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Wrestling lief spät abends auf Sendern wie Tele 5. Viel zu spät verfolgte man die Dramen bei WWE SmackDown! oder fieberte dem nächsten Royal Rumble bei Raw entgegen. Manchmal musste ein Klassenkamerad vielleicht den Chokeslam ertragen. Kommt das jemandem bekannt vor? Dann schaut euch dringend World Wide Wrestling an.

Das Publikum grölt, Trommeln und Fanfaren dröhnen aus den Lautsprechern und dicker Rauch verbirgt den Eingang an der Rampe zur Halle. Immer mehr Lichter flackern über das Publikum, die Hallenwände und den Ring in der Mitte. Dann schwenken alle Scheinwerfer auf den Eingang und im Funkenregen erscheint endlich der Kämpfer, auf den alle gewartet haben: der erste von zwei Wrestlern des großen Kampfes heute Abend.

Athletik, Spannung und Drama: Wrestling in seiner besten Form.
Athletik, Spannung und Drama: Wrestling in seiner besten Form.

Im Laufe des Kampfes werden nicht nur Schläge, sondern auch Provokationen und andere Nettigkeiten ausgetauscht. Ikonische Sprüche wie das Titelzitat von Bubby Ray Dudley wurden vom Publikum euphorisch gefeiert, womit sich dieser in die lange Liste von Catchphrases einreiht, die so geliebt werden: „If you smell, what the Rock is cooking!“, „Woooo!!“ oder „To be the Man, you have to beat the Man!“ sind nur einige Beispiele.

Egal, ob man jetzt Eddie Guerrero, Goldberg, Sting oder einen der unzähligen anderen Wrestler aus den großen Shows im Kopf hat, Wrestlingfans sitzen bereits an der Sofakante. Wrestling ist eine Mischung aus Hochleistungssport und herausragender Athletik, spannender Inszenierung und Illusion, fürchterlichem Drama und so vielem mehr. Es ist eine Kunstform, eine Show – und zwar eine ganz große, die nicht nur damals, sondern noch heute begeistert! World Wide Wrestling will diese Show an den Rollenspieltisch bringen. Was könnte besser zusammenpassen als eine übertriebene Show und Rollenspiel?

Die Spielwelt – Ab in den Ring

Der Begriff „Spielwelt“ ist vielleicht etwas hoch gegriffen, denn World Wide Wrestling ist ein sehr spezifisches Setting. Es geht natürlich um Wrestling, also um all das, was im Ring passiert und drumherum. Der Fokus liegt auf dem Erzählen, wie man das von System Matters gewohnt ist. Gerade deshalb muss die Eingeschränktheit des Settings nicht bedeuten, dass es nicht vielfältig sein kann.

Vielfältig ist hier im doppelten Wortsinn zu verstehen, denn die Charaktere können wesentlich diverser sein, als das in den Shows der echten Welt der Fall ist. Außerdem ist ein Wrestling-Ring niemals eintönig, nur weil es immer ein (eckiger) Ring in einer Halle ist. Dieser Eindruck wird auch durch die Essays unterstützt, die über 30 Seiten füllen und sich mit dem Konzept dieser Kunstform beschäftigen, ihre Auswirkungen beleuchten oder sogar die Rolle von Frauen im Wrestling in ein neues Licht stellen. So sind Abschnitte wie der über Lucha Libre nicht nur für sich selbst lesenswert, sondern werden auch in Bezug zum Spiel gesetzt und bereichern damit die Spielwelt von World Wide Wrestling enorm.

Kayfabe

Ein zentraler Begriff im Wrestling ist „kayfabe“. Den Begriff kann man in etwa mit Schauspieler*innen erklären, die in der Rolle bleiben: Alles in der Show Dargestellte gilt vor der Kamera als echt. Das kann ein gebrochener Arm sein oder eine Liebesbeziehung, eine Fehde oder sogar Familienbande. Es geht darum, die Illusion und damit die Show aufrecht zu erhalten. Kayfabe sollte nicht gebrochen werden, denn das wäre, als fiele man als Schauspieler*in aus der Rolle.

