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In der Welt von Earthdawn verkörpern die geheimnisvollen Passionen Ideale wie Kunst, Wachstum, Freiheit oder Heldenmut. Nun liegt erstmals ein Quellenband vor, der diese Wesenheiten in ihrer ganzen Vielseitigkeit betrachtet und dabei ausführliche Regeln für ihre Anhänger, die Questoren, bietet.

Die Passionen sind ein geheimnisvoller Aspekt der Welt von Earthdawn, der dieses Rollenspiel bereits seit seiner ersten Auflage begleitet. Das Spielerhandbuch der aktuellen vierten Edition beschränkt sich allerdings nur auf eine grobe Beschreibung dieser Wesenheiten, ihrer Ideale und ihrer Kräfte, und im Spielleiterhandbuch finden sie gar keine Erwähnung. Stattdessen werden diese mit dem Band Questoren ausgiebig beleuchtet und in die bereits komplexen Regeln von Earthdawn

Inhalt

Götter und ihre Priesterschaft sind ein übliches Element im Fantasy-Rollenspiel, von dem sich Earthdawn allerdings in einigen entscheidenden Punkten unterscheidet. So sind die Passionen keine Wesenheiten, die an der Schöpfung der Welt Anteil hatten, sondern sind Manifestationen von großen Idealen. Auch gibt es keine formale Priesterweihe oder organisierte Religionen – wer sich einer Passion verbunden fühlt, kann sich frei für ein Leben als Questor entscheiden, um deren Ideale in Barsaive zu verbreiten. Dabei bleibt ein Charakter auch weiterhin ein Adept seiner alten Disziplin, und wechselt nicht etwa wie in anderen Fantasy-Rollenspielen seine Klasse. Gerade dieser Vielschichtigkeit der Passionen und ihrer Anhänger widmet der Band Questoren viel Platz, und so nehmen die Beschreibungen dieses Hintergrunds auch zwei Drittel des Buches ein.

Nun war die Welt und ihre dichte Verflechtung mit den Regeln schon immer die große Stärke von Earthdawn und kommt auch in diesem Quellenband voll zur Geltung. So sind alle Hintergrundinformationen aus der Sicht der Spielwelt beschrieben und stellen die Ungreifbarkeit der Passionen heraus. Schon die anfängliche Diskussion über ihr Wesen schafft mehr Fragen, als sie beantwortet. So hat bisher kein Gelehrter Barsaives wirklich ermitteln können, ob die Passionen aus den Emotionen der Namensgeber entsprungen sind, oder doch ältere Wesenheiten sind, die erst zu diesem leidenschaftlichen Handeln inspirieren. Auch sind die Passionen in der im Quellenband besprochenen Form einzig ein Phänomen der Provinz Barsaive, andere Reiche des theranischen Imperiums kennen ähnliche, aber von ihrer Art gänzlich andere Wesenheiten, und die Theraner selbst lehnen sie in ihrer Abgeklärtheit gänzlich ab. So bleiben die Passionen weiterhin ein großes Mysterium, das jeder Spielleiter seinen Bedürfnissen anpassen kann.

Floranuus - Die Flamme des Hochgefühls
Floranuus – Die Flamme des Hochgefühls

Im Anschluss wird besonders viel Raum der Beschreibung einer jeden Passion gegeben. Diese sind allerdings keine sachlichen Faktensammlungen, sondern wie so oft bei Earthdawn Gesprächsmitschriften und persönliche Erinnerungen, die die individuelle Sicht eines einzelnen Questors wiedergeben. Hier läuft der Quellenband zu seiner vollen Stärke auf, denn gängige Klischees werden gekonnt umgangen. Stattdessen wird jede Passion von einem Blickwinkel aus betrachtet, die dem Leser die vielseitigen Möglichkeiten zum Dienst an diesen Wesenheiten darlegt.

Einer der Höhepunkte in meinen Augen ist beispielsweise der Auszug aus dem Handelsbuch von Alisar, einer berühmten Questorin des Chorollis, Passion von Reichtum, Handel und Neid. Statt einfach nur einen erfolgreichen Pfeffersack zu beschreiben, der schnöden Mammon hortet, liest man, wie die Händlerin von dem kleinen Ort Averns Querung jegliche Einkünfte direkt wieder investiert. Nicht nur spannt sie so ein gewaltiges Handelsnetz, in dem zahlreiche Kaufleute in ihrer Schuld stehen, nebenbei verbreitet sie auch die Ideale ihrer Passion über ganz Barsaive.

