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Götter, Freiheit, Vergangenheit – die Festländer haben einiges verloren, als die Saypuri ihr Land eroberten und ihre Götter töteten. Doch während die Einen glauben, sich zu erinnern, wissen die Anderen kaum etwas von ihrer Vergangenheit. Robert J. Bennett erschafft eine Geschichte um Politik, Religion und Vergessen. Doch weiß sie zu fesseln?

Mit einem guten Buch verhält es sich wie mit einem guten Computerspiel oder einer guten Serie – man kann nicht aufhören, man muss es verschlingen. Ohne Unterbrechung. Essen, Trinken und auch andere menschliche Bedürfnisse rücken in den Hintergrund oder verschwinden sogar gänzlich aus der eigenen Wahrnehmung. Wer Angst vor solchen Begleiterscheinungen hat, sollte zu einem anderen Buch greifen, denn Die Stadt der tausend Treppen hat ein hundertprozentiges Suchtpotenzial.

Story

Er ist tot. Dr. Efrem Pangyui ist tot und alles deutet auf ein gewaltsames Ableben hin. Das wundert Shara Komayd nicht, denn die Stadt Bulikov ist ein Brandherd, seitdem die Saypuri während des sogenannten Wimpernschlags das Festland überrannten und der Kaj ihre Götter erschlug. Dass ausgerechnet Shara, die Enkelin des glorreichen Kaj und Geheimagentin der saypurischen Regierung, es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Tod ihres Tutors aufzuklären, gefällt niemandem. Nicht einmal ihrer Tante, die zugleich Leiterin des saypurischen Geheimdienstes ist. Niemand außer ihr, Shara und ihrem treuen Begleiter, dem nordischen Barbar Sigurd, wissen deshalb um Sharas wahre Abstammung. Für alle Außenstehenden ist Shara unter ihrem Decknamen Shara Thivani aufstrebende Nachwuchsdiplomatin aus dem herrschenden Saypur.

Seit dem Tod der Götter durch den Kaj vor drei Generationen obliegen dem Festland strenge Säkularisierungsregularien. Es ist verboten, von den Göttern zu sprechen, alle Aufzeichnungen über sie wurden weggesperrt – und wehe dem, der es wagt, ein göttliches Zeichen zu tragen, bewusst oder unbewusst. Als die Götter noch lebten, gehörten Mirakel zum alltäglichen Leben. Doch mit ihrem Tod erloschen die meisten. Nur einige wenige sind erhalten geblieben und stehen unter der strengen Beobachtung der saypurischen Regierung.

Zumindest sollte es so sein. Denn umso länger Shara und Sigurd den Tod von Efrem Pangyui erforschen, desto klarer wird ihnen, dass nicht alles so ist, wie es sein sollte. Die saypurische Regierung hat Geheimnisse. Hinzu kommt, dass viele Bulikover die alte Zeit zurückersehnen. Die so genannten Restaurationisten setzen alles daran, ihrem Ziel, der Wiedererweckung des Göttlichen, näher zu kommen. Nach kürzester Zeit sieht Shara sich in einem Labyrinth aus Rätseln und Intrigen gefangen, dessen Zentrum sich in Bulikov befinden zu scheint.

Die Thematik von Die Stadt der tausend Treppen ist schwer zu fassen, bekommen doch so viele verschiedene Themen ihren Handlungsspielraum. Auf den ersten Seiten denkt man, es handle sich um ein politisches Intrigenspiel mit Krimicharakter. Doch schnell wird klar, dass dies zu kurz gedacht ist. Politik spielt zunehmend eine untergeordnete Rolle, verschwindet jedoch niemals gänzlich. Viel mehr manifestiert sich in ihr der Grundkonflikt, gepaart mit religiösem Handeln.

Die Welt von Die Stadt der tausend Treppen gliedert sich in zwei Erdmassen: Den Kontinent, auf dem Bulikov liegt und dessen Einwohner gemeinhin als Festländer bezeichnet werden, und Saypur. Saypur ist eine Insel, die etwa drei Tagesreisen vom Kontinent entfernt liegt. Im Gegensatz zu Saypur herrschten auf dem Kontinent sechs verschiedene Götter, die die Welt nach ihren Vorstellungen formten. So galten, je nach Region, verschiedene physikalische Gesetze und selbstverständlich verschiedene Gebote. Irgendwann in der Vergangenheit beschlossen die Götter, sich zu verbünden und die gemeinsame Stadt Bulikov zu gründen. Dies war der Beginn ihrer Expansionspläne. So kam es, dass der Kontinent Krieg mit Saypur begann und ihn gewann. Viele Jahre wurde die saypurische Bevölkerung von den Festländern versklavt, bis eines Tages die Geschehnisse um den legendären Kaj ihren Anfang nahmen. Es folgte ein großer Krieg, in dem der Kaj die Götter der Festländer tötete und die Saypuri die Herrschaft über den Kontinent übernahmen. Mit diesem Tag war es verboten, auch nur an die Götter zu denken.

Allein an dieser Zusammenfassung lässt sich bereits erkennen, wie tiefgehend der Konflikt in der Beziehung zwischen den Saypuri und den Festländern verankert ist. Robert Jackson Bennett versteht es, die Beweggründe und Motivationen der verschiedenen Parteien zu erfassen und glaubhaft auszuführen. Er entwickelt eine Geschichte, die nicht nur unterhält und fesselt, sondern auch dem Leser bewusst macht, in welcher wechselseitigen Beziehung Religion und Politik stehen. Durch politische Verbote werden mit der Zeit religiöse Fanatiker geschaffen. Bennett macht deutlich, was mit einer Nation passiert, der der Zugang zu ihrer Vergangenheit verwehrt wird. Dabei sind seine geschaffenen Charaktere so vielseitig wie tiefgründig.

