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Kurzgeschichten können nicht fesseln, da der Leser keine Beziehung zu den Charakteren aufbauen kann? Kurzgeschichten sind immer unbefriedigend, da ihre Enden offen und ihre Handlungen zu kurz sind? Redakteurin Julia hat eine feste Meinung über Kurzgeschichten. Oder konnte Bernhard Hennens Kurzgeschichten-Sammlung Wolfsträume sie eines Besseren belehren?

Eigentlich bin ich wirklich kein Freund von Kurzgeschichten. Schuld ist wahrscheinlich Ernest Hemingway mit seiner Kurzgeschichte Old Man at the Bridge. In der Schule musste ich diese Geschichte viel zu oft besprechen, analysieren, totreden. Einen Draht zu Kurzgeschichten konnte ich einfach nie aufbauen. Das Beste an einer Geschichte ist es doch, wenn man unendlich tief in sie eintauchen kann. Dazu braucht es viele Seiten, ausschweifende Beschreibungen und weitreichende Entscheidungen. In Kurzgeschichten, die sich im besten Fall über 50 Seiten erstrecken, ist so etwas nicht möglich. In Kurzgeschichten sind die Charaktere flach, die Geschichte endet abrupt, und der Leser bleibt unbefriedigt und mit tausend Fragen zurück. Zumindest war ich vor Bernhard Hennens Kurzgeschichten-Sammlung Wolfsträume dieser Ansicht. Noch nie lag ich so falsch …

Story

Wolfsträume enthält, logischerweise, weit mehr als nur eine Story. Auf den 427 Seiten bekommt der Leser gleich elf Geschichten geboten, um genau zu sein. Die Settings sind dabei so verschieden, dass für jeden etwas dabei ist. Während die eine Geschichte in der Gegenwart spielt, findet man sich in der nächsten im antiken Griechenland wieder. Dabei gleicht keine der anderen. Als Leser spürt man regelrecht, dass diese Kurzgeschichten-Sammlung, bzw. diese Erzählungen-Sammlung wie Bernhard Hennen sie selbst genannt hat, ein Sammelsurium seiner Ideen ist.

Die erste Geschichte „Mondträume“ ist in erster Linie eine Liebesgeschichte. Eine Liebesgeschichte, die den Tod überdauert. So schnulzig, wie es nun vielleicht klingt, ist es wirklich nicht. Um ehrlich zu sein, ist die Geschichte eher gruselig. Sie spielt in der Gegenwart und besitzt keinerlei phantastischer Elemente. Bis auf eines vielleicht. Das wichtigste, wenn man so will. Doch, wenn ich es verraten würde, wäre die Geschichte nur halb so spannend. Im Großen und Ganzen treffen sich in dieser Geschichte alte Schulfreunde, um ihren ehemaligen Stammtreffpunkt, eine alte Burg, zu verabschieden. Sie soll abgerissen werden. Die Freunde sind inzwischen alle in den 40ern. Sie haben Familien, oder nicht mehr, und stehen mehr oder weniger fest im Leben. Doch einer hat die Freunde aus einem bestimmten Grund zusammengerufen …

Nach der Gegenwart geht es in die Zukunft. Es geht in ein Deutschland, in dem 2032 ein schlimmer Vogelgrippe-Virus ausgebrochen ist. „Virus“ trägt Gesellschaftskritik in sich. Was würde die Menschheit tun, wenn nur ein Bruchteil von ihr gerettet werden könnte? In Hennens Deutschland der Zukunft rettet sich dieser Bruchteil unter eine Kuppel. Körperkontakt ist verboten. Die Ansteckungsgefahr ist zu groß. Kranke werden zum Sterben verbannt, die Erinnerung an sie wird ausgelöscht. Der Leser begleitet Paul für nicht länger als einen Tag, doch mehr braucht es nicht. Die Geschichte hallt nach … denn nicht nur Viren sind ein tödlicher Virus.