Auch das Streitgespräch zwischen zwei Questoren des Upandal, Passion von Bauen, Konstruktion und Planung, hat es mir sehr angetan. So wird ein ehemaliger Schüler von seiner Handwerksmeisterin dafür gescholten und verachtet, dass er sich der Fertigung von Belagerungsmaschinen gewidmet hat; also Dingen, die zerstören statt zu erschaffen. In seinen erzürnten Widerworten erklingt aber, wie auch darin das Wesen Upandals offenbar wird: Seine Maschinen retten die Leben von Soldaten, die ansonsten für Wochen unter harten Bedingungen einen verlustreichen Angriff nach dem anderen führen müssten.

Besonders aufschlussreich auch für Earthdawn-Veteranen sind allerdings die Essays über die drei verrückten Passionen Dis, Raggok und Vestrial. Ältere Quellenbücher gingen nie wirklich ins Detail, wie sich deren Wahnsinn äußert und warum ein Namensgeber sich ihnen hingeben sollte. So lobpreist ein Questor des Dis, wie das Fehlen von Emotion und Leidenschaft, wie es die Passion von Bürokratie und Sklaverei befördert, den Dämonen nicht nur die Nahrung nimmt, sondern den Namensgebern auch hilft, sich in das Schicksal einer grausamen Welt zu fügen. Eine verurteilte Mörderin kam durch die Einflüsterungen Raggoks, Passion der Untoten, zu der Erkenntnis, dass Töten oder Getötet werden in der Natur der Welt liegt und man auch den engsten Kameraden nicht vertrauen kann. Zuletzt ergab sich ein Trollmädchen den Lehren Vestrials, Passion von Manipulation und Täuschung, um den Häuptling ihres Clans zu demütigen, der ihren Vater beleidigt hatte. Im gleichen Zug erniedrigt sie aber auch ihre Eltern, um ihnen ihre Schwäche aufzuzeigen, dass sie selbst zu solcher Rache nicht in der Lage waren.

Sämtliche Texte aus Sicht der Spielwelt sind eine wahre Fundgrube sowohl für Spieler als auch den Spielleiter. Das Mysterium der Passionen wird nicht wirklich aufgelöst, sondern in seiner Vielschichtigkeit vertieft. Die dabei offenbarten Facetten geben dem Leser zahlreiche Anregungen, sich eigene Questoren auszudenken, die den Passionen Barsaives auf ihre ganz eigene Weise dienen.

Damit verbleibt ein Drittel des Quellenbandes für die Regeln, die bei Earthdawn auch in der vierten Edition recht komplex bleiben. Wie schon in der vorigen, nur auf Englisch verfügbaren dritten Edition erhalten Questoren Weihekräfte, die regeltechnisch wie die Talente der Disziplinen beschrieben sind. Gewährte jede Passion zuvor nur drei Basiskräfte, so stehen ihren Dienern nun je rund ein Dutzend zur Verfügung, die sich zwischen einigen Questoren auch überschneiden. Der eigene Einsatz für die Ideale einer Passion wird weiterhin durch Weihepunkte abgebildet, die man durch entsprechende Taten erlangen kann. Für jeden Questor sind passende Beispiele von unbedeutenden bis hin zu fanatischen Akten und auch Questen aufgeführt.

Mit dem Quellenband werden diese Regeln noch um diverse Elemente erweitert, die Questoren nun vollständig abbilden wie die Adepten mit ihren Disziplinen. So erwerben Questoren durch ihre Weihetaten einen Rang, der unabhängig von dem des Adepten von Kreis 1 bis 12 reichen kann und in die Stufen Jünger, Anhänger und Vorbild aufgeteilt ist. Wo in der dritten Edition die Weihekräfte noch pauschal mit dem Gesamtrang als Questor anstiegen, sind neue Kräfte nun mit dem Anstieg des Weiherangs für zunehmende Kosten an Legendenpunkten zu erwerben.

Chorrolis - Passion des Reichtums
Chorrolis – Passion des Reichtums

Gänzlich neu ist die Möglichkeit, Weihepunkte ähnlich dem Karma aus den Grundregeln zu verwenden. Sie können für Zusatzwürfel für Proben ausgegeben werden, allerdings sind diese Würfel auch für andere Charaktere einsetzbar und steigen abhängig vom Rang des Questors bis auf einen w8 an. Gerade diese Möglichkeit zur selbstlosen Unterstützung anderer im Namen der eigenen Passion empfinde ich als sehr stimmungsvoll und zweckmäßig.

