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Nirvana im Ohr und die Schnullerkette um den Hals: Nach dem riesigen Erfolg von Tales from the Loop nehmen sich die Autoren mit den 90er Jahren das nächste ikonische Jahrzehnt vor. Aber Things from the Flood verspricht deutlich düsterer und erwachsener zu werden. Wir haben uns die aktuelle Beta einmal genauer angesehen.

2016 tauchte der schwedische Verlag Fria Ligan (oder auch Free League) bei Kickstarter mit einem besonderen Projekt auf. Tales from the Loop sollte ein Rollenspiel werden, bei dem die Spieler Kinder darstellen. Der schwedische Künstler und Autor Simon Stålenhag erschuf mit seiner Mischung aus Retrocharme und Mystery mit Science-Fiction-Elementen den perfekten Hintergrund für die Welt. Am Ende stand das Projekt nicht nur mit knapp 360.000 EUR Kapital aus dem Kickstarter da, sondern die Autoren und der Verlag konnten auch allerhand Preise einheimsen, darunter 5 ENnies in den Kategorien „Best Game“, „Best Setting“, „Best Writing“, „Best Internal Art“ und „Product of the Year“. Für viele zählt Tales from the Loop zu einem der besten Rollenspielprodukte.

Letztes Jahr ging Fria Ligan dann direkt mit dem offiziellen Sequel an den Start. Things from the Flood soll die logische Weiterführung ihres Prestigeprojekts sein, gleichzeitig aber auch als eigenständiges Produkt funktionieren. Mit diesem Konzept erreichte das Projekt dieses Mal auf Kickstarter sogar eine Summe von mehr als 400.000 EUR. Jetzt gibt es für die Backer endlich mit der Beta einen ersten Blick in das Grundregelwerk. Dieses beinhaltet schon sehr viel, allerdings fehlen noch das überarbeitete Kartenmaterial und ein Abenteuer im letzten Kapitel. Deshalb soll dieser Ersteindruck vorerst eine Tendenz für euch liefern. Ein genauerer Blick folgt sobald das fertige Produkt erschienen ist.

Die Spielwelt

Wer bereits Tales from the Loop gespielt oder gelesen hat, wird sich auch sofort in Things from the Flood wiederfinden. Für alle anderen fassen wir aber natürlich gern noch einmal zusammen: Wir befinden uns in einer alternativen Version der 1990er Jahre. Alternativ eigentlich nur in dem Sinn, als dass nach dem zweiten Weltkrieg sowjetische Wissenschaftler eine Entdeckung machten, den sogenannten „Magnetrine Effekt“.

„Einige Roboter wollen nicht länger Diener sein.“ ©Simon Stålenhag
„Einige Roboter wollen nicht länger Diener sein.“ ©Simon Stålenhag

Damit war es nicht nur möglich, gigantische Frachtschiffe über den Himmel schweben zu lassen, sondern die Entdeckung gab vor allem der Robotertechnik einen signifikanten Schub. Automatisierte Roboter, die das alltägliche Leben erleichterten, waren völlig normal in der Gesellschaft. Gleichzeitig wurden zwei gigantische wissenschaftliche Anlagen gebaut.

Im amerikanischen Boulder City und auf den schwedischen Mälaren-Inseln entstanden riesige Teilchenbeschleuniger, die aufgrund ihrer Form von vielen nur „Loops“ genannt wurden. Was dort genau erforscht wurde, blieb für viele zwar ein Rätsel, aber so genau wollte man dann auch nicht nachforschen, schließlich war ja alles streng geheim.

Während die Spieler in Tales from the Loop den wirtschaftlichen Aufschwung und das positive gesellschaftliche Klima erlebten, zieht Things from the Flood deutlich härtere Seiten auf. Die technischen Innovationen sind veraltet, Arbeitslosigkeit zieht in die Familien ein und die Loops sind privatisiert und verfallen nach und nach. Aus unterirdischen Löchern im Loop schwappt braunes und giftiges Wasser an die Oberfläche und in den USA kommt es am Hoover Damm zu einem schwerwiegenden Unfall. Gleichzeitig spielen einige der Roboter verrückt und üben sogar eine offene Revolte gegen ihre einstigen Herren. Viele machen dafür eine seltsame Seuche verantwortlich, die Maschinen und elektronische Geräte befällt. Und als ob das alles noch nicht genug wäre, stecken unsere Helden auch noch mitten in einer schweren Lebenskrise: der Pubertät.