Die dritte Erzählung ist der Namensträger der Sammlung: „Wolfsträume“. Liebesgeschichte, Gesellschaftskritik, Gruselgeschichte. Die Mischung macht’s, so viel steht fest. „Wolfsträume“ kommt mit seiner Erzählung über gerissene Pferde, nackte Menschen bei Nacht und den Teufel einer typischen Gruselgeschichte sehr nahe. Besonders schön ist, dass Hennen seinen Leser bei dieser Geschichte gewissermaßen an der Nase herumführt. Für alles gibt es eine wissenschaftliche Erklärung, man muss sie nur finden …

Manche Erzählungen sind so kurz, dass man sie kaum als Geschichte bezeichnen kann. So zum Beispiel auch „Ruth“. Die Erzählung umfasst nicht einmal vier Seiten und sagt doch trotzdem so viel. Als ich den letzten Satz gelesen hatte, sah ich hoch und dachte mir: Wie, das war’s? Das kann es doch noch nicht gewesen sein, ich habe noch so viele Fragen! Doch noch während ich dies dachte, tröpfelte im wahrsten Sinne die Erkenntnis in meinen Kopf. Während ich also zuerst enttäuscht und in meiner Abneigung gegenüber Kurzgeschichten bestätigt vor mich hinstarrte, ergab auf einmal alles einen Sinn. Mir wurde bewusst, ohne irgendetwas explizit zu schreiben, hat es Bernhard Hennen geschafft, alle Fragen zu beantworten. Spätestens nach dieser Geschichte war ich überzeugt, um eine Geschichte entstehen zu lassen braucht es nicht viele Worte, es braucht nur die richtigen.

Auf zwei Geschichten möchte ich noch kurz eingehen, die Bezug auf Bernhard Hennen persönlich nehmen: „Verwunschenes China“ und „Tod im Labyrinth“. „Verwunschenes China“ ist wieder eine sehr kurze Erzählung. Ohne, dass es irgendwo geschrieben steht, vermute ich, dass es sich bei dieser Erzählung um eine Anekdote handelt. Der Protagonist erzählt aus der Ich-Perspektive über seine chinesische Ehefrau und deren Familie. Hennen ist mit einer Chinesin verheiratet, doch dies alleine ist nicht der Grund für meine Vermutung. Vielmehr ist es der letzte Satz der Erzählung: „Solche Geschichten sind es, die mich zum Schreiben inspirieren und die manchmal auch Einzug in meine Romane finden“.

„Tod im Labyrinth“ hingegen ist keine Anekdote aus Hennens Leben. Dafür zeigt sie einmal wieder Hennens Hintergrund. Als Historiker und Archäologe hat er ein eingefleischtes Interesse an alter Geschichte. Die Griechen und der Mythos um den Minotaurus und den Helden Theseus haben es ihm dabei augenscheinlich besonders angetan.

Schreibstil

Egal, welche der elf Erzählungen man liest, sie sind alle hervorragend geschrieben. Selbst auf vier Seiten schafft es Hennen, den Leser mit dem Protagonisten mitfiebern zulassen. Sein Schreibstil ist kurz, prägnant und trotzdem bildlich. Einige der Erzählungen habe ich fast fünf Monate vor dem Schreiben dieses Artikels gelesen, andere erste wenige Tage zuvor, doch alle sind mir noch vollkommen lebhaft und voller Bilder in Erinnerung geblieben.

Die Erzählungen kann man zu jeder Tages- und Nachtzeit lesen. Egal, ob vor dem Einschlafen, auf dem Weg zur Uni/Arbeit oder einfach mal zwischendurch. Die Sprache der Sammlung ist so flüssig und bildhaft, dass ein Lesen selbst mit müden Augen Spaß macht.

Der Autor

Bernhard Hennen wurde 1966 in Krefeld geboren und studierte Germanistik, Geschichte und Archäologie. Bereits während seines Studiums sammelte er erste schreiberische Erfahrungen bei der Neuen Rhein Zeitung. Außerdem schrieb er für Das Schwarze Auge. Mit seinen Abenteuern Folge dem Drachenhals und Auf der Spur des Wolfes gewann er 1991 sogar die DASA (Deutsche Abenteuer Spiele Auszeichnung). Zusammen mit Wolfgang Hohlbein schrieb er die Trilogie Das Jahr des Greifen, wobei der erste Teil Der Sturm 1994 sogar eine Auszeichnung als beliebtester deutscher Fantasy-Roman erhielt.

Spätestens seit 2004 ist der Name Bernhard Hennen ein fest etablierter Bestandteil der deutschen Phantastikszene. Seine Elfen-Romane eroberten mehrfach die Bestsellerlisten und umfassen, zählt man den Drachenelfen-Zyklus mit, dreizehn Romane. Auf seiner Webseite schreibt Hennen selbst über sich:

Eine starke Freundschaft verbindet ihn mit Wolfgang Hohlbein. Genau wie dieser ist er ein Fan von strategischen Tabletop-Simulationen und setzt seine Sammlung historischer Zinnfiguren ein, um die häufig in seinen Romanen vorkommenden Schlachten konzeptionell zu planen.

Erscheinungsbild

Besonders schön anzusehen ist das Cover der Kurzgeschichten-Sammlung. Ein schwarzer Hintergrund, leicht verwischte Buchstaben und ein durchscheinender Wolf, der stark an die Geisterwölfe aus World of Warcraft erinnert. Das Cover passt dementsprechend sehr gut zum Titel Wolfsträume und auch zu einigen Geschichten.

Ansonsten ist die Typografie der Sammlung hervorragend: Die Schrift ist angenehm zu lesen, der Satz sieht ansprechend aus, und auch das Papier hat eine angenehme Dicke.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Piper
  • Autor: Bernhard Hennen
  • Erscheinungsjahr: 2016
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Taschenbuch
  • Seitenanzahl: 427
  • ISBN: 978-3-492-70389-5
  • Preis: 14,99 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon

 

Bonus/Downloadcontent

Bei Amazon gibt es den fast schon obligatorischen „Blick ins Buch“.

Fazit

Ich gebe zu, nach den Ernest-Hemingway-Eskapaden in der Schule waren Kurzgeschichten für mich kein Thema mehr. Ihre Faszination hat sich mir einfach nicht erschlossen. Wieso soll man eine Erzählung lesen, die vielleicht zehn oder zwanzig Seiten hat, wenn man doch stattdessen eine handfeste Geschichte mit vernünftigem Spannungsbogen und tiefgründigen Charakteren verschlingen kann?

Bernhard Hennens Kurzgeschichten-Sammlung Wolfsträume hat mich eines Besseren belehrt. Selbst auf nur vier Seiten schafft er es, eine Geschichte entstehen zu lassen, die fesselt. Hennen beantwortet Fragen, ohne sie explizit anzusprechen. Alleine indem der Leser nachdenkt, erschließen sich völlig neue Welten. Dabei gleicht keine Geschichte der anderen. Ob Gegenwart, postapokalyptische Zukunft oder antikes Griechenland; ob Liebesgeschichte, Gruselstory oder Historiengeschichte – bei Wolfsträume ist für jeden etwas dabei. Auch in der Länge variieren die Erzählungen. Wenn man mal etwas weniger Zeit hat, liest mal also einfach eine zehn Seiten lange, anstelle einer 50 Seiten langen Erzählung.

Alles in allem bin ich vollkommen überzeugt und kann Wolfsträume bedingungslos weiterempfehlen. Wer weiß, vielleicht greife ich ja nun öfter mal zu einer Kurzgeschichte …

Artikelbilder: Piper Fantasy
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

 

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