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Seit einiger Zeit sprießen Dungeon Crawler geradezu aus dem Boden, vor allem auf Kickstarter. Neun Kilo Spielmaterial, 95 Szenarien, ein Kampfsystem mit Eurogame-Mechanik – was Gloomhaven anders macht und warum über 35.000 Backer der zweiten Auflage gerade sehnsüchtig auf ihr Spiel warten, erfahrt ihr hier.

Viele Rollenspieler erster und zweiter Stunde sind längst im Berufs- und Familienalltag angekommen, und der schwierigste Gegner ist mittlerweile die Zeit. Selbst wenn man einen Abend findet, um regelmäßig zusammenzukommen, bleibt die Frage: Wer hat die Kapazitäten, den aufwändigen Aufgaben eines Spielleiters nachzugehen?

Eine Lösung dieses Problems versprechen derzeit einige Brettspiele, die als eine Art „Rollenspiel Light“ den Job des Spielleiters entweder durch eine App, wie in Villen des Wahnsinns 2, oder durch „KI-“ oder NPC-Mechaniken, wie in Die Legenden von Andor, ersetzen. Alle spielen also gemeinsam gegen das Spiel. Das Grundprinzip dieser Spiele ist dabei meist identisch: Bewegungsaktion und Kampfaktion durch Würfelwurf.

Gloomhaven verzichtet auf Würfel und arbeitet auf innovative Art mit mehreren Kartendecks, um die Helden und Gegner zu steuern sowie den Schaden in Kämpfen zu bestimmen. Jeder einzelne Zug wird hierbei zu einem kleinen Puzzle, um ein gutes, gemeinsames Ergebnis zu erzielen.

Spielablauf

Ähnlich wie bei einem Rollenspiel verfügt jeder der 1-4 Spieler über einen Charakter, dessen Figur er über sogenannte Hex-Felder auf modular angeordneten Raumplatten bewegt. Jede der insgesamt 17 Klassen (6 davon sind zu Beginn spielbar) verfügt über ein individuelles Kartendeck mit 8-12 Karten. Jede Karte ist zweigeteilt und hat sowohl auf der oberen als auch auf der unteren Hälfte eine Aktion. In jedem Zug spielen alle Spieler gleichzeitig verdeckt zwei Karten, wobei eine von ihnen die Initiative vorgibt, also bestimmt, wann der eigene Spielzug an der Reihe ist. Dann wird für jeden Gegnertypen eine Karte vom jeweiligen Monsterdeck gezogen. So weiß man, was Gegner und Mitspieler wann machen werden und kann entscheiden, wie man jeweils eine der „Oben“-Aktionen mit der „Unten“-Aktion der anderen Karte kombiniert.

Charaktertableau des Brute mit Aktionskarten (links unten), Kampfmodifikatorkarten (links oben), Gegenständen (rechts) und Kampfziel (unten, 2. von rechts)
Charaktertableau des Brute mit Aktionskarten (links unten), Kampfmodifikatorkarten (links oben), Gegenständen (rechts) und Kampfziel (unten, 2. von rechts)

„Oben“-Aktionen sind meist Angriffe, „Unten“-Aktionen häufig Bewegungen. Besondere Aktionen zum Aufsammeln von Gegenständen und Gold, Befehle an andere Charaktere etc. gibt es auch. Durch diese Kombinationsmöglichkeit (ähnlich wie bei Mage Knight) ergibt sich ein Spiel, das gleichzeitig erfrischend einfach ist und doch komplexe Züge erlaubt. Statt Würfeln gibt es ein zu Beginn 20 Karten umfassendes Kampfdeck, mit dem man den Ausgang eines Angriffs ermittelt. Darin enthalten sind zunächst ein Fehlschlag, ein kritischer Treffer und mehrere Karten, die das Ergebnis leicht modifizieren (+1, -2 etc.).