Things from the Flood schlägt einen grundsätzlich anderen Ton an als sein Vorgänger, und dies ist auch gut so. Die Autoren müssen sich definitiv nicht gefallen lassen, dass sie einfach nur ihr Erfolgsrezept in die 90er Jahre verfrachten würden. Das wird direkt klar, wenn man sich die Grundprinzipien des Spiels ansieht, die am Anfang des Regelwerks stehen. Dort wo in Tales from the Loop noch kindlicher Entdeckerdrang im Vordergrund steht, ist der Kern des Sequels deutlich düsterer. Die Charaktere stehen vor großen Veränderungen, nicht nur bei sich selbst, sondern auch in ihren Familien und der Gesellschaft.

Die Abenteuer, die früher „Mysterien“ genannt wurden, sind jetzt „Gefahren“ (Threats), und es wird ganz deutlich gemacht, dass auch der Tod der Charaktere ein möglicher Ausgang der Abenteuer sein kann. Dies wurde im Vorgänger noch explizit ausgeschlossen. Diese Veränderung des Tons der Spielwelt zieht sich durch das gesamte Buch und auch wenn man sich sicherlich als Tales from the Loop Veteran daran gewöhnen muss, so finde ich die Weiterentwicklung des Settings mehr als gelungen.

„In Schweden sperren Militärroboter einen ganzen Landstrich“ ©Simon Stålenhag
„In Schweden sperren Militärroboter einen ganzen Landstrich“ ©Simon Stålenhag

Im Regelwerk stehen den Spielgruppen natürlich wieder sowohl die schwedische als auch die US-amerikanische Variante der Spielwelt zur Verfügung. Diese sind wie im Vorgänger zwar inhaltlich ähnlich, aber in vielen wichtigen Aspekten unterscheiden sich diese drastisch voneinander. Zudem schaffen es die Autoren mit vielen Hintergrundinformationen das Leben der Menschen in den 90er Jahren abzubilden. Dazu gehören nicht nur Listen von populären Filmen und Liedern, sondern auch eine genauere Betrachtung der schwedischen und US-amerikanischen Gesellschaft zu der Zeit. So kann man als Spielleiter effektiv und schnell die jeweilige Spielwelt mit Leben füllen.

Die Regeln

Wer die Regeln des Vorgängers kennt, der kann eigentlich gleich zum nächsten Abschnitt dieses Artikels springen. Things from the Flood basiert nämlich exakt auf dem gleichen schlanken System. Jeder Würfelwurf wird mit mehreren sechsseitigen Würfeln absolviert. Jede gewürfelte Sechs stellt hierbei einen Erfolg dar und um eine normale Probe zu bestehen, ist in der Regel ein Erfolg erforderlich. Kompliziertere oder schwierigere Aufgaben können natürlich auch mehr Erfolge verlangen. Wie viele Würfel geworfen werden dürfen, hängt von den Attributen und Fähigkeiten des jeweiligen Charakters ab.

Möchte mein Charakter beispielsweise ein Türschloss knacken, prüfe ich zuerst, welche meiner Fähigkeiten dazu passt. Gleichzeitig ist jede Fähigkeit einem der vier Attribute zugeordnet. In diesem Beispiel wäre dies die Fähigkeit „Tinker“ und diese ist dem Attribut „Tech“ zugeordnet. Ich addiere nun also meinen Wert der Fähigkeit zu dem des Attributs und würfle entsprechend viele Würfel. Das ist dann auch schon alles.

Eine Besonderheit stellen die sogenannten „Conditions“ (Zustände) dar. Diese dienen in Tales from the Loop und seinem Vorgänger als Ersatz der Lebenspunkte, gleichzeitig kann man mit ihnen aber auch Proben verbessern. Jeder Charakter hat davon insgesamt vier, plus den Zustand „Broken“, der eine Sonderrolle einnimmt. Wenn man bei einer Probe keinen Erfolg würfelt, kann sich der Spieler dazu entscheiden, freiwillig einen Zustand zu bekommen. Hier entscheidet sich der Spieler zwischen „Upset“, „Scared“, „Exhausted“ und „Injured“. Der Zustand wird entsprechend angekreuzt, und der Spieler darf alle Misserfolge erneut würfeln. Allerdings bekommt er ab sofort für jeden angekreuzten Zustand einen Malus auf Würfelproben. Der Spieler kann diese Zustände allerdings auch erhalten, wenn er eine Probe in einer gefährlichen Situation nicht besteht.

