansatz so zugangsfreundlich wie möglich zu gestalten. Dies ist dringend notwendig, da diese Art Rollenspiel noch immer ein Nischendasein führt. Hier gibt sich ViewScream aber keine Blöße und legt die Messlatte für andere Spiele hoch an.

Erscheinungsbild

Das Spiel wird exklusiv über DriveThruRPG vertrieben und liegt ausschließlich in digitaler Form vor. Mit 56 Seiten ist es eine eher kurze PDF, das – wäre es gedruckt – wohl im Digest-Format (circa DIN A5) ausgeliefert werden würde. Der Text ist recht groß gedruckt, gut leserlich und wird alle paar Seiten durch schwarz-weiße Illustrationen aufgelockert. Die Qualität der Illustrationen ist gut, aber nicht überragend. Insgesamt also definitiv kein Spiel, das man für sein Artwork allein kaufen würde. Andererseits erlaubt es sich keine groben Layoutschnitzer. Leider wurden keine internen Links gesetzt, so dass es mitunter schwer sein kann, eine bestimmte Textpassage direkt zu finden. Dies fällt bei der Kürze aber nicht stark ins Gewicht, zumal man nicht während des Spiels bestimmte Regeln nachschlagen muss.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Neoplastic Press
  • Autor(en): Rafael Chandler
  • Erscheinungsjahr: 2016
  • Sprache: Englisch
  • Format: PDF
  • Seitenanzahl: 56
  • ISBN: N/A
  • Preis: Pay What You Want
  • Bezugsquelle: DriveThruRPG

 

Bonus/Downloadcontent

ViewScream hat eine ganze Reihe von nützlichen Erweiterungen. Sowohl die erste Edition als auch ein Szenarioband sind als Pay-What-You-Want zu beziehen. Außerdem werden bei der PDF noch Overlays für Videochats und spielergeeignete PDFs für jedes einzelne Szenario mitgeliefert. Insgesamt ein vorbildliches Gesamtpaket.

Fazit

ViewScream ist ein spielleitungsloses Horror-Rollenspiel, bei dem alle TeilnehmerInnen Mitglieder eines zum Untergang verurteilten Raumschiffs sind. Sie können sich nur über Videochat miteinander besprechen und versuchen, Lösungen für lebensbedrohliche Probleme zu finden. Die Crew hat einige möglichen Lösungen, aber nicht alle werden funktionieren, so dass es nicht jedeR lebend schaffen wird. Insgesamt sind die Karten in jedem der mitgelieferten Szenarien gegen die Crew gemischt, die sich nicht nur mit externen Gefahren, sondern auch mit ihrer eigenen Vergangenheit und ihrer KameradInnen auseinandersetzen muss. Genug Stoff also, um einen kurzen, aber intensiven Spielabend zu gestalten.

Als Storygame setzt ViewScream vollkommen auf Immersion und verzichtet als Freeform RPG vollständig auf klassische Regeln. Es gibt lediglich Leitlinien, wie eine solche Runde funktionieren kann. Alle SpielerInnen haben somit gemeinsam die Verantwortung dafür, dass dabei ein spannender Spielabend herumkommt.

Sowohl was die Stimmung als auch die Technik angeht, wird ViewScream damit zu dem idealen Spiel für die Pandemiezeit, in der ohnehin nahezu alle Runden virtuell stattfinden. Warum also nicht mal das Medium und seine Eigenheiten nutzen, statt nur zu tolerieren? Zumal es jeder momentan gratis ausprobieren kann. Insgesamt ein tolles Produkt, um einen Einstieg in das Thema Freeform zu wagen.

 

Artikelbilder: © Neoplastic Press, Satz: Annika Lewin, Lektorat: Simon Burandt
Dieses Produkt wurde privat finanziert.

2 Kommentare

    • It was my pleasure. It is a really great game. May I ask how you found this review? Wouldn’t have thought that you read German webzines ;-)

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein