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Als Charakter in einem Pen-and-Paper-Rollenspiel trägt man immer wieder die verschiedensten physischen Verletzungen davon. Das gehört zu einem Leben als Abenteurer*in dazu und lässt sich kaum vermeiden. Doch wie sieht es mit der Psyche aus? Gehören entsprechende Erkrankungen an den Rollenspieltisch, und wenn ja, wie baut man sie ein?

Verletzungen sind für Abenteurer*innen vieler Rollenspielsysteme schon fast alltäglich. Im Kampf trägt man die ein oder andere Wunde davon, oder man verletzt sich aufgrund einer misslungenen Probe. Diese Beeinträchtigungen lassen sich je nach Rollenspiel schneller oder langsamer kurieren, doch in den meisten Fällen kann der Charakter danach weitermachen wie zuvor – sie sind somit von temporärer Natur. Doch neben dem Körper darf die Psyche nicht vergessen werden. Diese kann ebenso Verletzungen davontragen, und manche sind nicht temporär: psychische Erkrankungen. Sie können viele verschiedene Formen annehmen und das Leben eines Menschen mal mehr, mal weniger stark beeinträchtigen. Lassen sich solche Erkrankungen in das Rollenspiel einbauen, und wenn ja, wie? Ganz wichtig ist: Wenn man sich entscheidet, psychischen Erkrankungen einen Platz im eigenen Rollenspiel zu geben, dann muss man sich zuvor damit auseinandersetzen und respektvoll mit dem Thema umgehen.

Triggerwarnung: In diesem Artikel werden verschiedene psychische Erkrankungen thematisiert und behandelt. Dies sollte dir bewusst sein, wenn du selbst davon betroffen bist und/oder dich bei diesem Thema nicht wohlfühlst.

Was sind psychische Erkrankungen?

Es existiert keine genaue Definition, was psychische Erkrankungen oder Störungen ausmacht. Aber es gibt eine Reihe von Merkmalen, die sie alle gemeinsam haben und zusammen betrachtet werden müssen: statistische Seltenheit, persönliches Leid, Beeinträchtigung der Lebensführung, Verletzung von sozialen Normen und unangemessenes Verhalten. Eine psychische Erkrankung verändert demnach das Verhalten und das Erleben einer Person. „Erleben“ umfasst hierbei die Aspekte Denken, Gedächtnis, Gefühle und Aufmerksamkeit. Jeder dieser Bereiche kann bei einer solchen Erkrankung betroffen sein.

Häufige psychische Erkrankungen sind beispielsweise Angststörungen, Zwangsstörungen oder Psychosen, aber auch Suchterkrankungen und Essstörungen.  

Auch Süchte zählen zu den psychischen Erkrankungen © alptraum
Auch Süchte zählen zu den psychischen Erkrankungen. © alptraum

Gegen die Stigmatisierung

Personen mit psychischen Erkrankungen sind Menschen wie alle anderen auch. Sie verdienen Respekt, dass würdevoll mit ihnen umgegangen wird und sollten nicht aufgrund von Klischees stigmatisiert werden. Viele neigen dazu, von einzelnen auf alle zu schließen: Wenn eine schizophrene Person eine schlimme Straftat begeht, dann entsteht schnell das Vorurteil, dass jeder Mensch mit Schizophrenie jederzeit das Gleiche tun könnte. Dabei ist jeder Fall individuell und die Krankheit muss noch nicht einmal der Grund gewesen sein. Film und Fernsehen tragen durch ihre Verwendung von Klischees dazu bei, wobei der Trend inzwischen in die entgegengesetzte Richtung zu gehen scheint. Im Bereich der Videospiele sind vor allem Indiespiele wie das Textadventure Depression Quest positiv hervorzuheben, da sie versuchen, psychische Erkrankungen möglichst realistisch darzustellen.

Es ist bei diesem Thema immer wichtig zu differenzieren, offen zu sein und sich zu informieren. Das fördert nicht zuletzt das Verständnis, denn Betroffene brauchen Unterstützung, keine Ablehnung. Im Rollenspiel sollte man damit nicht anders umgehen. 

Get your facts straight! – Schizophrenie ist nicht gleich multiple Persönlichkeit

Wenn man einen Charakter mit einer psychischen Erkrankung in das Spiel einbauen möchte, dann ist es absolut unerlässlich, sich zuvor einige Gedanken zu machen. Auf keinen Fall sollte man diesen Charakter anhand vorherrschender Vorurteile und Klischees konzipieren. Psychische Erkrankungen müssen ernst genommen und nicht verwendet werden, um sich einen Spaß daraus zu machen. Mit einem gewissen Maß an Recherche sensibilisiert man sich für das Thema und bekommt Ideen, wie der Charakter dargestellt werden kann, ohne es in Respektlosigkeit ausarten zu lassen. An dieser Stelle steht bewusst ein, „kann“, denn zum einen haben viele psychische Erkrankungen verschiedene, individuelle Ausprägungen. Zum anderen kann man als nicht betroffene Person kaum, wenn überhaupt, nachvollziehen, wie es ist, eine solche Erkrankung zu haben.

Warum es so wichtig ist, sich im Vorfeld zu informieren, zeigt das Beispiel der Schizophrenie und der dissoziativen Identitätsstörung oder kurz DIS (früher: multiple Persönlichkeit). Das Wort Schizophrenie ist für viele gleichbedeutend mit einer DIS, sie denken dabei an eine gespaltene Persönlichkeit. Beide weisen zwar gewisse Ähnlichkeiten auf, doch insgesamt unterscheiden sie sich sehr voneinander. Dieser Irrtum könnte aus der Bedeutung des Wortes „Schizophrenie“ entstanden sein, was in etwa mit „gespaltene Seele“ übersetzt werden kann.

Ebenso ist die Verwendung der Worte Schizophrenie oder schizophren als Beleidigung oder Abwertung absolut nicht akzeptabel und zeugt von Unverständnis und fehlendem Wissen über diese Erkrankung.

Psychische Erkrankung als SC

Manche Rollenspiele wie etwa Cthulhu haben Mechaniken, um die geistige Stabilität der Charaktere abzubilden. Traumatische Erlebnisse wirken sich negativ auf diese Stabilität aus, was schließlich zum endgültigen, unumkehrbaren Wahnsinn führt. In Cthulhu bedeutet dies meist, dass der Charakter den Rest seines Lebens in einer Psychiatrie verbringen wird, da sein Zustand so ernst ist, dass er weder geheilt noch nennenswert verbessert werden kann. Aber auch zuvor wirken sich die schrecklichen Erlebnisse auf die Psyche der Charaktere aus: So können Phobien oder Zwänge zu einem bestimmten Aspekt entwickelt werden, beispielsweise eine Angst vor Zugreisen oder eine übertriebene Begeisterung für Pflanzen. Solche Phobien und Zwänge lassen sich recht gut in das Rollenspiel integrieren, solange es sich nicht um einen sehr häufigen Auslöser handelt. Dennoch muss beachtet werden, dass Ursachen und Verläufe meist nicht der Realität entsprechen, nicht zuletzt aufgrund der fiktiven Komponente des Cthulhu-Mythos.

In anderen Systemen wie Things from the Flood ist es bereits bei der Charaktererstellung möglich, eine psychische Erkrankung einzubauen.

Klaustrophobie zählt, auch im Rollenspiel, zu den häufigsten Ängsten © ginasanders
Klaustrophobie zählt, auch im Rollenspiel, zu den häufigsten Ängsten. © ginasanders

Andere Rollenspielsysteme ignorieren die Psyche der Charaktere. Doch wenn man sich einmal überlegt, was viele von ihnen während ihrer Abenteuerjahre erleben, dann würden die meisten im realen Leben vermutlich unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Aber eben dies ist ein Grund, ein solches System zu bevorzugen: Man spielt keine normalen Menschen, die sich mit normalen Problemen herumschlagen müssen, sondern Held*innen. Dagegen ist nichts einzuwenden, schließlich ist es ein Hobby das sich alle so gestalten können sollten, wie sie sich am wohlsten damit fühlen.

Falls man nun aber doch einmal etwas anderes ausprobieren möchte, so besteht die Möglichkeit, einen Charakter zu spielen, der unter einer psychischen Erkrankung leidet. Doch man sollte einige Dinge beachten, bevor der Charakter schließlich am Spieltisch zum Einsatz kommt.

Der erste Schritt sollte sein, mit der Gruppe abzusprechen, ob die Darstellung und das Thematisieren eines solchen Themas für alle in Ordnung ist. Nicht jede*r fühlt sich damit wohl, manche sind vielleicht sogar direkt oder indirekt betroffen. Doch ebenso können Betroffene in der Gruppe damit einverstanden sein und einen lockeren Umgang damit befürworten. Eine offene Kommunikation ist wichtig, und falls es nicht jede*r möchte, muss die Idee wieder verworfen werden.

Ist dies nicht der Fall, dann geht es darum, die Erkrankung festzulegen. Im Internet findet man genügend Listen, Artikel und Texte, mit denen man sich auseinandersetzen kann, und das sollte man unbedingt tun. Auf keinen Fall sollte der Charakter durch seine Erkrankung ins Lächerliche gezogen oder als Witzfigur dargestellt werden. Auch sollte man sich seriöser Quellen bedienen. Gerade bei Film und Fernsehen sollte man vorsichtig sein, ob sie ein klischeehaftes, übersteigertes Bild psychischer Erkrankungen zeigen. Sowohl ein gewisses Verständnis als auch Wissen über die Krankheit ist wichtig, um den Charakter darstellen zu können. Dann ist es möglich, dass er für großartiges Rollenspiel sorgt, das wertvolle Erlebnisse für alle Spielenden bietet.

Bei den Recherchen wird sich jedoch herausstellen, dass nicht jede psychische Erkrankung im Rollenspiel dargestellt werden sollte oder kann. Ein Charakter, der unter einer schweren Form einer solchen Erkrankung leidet, lässt sich kaum logisch in eine Gruppe integrieren. Die Gründe hierfür sind so vielfältig wie die Krankheiten selbst. Der Charakter ist beispielsweise unberechenbar oder nicht fähig, rationale Entscheidungen zu treffen. Eine Frage, die man als Spieler*in immer beantworten können sollte ist: Warum ist der Charakter in der Welt unterwegs, anstatt sich in irgendeiner Form der Therapie zu befinden?

Unter diesem Aspekt ist es vermutlich die beste Idee, einen Charakter zu verkörpern, der entweder unter einer leichten Form einer psychischen Erkrankung leidet, die ihn nicht allzu sehr einschränkt, oder der bereits erfolgreich therapiert wird, sodass er mit seiner Krankheit umgehen kann.

Für Spieler*innen, die sich gerne detaillierte Hintergründe ihrer Charaktere ausdenken, bieten psychische Erkrankungen eine weitere Möglichkeit, da alle von ihnen Ursachen haben, die bisher mehr oder weniger bekannt sind. Eine solche Vergangenheit wird jedoch nicht nur fröhlich, sondern auch traurig, tragisch oder schrecklich gewesen sein.

Diese Charaktere sollten immer mit der Spielleitung abgesprochen werden. So kann diese sich ebenfalls über die Erkrankung informieren und weiß, was auf sie zukommt. Zudem kann sie Szenen einbauen, die auf den Charakter zugeschnitten sind. Sie sollte sich aber immer bewusst sein, dass ein solcher Charakter stets das Potenzial hat, im Fokus zu stehen. Die Krankheit sollte während des Spielens nicht vernachlässigt, aber auch nicht ständig thematisiert werden. Zum einen, da man nicht nur darauf reduziert werden sollte, und zum anderen, damit die anderen Spieler*innen und ihre Charaktere nicht das Gefühl haben, zu kurz zu kommen.