Am Ende der Runde kommen die beiden gespielten Karten auf einen Ablagestapel, manche besonders mächtigen werden jedoch direkt aus dem Spiel entfernt. Sind die Handkarten aufgebraucht, muss man rasten. Hierbei wird eine Karte zufällig aus dem Spiel genommen, während der Rest wieder auf die Hand kommt. Die Karten bilden somit neben den Trefferpunkten eine zweite, ebenfalls knappe Ressource. Ist der Spieler nämlich nicht mehr in der Lage, zwei Handkarten zu spielen, so ist er ebenso ausgeschieden, wie wenn seine Trefferpunkte auf 0 sinken.

Die Szenarien sind in der Schwierigkeit skalierbar. Das Ziel ist oft, alle Räume aufzudecken und die dort angesiedelten Gegner zu töten. Ist das erreicht, geht die Geschichte weiter. So spielt man weitere Szenarien frei, doch durch die Entscheidungen der Gruppe bleiben einem andere auch verborgen. Zudem gibt es elf weitere Charakterklassen sowie viele Gegenstände zu entdecken und andere, teilweise verschlüsselte Geheimnisse.

Aber nicht nur am Ende eines Spiels entscheidet man, welchen Weg die Helden einschlagen. Auch zwischen den Szenarien zieht man in der Stadt Gloomhaven und auf dem Weg zum nächsten Abenteuer Zufallsbegegnungen, bei denen es gilt, eine Entscheidung zu treffen und mit deren Konsequenzen zu leben. Mitunter gibt es dabei die Möglichkeit, einen vermeintlich rechtschaffenen oder doch lieber einen lukrativeren, wenn auch zwielichtigen Weg zu wählen. In der Stadt kann zudem das von Feinden fallengelassene Gold für Gegenstände ausgegeben werden. Die Stadt wächst dabei mit den Helden, und auch die Auswahl auf dem Markt wird immer vielfältiger.

Das erste Abenteuer: benötigtes Spielmaterial (unten), Lageplan mit Feinden, Fallen, Türen, Schätzen und Startposition der Helden sowie der Text der Geschichte, das Ziel und die Belohnung
Das erste Abenteuer: benötigtes Spielmaterial (unten), Lageplan mit Feinden, Fallen, Türen, Schätzen und Startposition der Helden sowie der Text der Geschichte, das Ziel und die Belohnung

Vor allem die 95 Szenarien im Grundspiel tragen stark zur Wiederspielbarkeit bei. Davon gehören ca. 50 zur Hauptgeschichte. Ein paar wenige von ihnen schließen sich durch die Entscheidungen der Gruppe gegenseitig aus. Durch das Sammeln von Erfahrungspunkten lässt man seinen Helden aufsteigen. Für jede erreichte Stufe, bis hin zum Maximal-Level 9, gibt es jeweils zwei neue Aktionskarten, von denen man eine auswählen und seinem Deck hinzufügen kann. Zudem kann man das Kampfdeck beeinflussen, indem man Karten mit negativen Effekten entfernt und bessere, oder solche mit nützlichen Zusatzeffekten, hinzufügt. Und irgendwann hat ein Held sein individuelles Lebensziel, das bei Beginn seines Abenteuers gezogen wird, erreicht, und darf/muss in den Ruhestand. Dadurch werden neue Helden freigespielt, mit denen man sich in neue Abenteuer stürzt und dabei neue Spielmechanismen entdeckt. Neben alldem warten Kampfziele, Schätze, Bosskämpfe, Elemente und vieles Weitere darauf, in der Welt von Gloomhaven entdeckt zu werden.

Ausstattung

Mit neun Kilo Spielmaterial, fast 1700 Karten, 17 spielbaren Charakteren und 34 Gegnertypen gibt es nach Öffnen der Schachtel erst einmal eine Menge zu entdecken. Leider gab es dabei für einige Spieler der zweiten Kickstarter-Edition aufgrund einiger Produktionsmängel ein böses Erwachen. Aber der Kundendienst von Cephalofair Games nimmt sich aller Probleme sofort an – es kann jedoch etwas dauern, bis man seine Ersatzprodukte erhält. Generell scheinen alle Spiele aber auch spielbar.

