Geschätzte Lesezeit: 10 Minuten

Wer dem kosmischen Horror ins Gesicht schaut, muss durchdrehen. Diesem Mantra folgen viele Umsetzungen der Mythosgeschichten als Rollenspiel. Fate of Cthulhu geht einen anderen Weg und gibt Spielgruppen Werkzeuge in die Hand, um mit reellen Chancen das Übel der Invasion eines Großen Alten abzuwehren – koste es, was es wolle.

Ich mag viele Geschichten von Lovecraft, sei es in der Originalfassung oder als eine der mannigfaltigen Umsetzungen in unterschiedlichen Medien, ebenso wie die vielen Referenzen und Anspielungen zum Mythos, sowie diverse Neuinterpretationen und andere Verarbeitungen des Themas. Allerdings fremdle ich mit dem starken, in den mir bekannten Rollenspielen verankerten Klischee, dass der Kampf gegen die Großen Alten aussichtslos sein muss und ein menschlicher Verstand angesichts der geballten Macht kosmischen Horrors zwangsläufig zerbricht. Ich konnte mir bisher unter diesem Blickwinkel keine langfristige Kampagne vorstellen und habe mich immer gefragt, wozu man lange Waffenlisten benötigt, wenn diese angesichts eines Großen Alten sowieso nicht genug Schaden machen und falls doch, die SCs psychisch nicht mehr in der Lage sind zu kämpfen.

Dementsprechend begeistert war ich, als ich von der Umsetzung mit Fate erfuhr, denn das System steht für die Stärkung der Spielenden und kompetente Protagonist*innen, was dem üblichen, eher fatalistischen Ansatz entgegensteht. Fate of Cthulhu bricht an einigen Stellen mit meinen Erwartungen – ob im Guten oder Schlechten, wird sich zeigen.

Die Spielwelt

Die bekannteste Cthulhu-Umsetzung Call of Cthulhu liefert mittlerweile in der 7. Auflage eine Menge an Hintergrund zum Spiel in unterschiedlichen Zeitepochen. Fate of Cthulhu verlagert das Spielgeschehen zunächst in die nähere Zukunft – und zwar in eine apokalyptische, in welcher der kosmische Schrecken bereits über die Menschheit gesiegt hat. Den wenigen Überlebenden bleibt keine andere Chance mehr, als mit der Hilfe eines weiteren, uralten Wesens namens „Yog-Sothoth“ und seiner fremdartigen Magie in die Zeit zurückzureisen und zu versuchen, die Apokalypse zu verhindern, selbst wenn das bedeutet, dass sich der eigene Körper und Verstand durch das Einwirken der Kräfte von Yog-Sothoth nach und nach immer mehr verformen.

Es werden insgesamt fünf unterschiedliche Kampagnen (die als „Zeitlinien“ beschrieben werden) mitgeliefert, die jeweils einer bekannten Figur aus dem Cthulhu-Mythos gewidmet sind: Cthulhu, Dagon, Shub-Niggurath, Nyarlathotep und Hastur, der König in Gelb.

NSC mit Bild und Werten.

Die Beschreibungen der Kampagnen beschränken sich dabei auf die Agenda des zentralen und der Neben-Antagonisten. Dabei wird einmal die Sichtweise der Überlebenden und ihre Annahmen über die zentralen Ereignisse in der Vergangenheit geschildert und dann nochmal aus SL-Sicht, was wirklich dahintersteckt. Zwischen beiden gibt es teilweise kleine, aber auch sehr eklatante Unterschiede. Die Konfrontation der SCs mit diesen, ihnen unbekannten, Abweichungen sollen dann für interessante Situationen und Komplikationen während der einzelnen Szenarios sorgen, die allerdings nicht detailliert ausgearbeitet sind. Jedes Ereignis einer Zeitlinie wird in knapp einer Seite abgehandelt, die einzelnen Katalysatoren (siehe unten) und die NSCs beschrieben. Wer sich als SL strikt an die Aufgaben hält und die einzelnen Ereignisse jeweils innerhalb von einem Abend durchspielt, der kann die Kampagne damit theoretisch in fünf bis zehn Spielsitzungen beenden. Je nachdem, wie viel zusätzlichen Aufwand man hineinsteckt, wie detailliert die Gruppe Szenen ausspielt und wie sich die Aktionen auf andere Zeitlinien ausweiten, kann sich die Spielzeit locker verdoppeln. Was konkret passiert, welche Orte eine Rolle spielen, welche Verschwörungen der Kultist*innen sich konkret der Gruppe in den Weg stellen, bleibt der Spielleitung zur detaillierten Ausarbeitung oder zur Improvisation während des Spiels überlassen.

