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Medusa ist ein beliebtes Monster der Phantastik mit einem Kopf voller Schlangen und einem Blick, der versteinert. Doch wie sie dazu wurde, ist eine Geschichte voll Gewalt. Nach etlichen Jahrtausenden hat Medusa es satt, sich zu verstecken und verklagt Poseidon und Athene vor einem Gericht der Unsterblichen.

Seit Madeline Millers genialem Das Lied des Achill sind Nacherzählungen antiker Mythen wieder in Mode. Teilweise wird die Geschichte dabei um phantastische Elemente ergänzt, wie auch im Fall von Verdammt lebendig: Medusa. Dieses Buch führt ins Köln der Gegenwart, wo sich die Gorgone Medusa versteckt hält.

Triggerwarnungen

Vergewaltigung (nicht explizit beschrieben), Blut, Erbrochenes, Trauma, Schlangen, Hassrede (Diese Triggerwarnungen wurden aus dem Buch übernommen.)

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Story

In vielen Mythen der griechisch-römischen Antike kommt Sex vor, manchmal ist er Teil einer leidenschaftlichen Liebe oder auch die Pointe eines Witzes. Deutlich häufiger ist er jedoch gewaltvoll: Zumeist männliche Götter nutzen ihre Kräfte, um Nymphen, Göttinen oder menschliche Frauen zu täuschen und zum Geschlechtsverkehr zu bringen – häufig sind es auch Vergewaltigungen.

So auch in Medusas Fall: Sie war eine Priesterin der Athene, wurde von Poseidon im Tempel ihrer Göttin vergewaltigt und anschließend von Athene zur Strafe in das schlangenhaarige Monster verwandelt, dessen Blick versteinert. Doch anders als im Mythos wurde Medusa in diesem Roman nicht von Perseus getötet, sondern hat versteckt überlebt. In der Gegenwart lebt sie in Köln, ihre wichtigsten Kontakte sind seit vielen Jahren der Gott Asklepios – ihr einziger Verbündeter – und natürlich die Schlangen auf ihrem Kopf.

Doch Medusa hat genug vom Versteckspiel und davon, sich als Opfer zu fühlen. Sie hat Poseidon und Athene verklagt. Nicht vor einem weltlichen Gericht, sondern einem göttlichen, der UGO. Diese Abkürzung steht für Universelle Götterorganisation. Die UGO wurde nach Kriegen unter den Gottheiten gegründet, sollte Frieden und Gerechtigkeit sichern und ein Gericht für Streitigkeiten unter den Unsterblichen anbieten – was zusammen mit der Organisation sabotiert und vergessen wurde.

Medusa hat mit Hilfe der ägyptischen Göttin Maat die UGO wiederbelebt, um vor diesem Gericht Gerechtigkeit zu bekommen.

Der Roman beginnt nach Einreichung der Klage und mit einem Mordanschlag auf Medusa, denn Poseidon und Athene haben wenig Interesse daran, sich für ihre Taten zu verantworten. Maat stellt Medusa deswegen Horus als Bodyguard an die Seite. Dabei entwickeln sich Gefühle zwischen Medusa und Horus, doch auf platte Handlungsmotive wie das des Opfers, das durch Liebe geheilt wird, hat die Autorin verzichtet.

Der Prozess gegen Poseidon und Athene läuft natürlich nicht glatt, es gibt zahlreiche Versuche, das Gericht zu sabotieren, vor allem aber Medusas Glaubwürdigkeit und die UGO insgsamt in Frage zu stellen. Doch Medusa hat nicht vor, weiter zu schweigen und ihr Mut sorgt für einigen Wirbel unter den Gottheiten. Schließlich ist sie nicht die einzige, der Gewalt angetan wurde! Mord und Vergewaltigung gehören für Olympier wie Zeus und Poseidon zu ganz normalen Beschäftigungen, auch innerhalb der eigenen Familie. Jetzt beginnt Medusa eine göttliche #MeToo-Bewegung.

Unterstützung bekommt Medusa neben weiteren Betroffenen von dem teilweise etwas undurchsichtigen Asklepios, dem heldenhaften, aufrechten Horus und vor allem der weisen Maat. Diese Figur offenbart zugleich ein großes Versäumnis des Buches: Ab der ersten Seite ist Maat Medusas Anwältin und vertritt sie bei ihrer Klage vor der UGO. Wie die versteckte Medusa Maat überhaupt gefunden und von ihrer Echtheit und ihrer Sache überzeugt hat, wird leider nur in ein paar Nebensätzen abgehandelt. Dabei wäre das ausgesprochen spannend gewesen. Ähnliches gilt auch für die UGO, hier wäre ebenfalls etwas mehr Entdeckung dieser fast vergessenen Organisation durch die Hauptfigur spannend gewesen.