Schreibstil

Der Leser erlebt die Geschehnisse aus der Sicht eines auktorialen Erzählers. Die meiste Zeit befindet man sich in Sharas Kopf, doch auch Sigurd und die saypurische Stadtgouverneurin Turyin Mulaghesh sind von Bedeutung. Ebenso kommen unbedeutendere Nebencharaktere zu Wort. Dies ist besonders schön, da Bennett auf diese Weise noch mehr Leben in seiner Welt und seiner Geschichte erzeugt. Die Erzählweise sorgt dafür, dass die in manchen Romanen vorhandene Beschränkung auf die Welt der Protagonisten aufgebrochen wird und die Erzählung zusätzliche Tiefe erhält. Auch die Sprache der Charaktere ist auf jede einzelne Figur abgestimmt. Der nordische Barbar Sigurd ist wortkarg und eher rau, während die militärische Stadtgouverneurin schon mal gerne den ein oder anderen Fluch auf den Lippen hat.

Was direkt auf der ersten Seite auffällt, ist die gewählte Tempusform von Bennett. Anstelle der recht geläufigen aktiven Vergangenheit nutzt er durchgehend das Präsens. Was am Anfang noch befremdlich wirkt, verschwindet mit der Zeit immer mehr aus dem Bewusstsein. Dadurch wirken die Geschehnisse näher und aktiver.

Alles in allem ist der Schreibstil von Robert J. Bennett sehr angenehm und flüssig zu lesen. Lediglich eine Sache erschwerte das Lesen und wurde für mein eigenes Empfinden mit der Zeit zur Last. Die Namen, seien es Städte oder Personen, scheinen von einer osteuropäischen Sprache inspiriert zu sein. Wenn man als Leser keinen Bezug zu dieser Sprache hat, kommt man bei Namen wie Olvoshanti oder Jukoshtan schon mal ins Stocken.

Der Autor

Robert Jackson Bennett wurde 1984 in Baton Rouge, Louisiana, geboren und lebt seither in Texas. Sein Debüt feierte der junge Familienvater 2010 mit dem historischen Phantastik-Roman Mr. Shivers. Die Stadt der tausend Treppen ist der Auftakt seiner Die göttlichen Städte-Trilogie. Obwohl er bisher erst fünf Romane veröffentlichte, erhielt er bereits verschiedene Preise, wie den Shirley Jackson Award in der Kategorie Bester Roman.

Erscheinungsbild

Das Cover von Die Stadt der tausend Treppen ist ein Hingucker. Auf dem eigentlichen Umschlag befindet sich eine Abbildung der zerstörten Stadt Bulikov. Doch darüber liegt ein weiterer durchsichtiger Umschlag, der mittels einer schwarzen Zeichnung die zerstörte Stadt wieder ganz erscheinen lässt. Auch ansonsten ist der Roman in seinen typographischen Eigenschaften gelungen. Leider sind dem Lektorat jedoch gegen Ende ein paar Flüchtigkeitsfehler durchgegangen.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Bastei Lübbe
  • Autor: Robert Jackson Bennett
  • Erscheinungsdatum: 16. Februar 2017
  • Sprache: Deutsch (Aus dem Englischen übersetzt von Eva Bauche-Eppers)
  • Format: Taschenbuch
  • Seitenanzahl: 620
  • ISBN: 978-3-404-20861-6
  • Preis: 11,00 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon

 

Bonus/Downloadcontent

Sehr zu meinem Bedauern liefert Die Stadt der tausend Treppen weder ein Glossar, noch eine Karte. Die meisten Ereignisse spielen zwar in Bulikov, für die Gesamtübersicht wäre eine Karte der Welt jedoch sehr dienlich gewesen. Auch ein Glossar würde dem Leser gut zur Hand stehen, da die Geschichte doch recht viele Charaktere und Geschöpfe besitzt, deren Bezüge zueinander man schnell wieder vergisst, insbesondere dann, wenn man eine längere Lesepause einlegen musste.

Bei Amazon erhalten interessierte Leser den beinahe schon obligatorischen Blick ins Buch.

Fazit

Politik und Religion sind die Grundpfeiler von Die Stadt der tausend Treppen. Robert Jackson Bennett versteht es, ihre Wechselwirkung zu verdeutlichen und macht zudem deutlich, was passiert, wenn einer Bevölkerung der Zugang zu ihrer Vergangenheit verwehrt wird. Doch sollten sich Leser, die keine Lust auf Politik haben, nicht abschrecken lassen. Weder werden Ratssitzungen dargestellt, noch erfolgen langwierige Diskussionen. Die Stadt der tausend Treppen fesselt durch bildhafte Beschreibungen und spannende Entwicklungen. Und das ganz ohne große Kampfszenen. Dabei besitzen die Charaktere nachvollziehbare Motivationen und ziehen den Leser in ihren Bann.

Der klare Schreibstil tut sein Übriges, sodass Die Stadt der tausend Treppen zu einem rundum hervorragenden Werk wird. Eine klare Empfehlung für jeden, der mal wieder tief in eine Welt eintauchen und alles andere vergessen möchte.

Artikelbild:  Bastei Lübbe
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

 

1 Kommentar

  1. Schöne Rezension zu einem tollen Roman. Danke sehr.
    Das Buch leistet meiner Meinung nach auch einen subtilen, aber wichtigen Beitrag zum Thema Diversität – ein Thema, das seit dem PAN18 Branchentreffen aktuell wieder heiß diskutiert wird.
    Teil 2 beginnt ebenfalls vielversprechend :)

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