Die Startzeiten der Kampagnen und der Punkt, von welchem aus die Charaktere zurückreisen, liegt zwischen 2020 und 2030. Dadurch, dass nicht mehr als 30 Jahre zurückgereist werden kann, spielt man also faktisch in unserer Zeit beziehungsweise der früheren Vergangenheit. Dementsprechend wird auch auf detaillierte Beschreibungen der Spielwelt verzichtet und der Fokus stattdessen auf für die Kampagnen relevante Fakten gelegt. So sind alle in den Texten der Zeitlinien erwähnten Personen und Gruppen als ausgearbeitete NSCs mit entsprechenden Wertekästen und größtenteils auch Illustrationen ausgestattet.

Zwei Themen sind beim Umgang mit dem Lovecraft’schen Mythos unvermeidlich: der Komplex „Wahnsinn“ und „Lovecraft als Rassist“. Beidem ist in Fate of Cthulhu jeweils ein eigener Abschnitt gewidmet und wird mit entsprechendem Fingerspitzengefühl behandelt – besonders die Abkehr vom sprichwörtlichen „Wahnsinn“ zugunsten der allgemein gehaltenen Korruption. Dadurch kann die Falle der allzu klischeebeladenen Sichtweise auf psychische Erkrankungen umgangen werden.

Die Regeln

Fate of Cthulhu basiert auf Fate Core, dessen Grundregeln auf rund 40 Seiten knapp zusammengefasst, aber gut verständlich aufbereitet wurden.

Fate Core basiert auf dem narrativen Element der „Aspekte“ – Schlagwörter oder kurze Sätze, mit denen ein Charakter zusätzlich zu seinen Fertigkeitswerten beschrieben wird. Ein Aspekt kann einen +2 Bonus auf den Würfelwurf geben oder von der Spielleitung „gereizt“ werden, um als narrative Komplikation die Geschichte zu verändern. Hierfür bekommt der*die Spieler*in einen Fatepunkt, mit welchem man wiederum Aspekte nutzen kann. Der Wurf einer Fertigkeit erfolgt mit vier sogenannten Fudge-Würfeln, die mit (-), (0) und (+) bedruckt sind. Damit erhält man einen Wert von -4 bis +4. Dieser wird mit Modifikatoren aus besonderen Umständen, +2 pro eingesetztem Aspekt und gegebenenfalls weiteren Boni aus besonderen Fähigkeiten für spezielle Situationen („Stunts“) verrechnet und mit einem Zielwert (meist zwischen 0 und 4) verglichen. Aspekte werden nicht nur für Spielfiguren genutzt, sondern können für prinzipiell alle möglichen Teile in der Spielwelt stehen, wie Orte, Situationen und Gegenstände. Dementsprechend spielen Aspekte im Kampf gegen das kosmische Grauen eine große Rolle.

Zusätzlich gibt es eine Reihe von spezifischen Setting-Regeln, die wesentlich detaillierter erläutert werden. Für den Umgang und der für Fate recht komplexen Verwaltung der Zeitlinien gibt es einen gesonderten Abschnitt für die SL. Folgende Regeln kommen dazu:

Korruption

Wer mit der Magie von übermächtigen, kosmischen Wesen und Veränderungen der Zeitlinie herumspielt, zahlt dafür einen hohen Preis. Dieser macht sich als schleichende Veränderung in Physis und Psyche der Protagonist*innen bemerkbar. Dies wird durch die sogenannte „Korruptionsuhr“ abgebildet, eine Spieltechnik, die unter anderem auch in Blades in the Dark genutzt wird.

Korruptionsuhr auf dem Charakterbogen.