Nicht unerwähnt bleiben soll aber auch, dass ein Charakter als reiner Questor erschaffen werden kann, ohne wie in Earthdawn üblich auch Adept zu sein. Von dieser Option aber rät der Quellenband in einem separaten Textkasten ab, solange nicht Spieler und Spielleiter mit den Mechanismen von Earthdawn ausreichend vertraut sind.

Insgesamt macht es natürlich Sinn, die Questoren so vollständig auf das gleiche Regelgerüst wie Adepten zu heben; damit steigt die Verwaltungsarbeit für einen Charakter allerdings merklich an. Denn wie schon eingangs erläutert ist die Berufung als Questor ein Zusatz, ein Charakter bleibt weiterhin bei seiner alten Disziplin und gewinnt über Legendenpunkte Ränge in dieser hinzu. So stimmungs- und reizvoll die Berufung gerade durch die ausgezeichneten Beschreibungen aus dem ersten Teil des Quellenbandes ist, so mag der Mehraufwand auf der Regelseite vielleicht so manchen Spieler davon abschrecken, diese zusätzliche Bürde auf sich zu nehmen.

Erscheinungsbild

Trotz des eigentlich überschaubaren Umfangs von 96 Seiten spendiert Ulisses Spiele der Druckversion von Questoren ein schickes Hardcover. Wie schon bei den anderen Publikationen der vierten Edition von Earthdawn ist das Innenleben in schwarz-weißem zweispaltigen Satz gehalten. Die Illustrationen gehen in Ordnung, sind aber merklich nicht spezifisch für diesen Band hergestellt worden. So passen beispielsweise die drei Zeichnungen, auf denen ein Steinmetz nach und nach eine Büste fertigt, gut zur Abhandlung über die Passion Upandal, haben aber nichts zu tun mit dem oben erwähnten Streitgespräch zwischen zweien seiner Questoren. Ein ordentlicher Index, insbesondere hilfreich zum Auffinden der verschiedenen Weihekräfte aus dem Regelteil, rundet das Gesamtbild ab.

Die PDF-Fassung ist mit der Druckfassung identisch, zusätzlich sind noch Lesezeichen vorhanden, um direkt bestimmte Kapitel und Abschnitte aufrufen zu können.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Ulisses Spiele
  • Autor(en): Daniel G. Boyce, William Bush, Josh Harrison, Anthony Jennings, Julien Pirou, Liz Smith, Russell Zimmermann
  • Erscheinungsjahr: 2019
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Hardcover
  • Seitenanzahl: 96
  • ISBN: 978-3-96331-178-9
  • Preis: 22,95 EUR (Hardcover), 11,- USD (PDF)
  • Bezugsquellen: Amazon, idealo, DriveThruRPG, Sphaerenmeister

 

Fazit

Questoren erweitert die Welt von Earthdawn durch vielschichtige Betrachtungen der Passionen und ihrer Anhänger. Durch das geschickte Umgehen von Klischees werden Blickwinkel offenbart, die sowohl für Spieler als auch Spielleiter eine wahre Fundgrube sind. Nicht zuletzt die Schilderung der Denkweise der verrückten Passionen und ihrer Questoren verschafft Einblicke, mit denen frühere Editionen von Earthdawn so nicht aufwarten konnten.

Die dazugehörigen Spielregeln fügen sich nahtlos in die Grundmechanismen für Adepten ein und erweitern die Kräfte, die die Passionen den eigenen Charakteren gewähren können. Dadurch wird das bereits sehr komplexe System von Earthdawn aber auch um sehr viele kleinteilige Elemente ergänzt, die im Auge zu behalten vielleicht nicht die Sache eines jeden Spielers ist.

Der fantastische Hintergrundteil jedoch lässt solche Bedenken schnell schwinden. Wer bisher erwogen hat, den Passionen und ihren Dienern eine größere Rolle in der eigenen Spielrunde zu verschaffen, der kommt an Questoren nicht vorbei.

Artikelbild: Ulisses Spiele, Bearbeitet von Verena Bach
Das PDF dieses Produkts wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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