Darüber hinaus fühlt sich das Spielmaterial sehr wertig an. Die Gegner sind Pappaufsteller mit stimmungsvollen Illustrationen, während es Miniaturen aus Plastik für die Helden gibt. Alle Bebilderungen sind insgesamt atmosphärisch düster gehalten. Die Geländekarten hingegen wirken ein wenig generisch in vier verschiedenen Grunddesigns (Erd-, Holz-, Stein- und Eisuntergrund). Allerdings lässt sich mit den Überlegscheiben, zum Beispiel Bäume, Tische und Felsen, das jeweilige Szenario deutlich beleben. Insgesamt dominiert allerdings die textlastige Geschichte, sodass sich vieles in den Köpfen der Spieler abspielt, vor allem bei Begegnungskarten und den Szenario-Texten, welche die Geschichte beschreiben.

Der erste Raum des Start-Szenarios: Brute, Scoundrel, Spellweaver und Tinkerer stellen sich mutig den beiden Elite-Banditen (gelb) und ihren Schergen (weiß)
Der erste Raum des Start-Szenarios: Brute, Scoundrel, Spellweaver und Tinkerer stellen sich mutig den beiden Elite-Banditen (gelb) und ihren Schergen (weiß)

Bevor man das Spiel beginnen kann, muss man sich erst einmal durch das 50 Seiten starke Regelheft kämpfen. Und selbst dann wird man während des Spiels gelegentlich zu den (sehr gut geführten) FAQs oder Foreneinträgen greifen müssen. Wer jedoch bereits ein strategisches Kampfspiel gespielt hat, wird sich im Allgemeinen schnell zurechtfinden.

Der Auf- und Abbau eines solchen Spiele-Giganten kann ein wenig dauern. Wer das zusätzliche Geld ausgeben möchte, kann sich aktuell zwischen vier verschiedenen Game-Inserts entscheiden. Schon aufgrund von Portokosten wären hier wohl die deutschen Hersteller von Laserox zu empfehlen.

Lagerungslösung von Meeple Realty aus den USA. Die Zeitersparnis lohnt sich, wenn man bereit ist, den Preis zu zahlen

Die harten Fakten:

  • Verlag: Cephalofair Games
  • Autor(en): Isaac Childres
  • Erscheinungsjahr: 2017
  • Sprache: Englisch
  • Format: Brettspiel
  • ISBN/EAN: 019962194719
  • Preis: 133,99 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon

 

Bonus/Downloadcontent

Die aktuelle Version der Spielregeln sowie des Szenario-Buchs (Vorsicht: Spoiler) auf Englisch gibt es hier. Dort ist auch für jede spielbare Klasse ein Solo-Szenario zu finden, welches allerdings regulär erst ab Erreichen der jeweils fünften Charakterstufe sowie Wohlstandsstufe drei der Stadt verfügbar ist.

Eine deutsche Version des Spiels ist aktuell in Verhandlung, aber auch hier ist die Fanbase gerade dabei, die Bücher und Karten ins Deutsche zu übersetzen.

Mit dem Tabletop Simulator auf Steam kann man mehrere Szenarien des Spiels kostenlos anspielen, wenn man die Software dafür erworben hat.

Fazit

Die ersten Gegner: die Banditen-Wachen, Nahkämpfer, mit einzelnen nummerierten Feldern für den Schaden und Effekte (oben) und das Aktions-/Kampfdeck der Gegnerart (unten)
Die ersten Gegner: die Banditen-Wachen, Nahkämpfer, mit einzelnen nummerierten Feldern für den Schaden und Effekte (oben) und das Aktions-/Kampfdeck der Gegnerart (unten)

Mit über 50 gespielten Partien (und sicher künftig noch einigen mehr) gibt es wenige Spiele in meinem Regal mit einem ähnlich guten Pro-Spiel-Preis, trotz der recht hohen Investitionskosten. Es gilt allerdings nicht nur Geld, sondern auch Zeit zu investieren. Am besten natürlich mit einer festen Gruppe, als Pärchen oder mit bis zu drei Mitspielern. Zu dritt hat man ein recht schnelles Spiel mit viel Kommunikation, allerdings kommen auch passionierte Einzelspieler auf ihre Kosten.