Ziel im Wrestling sind die Gürtel und damit verbundenen Titel großer Shows. Dabei kommt es zu Kämpfen zwischen Gut und Böse, gerechten Siegen und fürchterlichen Intrigen. Am Ende des Abends gibt es Publikumslieblinge und verhasste Figuren, die gemeinsam Wrestling zu einem großen Spektakel machen.

Spannende Konstellationen ergeben sich zu jeder Promotion.
Spannende Konstellationen ergeben sich zu jeder Promotion.
Ein Beispiel erklärt sehr gut, wie das Booking ablaufen kann.
Ein Beispiel erklärt sehr gut, wie das Booking ablaufen kann.

World Wide Wrestling legt die Rollenspielwelt wie eine TV-Inszenierung an: Es gibt die erste Folge, große Promotions und unzählige Klischees. Zusätzlich kann man auf Tour gehen und an der Karriere des eigenen Wrestlers feilen sowie die Dämonen bezwingen, die so manche erfolgreiche Figur im Laufe der Karriere verfolgen. Das Highlight aber bleibt die Action im Ring, bei der man nicht nur gewinnen will, sondern eine gute Show abliefern muss, denn das so genannte „Kopfpublikum“ will überzeugt werden. Während die Spielenden am Tisch gegeneinander antreten oder die Kommentator*innenrolle übernehmen, kommt einem dieser kleine Ring gar nicht mehr so klein vor.

Die Regeln – We got the moves

World Wide Wrestling ist ein Powered by the Apocalypse-Spiel und arbeitet deswegen mit Moves. Jeder Charakter hat verschiedene Moves, die man ansagt, um dann mit 2W6 darauf zu würfeln. Hinzugerechnet werden passende Attributspunkte oder der Publikumswert, um auf ein möglichst hohes Ergebnis zu kommen. Erreicht man einen Wert bis 6, ist es ein Patzer, zwischen 7 und 9 ein Teilerfolg und ab 10 ein voller Erfolg. Bei wichtigen und knappen Würfen kann der Momentum-Wert noch die restlichen paar Punkte bringen, um das gewünschte Ergebnis zu erreichen. Momentum erlangt man zum Beispiel durch Patzer und es repräsentiert die „Energie“ des Wrestlers im Ring.

Die Regeln sollen nicht behindern, sondern unterstützen – auch in Form eines WOW-Moments.
Die Regeln sollen nicht behindern, sondern unterstützen – auch in Form eines WOW-Moments.

Moves werden sowohl aktiv als auch zufällig ausgelöst. Kommt es zum Beispiel während des Trash Talks im Ring dazu, dass man das Publikum aufwiegelt, wird automatisch der Move „Mit dem Publikum spielen“ ausgelöst. In solchen Momenten ist die kreative Leitung (entspricht der Spielleitung) gefragt, solche Dinge im Blick zu haben.

Dadurch entsteht eine Dynamik, bei der das Erzählen so stark in den Vordergrund rückt, dass ein aktives Auslösen der Moves oft gar nicht unbedingt notwendig ist. Die Regeln sind einfach und schnell erklärt, die Moves gibt es als übersichtliches Handout. Ein komplizierteres System wäre in jedem Fall hinderlich.

Charaktererschaffung – Ganz oben auf der Card

So einfach wie die Regeln ist auch die Charaktererschaffung. Die verschiedenen Rollen der Charaktere heißen Gimmicks und in einer Spielrunde gibt es jedes Gimmick nur einmal. Die Auswahl ist dabei vielfältig und divers: von Antiheld*in und Luchador*a bis zum Ass oder der Berühmtheit gibt es zahlreiche Möglichkeiten – jeweils als Held*in (Babyface/Técnico) oder Bösewicht (Heel/Rudo).

Die Berühmtheit ist eines der wählbaren Gimmicks.
Die Berühmtheit ist eines der wählbaren Gimmicks.