„Als Teenager steht man oft allein dem Bösen entgegen“ ©Simon Stålenhag
„Als Teenager steht man oft allein dem Bösen entgegen“ ©Simon Stålenhag

Wenn alles schief läuft und der Spieler bereits alle Zustände angekreuzt hat, muss er als letztes Mittel den Zustand „Broken“ wählen. Wenn er dies tut, verfällt sein Charakter in ein physisches oder mentales Trauma, welches alle Würfelproben automatisch scheitern lässt. Gleichzeitig bekommt der Charakter eine nachhaltige Narbe, die er bei sich auf dem Charakterbogen einträgt. Diese sind deutlich schwerer zu heilen und vergrößern die Chance auf einen unschönen.

Jedes Mal, wenn ein Charakter eine Narbe erhält, muss der Spieler einen sechsseitigen Würfel werfen. Schafft es der Spieler nicht eine höhere Augenzahl, als die Anzahl der vorhandenen Narben zu würfeln, wird sein Charakter aus dem Spiel entfernt. Entweder stirbt der Charakter oder Spieler und Spielleiter finden eine andere Erklärung. Gleichzeitig können diese Narben aber auch einmalig dazu genutzt werden, einen automatischen Erfolg bei einer Probe zu generieren. Sie sind also Fluch und Segen zugleich.

Insgesamt bin ich sehr angetan von dem einfachen Regelsystem. Es kommt komplett ohne unnötig komplizierte Regeln aus und ist trotzdem vielfältig und in vielen Situationen einsetzbar. Gleichzeitig kommt es ohne teure Sonderwürfel aus, als Spieler weiß man immer genau, welche Fähigkeiten der jeweilige Charakter gut beherrscht und welche nicht.

Charaktererschaffung

Auch bei der Charaktererschaffung werden sich Tales from the Loop-Spieler sofort zurechtfinden. Diese ist bei Things from the Flood nämlich zu Großteilen mit der des Vorgängers identisch. Lediglich die einzelnen Archetypen und einige Hintergrundfragen sind angepasst worden.

Zu Beginn der Charaktererschaffung wählt sich jeder Spieler einen Archetyp. Diese reichen vom „Hacker“ über „Raver“ und „Party Animal“ bis zum klassischen „Jock“. Insgesamt hat man die Wahl zwischen 10 verschiedenen Möglichkeiten und eigentlich ist dort für jeden etwas dabei. Diese Archetypen bestimmen zunächst nur die Kernfähigkeiten des Charakters. Auf der jeweiligen Seite des Archetyps finden sich aber auch praktische Tipps zum Vervollständigen des Charakters bei den nächsten Schritten der Charaktererstellung.

Als nächstes wählt jeder Spieler ein Alter für seinen Charakter. Jeder Charakter in Things from the Flood ist zwischen 14 und 19 Jahre alt und im Gegensatz zum Vorgänger hat die Wahl des Alters keine Auswirkungen auf Attribute oder Fähigkeiten. Auf die Attribute darf man im nächsten Schritt insgesamt 14 Punkte verteilen, während man die Fähigkeiten um insgesamt 10 Punkte steigern darf. Hierbei gilt allerdings die Einschränkung, dass nur die Kernfähigkeiten des ausgewählten Archetyps auf Stufe 3 gesteigert werden dürfen. Alle anderen Fähigkeiten starten maximal mit einem Wert von Eins.

„Verschmelzung von moderner Technologie und Retrocharme“ ©Simon Stålenhag
„Verschmelzung von moderner Technologie und Retrocharme“ ©Simon Stålenhag

Hat man sich nun um die ganzen Zahlen gekümmert, gilt es noch weitere wichtige Entscheidungen zu treffen. Zunächst bekommt jeder Charakter einen besonderen Gegenstand, der dem Spieler bei bestimmten Würfelproben einen Bonus verschaffen kann. Auch hierzu finden sich bei den jeweiligen Archetypen Vorschläge. Jeder Spieler kann sich aber auch selbst überlegen, was sein Charakter Passendes dabeihaben soll. Diese Gegenstände sind auch besonders geschützt, sodass man als Spielleiter dem Spieler diese nicht einfach wegnehmen kann.

Zusätzlich wählt jeder Spieler für seinen Charakter ein „Problem“, einen „Drive“ und einen „Shame“. Diese dienen nicht nur dazu, dem Charakter etwas mehr Tiefe zu geben, sondern sind auch wichtige Werkzeuge des Spielleiters. Das Problem stellt, wie der Name schon sagt, einen Aspekt des alltäglichen Lebens eines Charakters dar, der sich negativ auf ihn auswirken kann und den er aus der Welt schaffen würde. Dies kann zum Beispiel eine nicht erwiderte Liebe, der tägliche Streit mit den Eltern oder eine Angst vor etwas sein. Dieses Problem kann der Spielleiter nutzen, um den Charakter in Gefahr zu bringen und so Geschichten etwas spannender gestalten.