Jeder Rollenspielcharakter hat seine Probleme, auch wenn man sie ihm nicht unbedingt auf den ersten Blick ansieht © aarrows
Jeder Rollenspielcharakter hat seine Probleme, auch wenn man sie ihm nicht unbedingt auf den ersten Blick ansieht. © aarrows

Psychische Erkrankung als NSC

Für die Spielleitung ergibt sich durch das Einbauen von psychischen Erkrankungen die Möglichkeit, besondere Charaktere oder Situationen zu kreieren. Bevor dies geschieht, muss natürlich auch hier eine Absprache mit der Gruppe stattfinden, und Recherche ist ebenso notwendig.

Das Thema psychische Erkrankung kann ebenso der Aufhänger oder gar der Plot eines Szenarios sein. Ein oder mehrere Charaktere könnten etwa fälschlicherweise in einer Psychiatrie gelandet sein. In einem mittelalterlichen Setting könnte eine Person mit einer psychischen Erkrankung um die Hilfe der Charaktere bitten, da sie aufgrund ihrer Krankheit von engstirnigen Dörfler*innen bedroht wird. Es bieten sich viele Möglichkeiten für die Spielleitung, dieses Thema auf sowohl subtile als auch weniger subtile Weise einzubauen.  

Abschließende Worte

Psychische Erkrankungen sind ein schwieriges Thema, das mit Feinfühligkeit und Respekt behandelt werden muss. Dennoch darf es nicht totgeschwiegen werden, denn noch heute sind viele Erkrankungen, welche die Psyche betreffen, in der Gesellschaft mit Vorurteilen und Stigmata behaftet. Die eigene Gruppe für dieses Thema zu sensibilisieren kann ein kleiner, aber wichtiger Schritt in die richtige Richtung sein. Dennoch sollte jede Gruppe für sich selbst entscheiden, ob und wie viel Platz psychische Erkrankungen an ihrem Spieltisch haben.

 

Artikelbilder: depositphotos © Wie gekennzeichnet
Layout und Satz: Roger Lewin
Lektorat: Simon Burandt

2 Kommentare

  1. Zum Thema: „ Es existiert keine genaue Definition, was psychische Erkrankungen oder Störungen ausmacht.“ Ich würde dazu gern ergänzen, dass es sehr wohl, eine Klassifizierung von psychischen Störungen bzw. Krankheiten gibt. Die ICD 10, bzw. 11 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) der WHO (Link: https://www.who.int/standards/classifications/classification-of-diseases) enthält auch die Beschreibungen von psychischen Erkrankungen. In den Vereinigten Staaten ist dafür eher der DSM 5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) üblich.

  2. „Verletzung von sozialen Normen und unangemessenes Verhalten“ sind keineswegs ein gemeinsames Merkmal aller psychischen Erkrankungen, ebenso wie „persönliches Leid“ keineswegs immer gegeben ist.
    Das mit der Definition ist tatsächlich ein Problem, das DSM und die ICD sind eher diagnostische Kataloge, „Symptomsammlungen“ – psychische Störungen sind sehr stark gesellschaftliche Konstrukte.
    Als jemand vom Fach sehe ich ernsthafte psychische Erkrankungen als wenig spielspaßfördernd für Spielercharaktere an – das Klischee-Potential ist ebenso groß wie die generelle Unkenntnis des Themas der meisten Leute, die nicht selbst mit psychischen Störungen zu tun haben, sei dies als Betroffene, Angehörige oder Professionelle.
    Von daher: für mich im Rollenspiel relevant eigentlich nur bei Nichtspielercharakteren.

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