Ein paar wenige Kreuze bei der Herkunft, der Art des Auftretens und dem persönlichen Ziel formen den Charakter weiter aus. Auf die vier Werte bei den Attributen Kraft, Stil, Echt und Ring verteilt man entsprechende Punkte und wählt ein paar Moves aus. Der Anfangswert von Publikum wird markiert und ein paar Chips für den Momentum-Wert genommen – schon ist man fertig.

Spannungen ergeben sich erst im Laufe des Spiels, ebenso wie Verletzungen und Steigerungen. Wenn man will, ist man in wenigen Minuten spielbereit, aber etwas länger dauert es doch – gute Wrestler brauchen eine gute Story!

Erscheinungsbild – Hinter der Maske

Während des Lesens fällt einem unweigerlich auf, dass es immer wieder Querverweise gibt, die die ohnehin schon gute Struktur des Regelwerkes weiter verfeinern. Es gibt vier große Themenbereiche, die sowohl im Inhaltsverzeichnis als auch mit entsprechenden Text- und Randmarkierungen farblich voneinander abgesetzt sind.

Zusätzlich finden sich überall Hinweise, welche Abschnitte für welche Spielbereiche wichtig sind und was man in welcher Reihenfolge lesen sollte, um optimal vorbereitet zu sein. Ein Glossar und drei Lesebändchen vervollständigen den guten Eindruck.

Insgesamt ist die zweite Edition sehr hübsch und durchdacht gestaltet, wobei manche Passagen mit sehr großen Textblöcken aufwarten, was zuweilen anstrengend zu lesen sein kann. Es gibt an mancher Stelle wenige Illustrationen, was bei dem coolen Comicstil schade ist. Besonders nach der hervorragenden Coverillustration wünscht man sich mehr Szenen, die das Feeling aus den Texten auf die Bildebene übertragen. Das ist aber wirklich die einzige Einschränkung.

Die harten Fakten:

  • Verlag: System Matters
  • Autor*in(nen): Nathan D. Paoletta
  • Erscheinungsjahr: 2022
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Hardcover
  • Seitenanzahl: 295
  • ISBN: 9783963781032
  • Preis: 49,95 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, System Matters, idealo, Sphärenmeister

 

Bonus/Downloadcontent

Gimmicks und Moves kann man sich bei System Matters im Downloadbereich herunterladen.

Fazit – Finishing Move

Wie man dem Artikel sicherlich entnommen hat, ist Wrestling etwas, das begeistern kann. Für World Wide Wrestling ist es nicht notwendig, umfangreiche Kenntnisse über Wrestling zu besitzen, auch wenn es nicht schadet. Die Begeisterung für eine gute Show ist es, die man haben sollte, um mit diesem Regelwerk Spaß zu haben. Den Hang zum Angeben und ein wenig Lust auf übertriebene Darstellungen und viel zu viel Drama helfen umso mehr.

World Wide Wrestling ist ein Regelwerk mit einer sehr genauen Vorstellung davon, was gespielt wird, und einer unendlichen Anzahl an Möglichkeiten, dies zu tun. In diesem Spiel wird man sich gegenseitig provozieren und anfeuern, auslachen und staunend den Mund offenstehen lassen – alles im Sinne der Show.

Neben einer übersichtlichen Gestaltung und vielen guten Ideen, einer umfassenden Beschäftigung mit Wrestling in mehreren Essays und einer diversen Herangehensweise an den Sport bietet das PbtA-System leichte Regeln. Diese unterstützen den erzählerischen Charakter und die Moves fügen sich natürlich in die Spielwelt ein.

Wenn man epische Held*innensagen in einer mythischen Welt erleben will, ist World Wide Wrestling nicht das Richtige. Aber, wenn man epische Held*innensagen in und um den Ring erleben will, ist es das Beste, was man finden kann.

Für diesen Ersteindruck wurde das Regelwerk gelesen und eine erste Show vorbereitet. Ein Spieltest folgt im Laufe des Jahres.

  • Actiongeladenes Wrestling-Setting
  • Mehr Drama findet sich nirgendwo
  • Perfekte Struktur im Regelwerk
 

  • Etwas wenig Bilder

 

 

Artikelbilder: © System Matters
Layout und Satz: Roger Lewin
Lektorat: Maximilian Düngen
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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