Die anfangs recht interessante Story verliert sich zwar ein wenig durch die vielen verzweigten Nebenszenarien, aber der wahre Reiz liegt ohnehin vielmehr im Entdecken neuer Inhalte, wie beispielsweise Charakteren und Gegenständen und damit verbundenen Mechaniken, sowie dem Lösen der abwechslungsreichen kleinen Puzzles.

Die Klassen spielen sich mitunter sehr unterschiedlich und heben sich erfreulich von klassischen Fantasy-Charakteren ab. Statt Elfenmagiern und Zwergenkriegern wird Gloomhaven (neben Menschen) von acht neuartigen Rassen bevölkert. Die Spielweisen der einzelnen Charaktere greifen Elemente des Online-Gamings auf (Tank, Heiler, Schaden), diese werden aber neu kombiniert. So kann man zum Beispiel einen druidisch-elementar anmutenden Ferntank mit Selbstheilungsfähigkeiten spielen.

Die Ziele der einzelnen Szenarien könnten etwas mehr Abwechslung vertragen. Oft geht es darum, sich aller Gegner zu entledigen. Flucht-Sequenzen, Bosskämpfe oder Sammelaufträge sind leider selten. Wie viel mehr Potential noch im System steckt, zeigen einige der von Fans gebauten Szenarien, die man auf boardgamegeek.com herunterladen kann, unter anderem eins von Jamey Stegmaier, dem Autor von Scythe und Charterstone.

Insgesamt kriegt man nicht nur viel Spielmaterial und -zeit für sein Geld, sondern auch ein tiefes, immersives Spielerlebnis. Das Spiel ist aktuell auf Platz zwei der besten Spiele aller Zeiten bei boardgamegeek.com angekommen und wird den Thronhalter Pandemie Legacy wohl noch 2017 verdrängen. Bei so viel Inhalt und entsprechender Entwicklungszeit wird es bis Gloomhaven 2 sicher noch einige Zeit dauern. Die Vielzahl neu erscheinender Konkurrenzprodukte kooperativer Dungeon Crawler mit Legacy-Elementen zeigt jedoch, dass hier ein Markt der Zukunft liegt. Wer Gloomhaven besuchen will, sollte viel Zeit mitbringen – doch die lohnt sich, besonders auch für alteingesessene Rollenspieler.

Artikelbild: Cephalofair Games
Fotografien: Daniel Hoffmann
Dieses Produkt wurde privat finanziert.

 

10 Kommentare

  1. Als Rollenspiel würde ich es nicht bezeichnen, aber mir als Rollenspieler macht es ungemein viel Spaß!
    Sortieren: Gibt ja Systeme (kosten nicht gerade wenig) oder einfach mal im Internet bisschen schauen… Monster und Decks/Karten liegen bei uns in Papier-CD-Hüllen z.B.

  2. Was genau ist denn mit „Produktionsmängel“ in der 2ten Edition gemeint?
    Ich hab diese gestern bekommen und uns ist erst einmal nichts aufgefallen.

    • Hey Snaks, das bezieht sich auch nicht auf alle Exemplare, aber es gab eine Charge der Erstauslieferung der 2. englischsprachigen Edition, bei denen unterschiedlichste Mängel auftraten: meist waren Token/Gegner waren bedruckt, fielen aber auch auseinander, es gab tlw. auch Vertauschungen der Miniaturen. Hatte ich aber auch bei meiner ersten Edition, der Ersatzteilservice hat aber sofort einen Ersatz geschickt.

      • Okay, ich hab die DE-Version und konnte solche Probleme zum Glück nicht feststellen.

        Vielen Dank für die Rückmeldung :)

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