Bei bestimmten Aktionen, wie beispielsweise „Zauber wirken“ oder „Verwendung von Korruptionsstunts“, wird diese Uhr langsam aufgefüllt. Ist sie voll, muss der Charakter einen Aspekt korrumpieren – also einen vorhandenen Aspekt dergestalt umändern, dass klar ist, wie der SC unter den Einfluss eines Großen Alten steht. Wie üblich haben auch diese Aspekte negative und positive Auswirkungen: Ein Klauenarm beispielsweise kann im Kampf hilfreich sein, wird aber auch sehr schnell Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Magie

Magie ist in diesem Setting ebenfalls an Korruption gekoppelt: Schon der Versuch eines Zaubers oder Rituals kostet Korruption. Geht der Versuch schief, wird das als Rückschlag auf den*die Anwender*in zurückgeworfen. Bei Ritualen kann die Chance, den Folgen eines Rückschlags zu entgehen, deutlich gesenkt werden – was erklärt, warum die Anhänger*innen der Großen Alten oft auf viele Teilnehmende für mächtige Rituale zurückgreifen.

Zeitlinien

Das Ziel jeder Kampagne ist, den durch die Ankunft eines Großen Alten oder eines anderen kosmischen Schreckens besiegelten Untergang der Welt zu verhindern. Um das zu erreichen, reisen die SC zurück in der Zeit und versuchen dort, Schlüsselereignisse zu verändern, die wiederum Einfluss auf die Zukunft haben und im Idealfall die Apokalypse verhindern.

Wer will angesichts solcher Zustände nicht lieber in eine andere Zeit flüchten?

Wer den einen oder anderen Zeitreisefilm gesehen hat, weiß um die diffizile Logik von Zeitreisen. Das bei Fate of Cthulhu verwendete Modell geht davon aus, dass die Protagonist*innen in der Lage sind, durch Eingriffe in der Vergangenheit ihre eigene Zukunft zu ändern. Auf mögliche Paradoxa wird nur am Rande eingegangen und sollte wohl auch – in Rücksicht auf die psychische Gesundheit der Spielenden – kein zentrales Thema im Spiel sein. Viel entscheidender ist die Frage, wie welche Ereignisse verhindert werden und welche Auswirkungen sie haben.

Vorlagenblatt für die Zeitlinie.

Hier wird der Spielleitung mit den Mechaniken der „Zeitlinie“ ein Instrument an die Hand gegeben, um damit eine möglichst faire Abschätzung der Erfolgsaussichten und Auswirkungen auf die Zukunft zu geben.

Die fünf Kampagnen sind bereits zum Eintragen in das Zeitlinienblatt vorbereitet und bestehen immer aus fünf Ereignissen, von denen das zentrale, zu verhindernde Ereignis der Aufstieg und damit letztlich die Ankunft des Großen Alten ist. Jedes Ereignis besteht aus vier sogenannten „Katalysatoren“ mit Werten von (+) über (0) bis (-) entsprechend der Würfelsymbole bei Fate.

Beispiel für Zeitlinienkatalysatoren.

Aus den Werten der Katalysatoren ergeben sich die Ereigniswerte. Dabei werden die Werte gegeneinander verrechnet, sodass ein Ereignis mit Katalysatoren (+), (-), (-), (0) einen Gesamtwert von -1 ergibt. Das zentrale Ereignis beginnt immer mit -2 und das Ziel der Kampagne ist, den Wert so weit wie möglich zu erhöhen, um die Ankunft des Großen Alten zu verhindern oder wenigstens abzuschwächen. So wird der Kampf der Menschen in der Zukunft etwas aussichtsreicher gemacht.

Am unteren Rand des Bogens befindet sich die Zeitlinienleiste, die aufgrund bestimmter, vordefinierter Aktionen zu Gunsten oder zu Ungunsten der SCs ebenfalls mit (+) oder (-) gefüllt wird. Daraus wiederum ergeben sich „Wellen“, welche die Veränderungen der SC-Eingriffe auf die Zeitlinien abbilden. Die Aufgabe der Spielleitung besteht darin, diese Wellen zwischen den Sitzungen auf die Ereignisse zu verteilen und die Werte und Aspekte entsprechend so anzupassen, dass sie narrativ das Geschehene widerspiegeln und sich entsprechende Auswirkungen aus den Aktionen der Spielenden auf andere Zeitverläufe ergeben.