Schreibstil

Verdammt lebendig: Medusa ist aus Medusas Perspektive erzählt und in Ich-Form geschrieben. Dadurch ist es immer möglich, die Gedanken und vor allem die Gefühle der Hauptfigur nachzuempfinden, was sich flüssig liest, aber mitunter unangenehm beklemmend ist. Vor allem einige der Stellen, an denen Medusa über Poseidons Tat spricht oder nachdenkt, sind nicht einfach zu lesen. Die Autorin spart dankenswerterweise detaillierte Beschreibungen der Vergewaltigung aus und konzentriert sich auf Medusas Gefühlswelt, ihre Ängste, Sorgen und Wut, während sie langsam aus ihrem wörtlichen wie übertragenen Versteck kommt. Kommentiert werden Medusas Gedanken von den Schlangen auf ihrem Kopf. Diese sind eigentlich Randfiguren, aber die heimlichen Stars des Romans, haben sie doch alle eine eigene Persönlichkeit und kommentieren mit ihrem Verhalten mitunter die Geschehnisse und auftretenden Figuren.

Der Weltenbau ist schnörkellos: die Gottheiten aller Kulturen existieren und die UGO hat abseits der Blicke der Menschen einen Sitz im Bermuda-Dreieck. Die UGO beschränkt sich nicht nur auf die Gottheiten der griechisch-römischen Antike, sondern ist universal. Entsprechend sind die auftretenden göttlichen Gestalten weiter gefasst, sie stammen aus dem alten Ägpten, aus Babylonien, der altnordischen Kultur und aus Japan. Leider ist Enma die einzige Gottheit aus dem asiatischen Kulturkreis, hier wäre für eine weltweite Organisation sicher mehr möglich gewesen.

Die Autorin

Lucia Herbst lebt mit Familie und Kater in München und schreibt am liebsten bei Regen. Verdammt lebendig: Medusa ist ihr Debütroman und gewann 2023 den Seraph in der Kategorie Bestes Debüt.

Erscheinungsbild

Anders als etliche anderen Mythosneufassungen kommt Verdammt lebendig: Medusa nicht in weiß oder sandfarben daher, sondern in Grüntönen. Eine moderne Profilansicht Medusas ist zwischen zwei griechischen Säulen zu sehen und von üppigem Laubwerk umgeben. Die Titelschrift ist an die Schriften römischer Reliefe angelehnt. Das Cover von Emily Bähr verspricht, dass Medusa in diesem Buch eine große Rolle spielen wird und passt damit sehr gut.

Die übrige Gestaltung des Buches ist innen wie außen schlicht und funktional und kommt ohne haptische Elemente wie Spotlack auf dem Einband oder Werbe-Elemente in Form lobender Zitate aus. Nachdem das Buch den Seraph in der Kategorie Bestes Debüt gewann, wurde auf dem Cover noch ein Aufkleber ergänzt, der auf diese Tatsache hinweist.

© Piper Verlag

Die harten Fakten:

  • Verlag: Piper
  • Autor*in: Lucia Herbst
  • Erscheinungsdatum: 27. Oktober 2022
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Taschenbuch
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN: 978-3492506168
  • Preis: 18,00 EUR (Print) + 4,99 EUR (E-Book)
  • Bezugsquelle Fachhandel, Amazon, idealo

 

Bonus/Downloadcontent

Das Buch hat im Anhang ein umfangreiches Glossar der auftretenden und erwähnten Gottheiten und mythischen Figuren. So lässt sich auch bei unbekannteren Gestalten kurz nachlesen, aus welchem Kulturkreis sie stammen und welche Mythoserzählung zu ihnen gehört. Das ist besonders bei den familiären Verflechtungen der Gottheiten des Olymps sehr nützlich. Zusätzlich wurde auch Medusas Schlangen eine Charakterauflistung spendiert.

Passend für ein Buch, das Vergewaltigungen thematisiert, kommt auch Verdammt lebendig: Medusa mit einer Triggerwarnung. Diese wurde hinten im Anhang platziert.

Fazit

Medusa hat in der Gegenwart lange genug geschwiegen. Sie belebt ein uraltes Gericht der Gottheiten wieder, um Poseidon und Athene zu verklagen und sorgt dabei für einigen Wirbel unter den Unsterblichen. Verdammt lebendig: Medusa schafft es, die Geschichte eines Vergewaltigungsprozesses zu erzählen, dabei den Fokus auf das Opfer zu legen und sich nicht in detailreichen Tatbeschreibungen zu verlieren. Ein klassisches Gerichtsdrama ist nicht zu erwarten, da die Tat an sich nicht im Prozess rekonstruiert werden muss. Stattdessen konzentriert sich die Autorin auf die Ich-Erzählerin Medusa, die zwischen Mut, Ängsten, Wut und dem Wunsch sich zu verstecken schwankt.

An einigen Stellen hat die Romanhandlung ihre Schwächen und hätte gern umfangreicher sein können, dafür ist die Gefühlswelt Medusas umso eindringlicher. Auch die auftretenden Gottheiten sind angenehm vielfältig und beschränken sich nicht nur auf den griechisch-römischen Kulturkreis.

Verdammt lebendig: Medusa kommt nicht an die sprachliche Kraft der Mythennacherzählungen Millers heran, aber wir hätten diesem Buch ebenfalls einen Seraph verliehen.

  • Vielfältige Gottheiten
  • Sensibler Umgang mit schwerem Thema
  • Lustige Schlangen

 

  • Teilweise Dinge zu wenig ausgeführt

 

Artikelbilder: © Piper Verlag, © Majorgaine |depositphosos.com
Layout und Satz: Melanie Maria Mazur
Lektorat: Maximilian Düngen
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