Ein „Drive“ ist hingegen etwas was den Charakter vorantreibt, etwas wie ein kurzfristiges Lebensziel oder eine andere Motivation, die den Charakter dazu bringt, sich in den Abenteuern in Gefahr zu bringen. Als drittes wählt der Spieler für seinen Charakter einen „Shame“ aus. Dies kann ein dunkles Geheimnis sein, eine Schwäche, die andere aus der Schule oder Erwachsene ausnutzen können, oder etwas anderes, für das sich der Charakter schämt. Das kann man als Spieler in bestimmten Situationen einsetzen, um sich einen automatischen Erfolg für einen Würfelwurf zu erkaufen. Dies geht allerdings nur einmal pro Abenteuer und nur, wenn es in die jeweilige Situation passt.

Als Letztes werden noch die Beziehungen der Charaktere untereinander und zu den NSC definiert. Jeder Spieler besitzt zunächst einen sogenannten „Anchor“. Dabei handelt es sich um eine besondere Bezugsperson, zu der der Charakter ein besonders vertrauensvolles Verhältnis hat. Diese NSC helfen dabei, Zustände im Laufe des Abenteuers zu heilen. Gleichzeitig kann jeder Spieler zwei weitere NSC erschaffen, welche der Spielleiter im Laufe des Abenteuers nutzen kann. Um zudem den Einstieg der Charaktere in das Abenteuer zu erleichtern, werden die Beziehungen der Helden zueinander ausdefiniert. So muss man nicht erst lange Kennenlern-Szenen ausspielen, sondern kann direkt in das Abenteuer starten.

Insgesamt ist die Charaktererschaffung sehr einfach und gleichzeitig bekommt man als Spieler sehr viele Hilfsmittel an die Hand, um dem Charakter ein gutes Maß an Tiefe zu verleihen. Leider ist die wunderbare Option eines gemeinsamen Unterschlupfs aus Tales from the Loop weggefallen. Aber das lässt sich verschmerzen, denn welcher Teenie hängt schon noch in Baumhäusern ab.

Erscheinungsbild

Auf Basis des Beta-PDFs können wir natürlich nur eingeschränkt Rückschlüsse auf die Qualität des Endproduktes ziehen. Was man aber zumindest schon mal sagen kann ist, dass das Artdesign von Simon Stålenhag weiterhin phänomenal ist. Hier sieht man deutlich, dass ein Künstler am Werk ist. Die Mischung aus Retrocharme und Science-Fiction kann man sich ohne weiteres als Kunstobjekt auch so in die Wohnung hängen. Das Regelwerk ist gleichzeitig sehr gut strukturiert und ist mit den vollfarbigen Artworks sehr ansprechend. Ich bin deshalb guter Dinge, dass das fertige Endprodukt ein absoluter Hingucker werden wird.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Fria Ligan (Free League)
  • Autor(en): Simon Stålenhag, Nils Hintze, Nils Karlén
  • Erscheinungsjahr: 2019
  • Sprache: Englisch
  • Format: PDF, DINA4
  • Seitenanzahl: 187
  • ISBN: noch nicht erschienen
  • Preis: noch nicht erschienen
  • Bezugsquelle: Kickstarter

Fazit

Eins kann ich jetzt schon mal mit Sicherheit sagen: Ich kann es kaum erwarten, bis meine Kickstarter-Version von Things from the Flood ankommt! Als jemand der schändlicherweise Tales from the Loop verpasst hat, freue ich mich umso mehr, dass ich jetzt endlich noch mal die Chance habe in die Vergangenheit abzutauchen. Die Beta-Version hat mich zusätzlich davon überzeugt, dass die knapp 34 EUR für den kleinsten Pledge gut investiert waren. Die Regeln sind kurz und knackig, aber gleichzeitig vielfältig einsetzbar.

Die alternative Version der 90er Jahre mit ihren düsteren Ansätzen und dem pessimistischen Blick auf Technologie ist spannend und man hat mit den beiden Szenarien in den USA und Schweden zwei sehr unterschiedliche Ansätze für seine Kampagne zur Verfügung. Ich hätte mir zwar etwas mehr Umfang und zusätzliche Informationen bei manchen Aspekten des Hintergrunds gewünscht, andererseits reichen die Informationen, die man hat, auch vollkommen aus. So, jetzt muss ich aber wirklich los, ich muss meine alten Bravo Hits CDs mit 90er Hits rauskramen.

Ersteindruck basiert auf mehrfacher Lektüre und Charaktererstellung.
Artikelbild: ©Simon Stålenhag, Bearbeitet von Jennifer Stramm
Dieses Produkt wurde privat finanziert.

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