Charaktererschaffung

Charaktere werden nach den Regeln aus Fate Core erstellt und erhalten als zusätzlichen Aspekt zu Konzept und Dilemma noch eine Beziehung zu einem SC.
Außerdem gibt es die Fähigkeit „Mythoswissen“, die vor allem für Magie und Technologie der Großen Alten verwendet wird. Wer bereits zu Spielbeginn einen oder mehrere korrumpierte Aspekte in Kauf nimmt, kann direkt auf Magie oder korrumpierte Stunts zugreifen, mit denen übernatürliche Aktionen möglich sind.

Erscheinungsbild

Das Buch ist wie die anderen Fate-Produkte vom Uhrwerk Verlag auf Hochglanzpapier gedruckt, stabil gebunden und mit einem Lesebändchen versehen. Auch das Layout folgt der Produktlinie, die Kapitel sind klar getrennt und am rechten Rand nochmal hervorgehoben, um das schnelle Nachblättern zu erleichtern.

Wer in der Zeit reist, kommt nackt an.

Die Illustrationen sind in einem teilweise etwas verwaschen wirkenden Comicstil gehalten und stechen nicht gerade durch eine besonders hohe, zeichnerische Qualität hervor. Dafür sind sie zahlreich und thematisch immer passend zum Inhalt. Beim Zeitlinienbogen wurde eine sehr enge Schrift benutzt, wodurch man zum Beispiel den entscheidenden Begriff „Wellen“ nicht gut erkennen kann und dadurch Probleme hat, die entsprechende Regel zu verstehen.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Uhrwerk Verlag
  • Autor*in(nen): Stephen Blackmoore, PK Sullivan, Edward Turner, Leonard Balsera, Misha Bushyager, Sophie Lagacé
  • Erscheinungsjahr: 2020
  • Sprache: Deutsch/Englisch
  • Format: DIN A5 Hardcover
  • Seitenanzahl: 261
  • ISBN: 978-3958672123
  • Preis: 34,95 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon, Sphärenmeister, idealo

 

Bonus/Downloadcontent

Charakter- und Zeitlinienbögen findet man als PDF auf faterpg.de.

Fazit

Mit Fate of Cthulhu wird der ganze Themenkomplex des Mythos mit einer apokalyptischen Ausgangsbasis und Zeitreisen verknüpft. Der Bezug auf Zukunft und Jetztzeit bringt eine neue, unverbrauchte Sichtweise mit sich, wenn man sich dafür öffnen kann.

Der Ansatz, dass die Menschheit angesichts des einbrechenden kosmischen Horrors nicht ganz dem Untergang geweiht ist und es in der Hand der Protagonist*innen liegt, die Apokalypse abzuwenden, entspricht einer pulpigen Spielweise, welche hier mit einem Setting in der nahen Zukunft kombiniert wird.

Das eingesetzte System scheint allerdings leicht überfrachtet und etwas zu kompliziert. Wer sich darauf einlassen möchte und dazu noch passende Mitspielende findet, muss zusätzlich noch einigen Aufwand in die Vorbereitung der einzelnen Abenteuer stecken. Dadurch, dass ganze fünf durchstrukturierte Kampagnen nebst NSC-Werten und vielen Aspekten enthalten sind, ist nicht genug Platz für die Ausarbeitung konkreter Szenarios – da wäre weniger mehr gewesen.

Wer sich auf all das einlassen kann, findet aber ein gut aufbereitetes, in sich schlüssiges Setting mit ein paar neuen Regelansätzen.

Dieser Ersteindruck basiert auf der Lektüre des Buches. Ein Spieltest wird folgen.

  • Erfrischend neuer Blick auf das Thema
  • Gleich fünf komplette Kampagnenkonzepte
  • Interessante und pragmatische Korruptionsmechanik
 

  • Grobes Kampagnenkonzept erfordert viel Zusatzarbeit
  • Zeitlinienverwaltung zu komplex für ein narratives System

 

Artikelbilder: © Grafiken Uhrwerk Verlag
Layout und Satz: Melanie Maria Mazur
Lektorat: Katrin Holst
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

1 Kommentar

  1. – dann bin ich mal gespannt, ob und wie sich das für system-crossover eignet… aber, sagt mal: schreiben die herrschaften Blackmore et al. denn alle so gut deutsch, oder wurde da noch Google Translate zwischengeschaltet? oder wie? #namethetranslator

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein