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Eigentlich möchte man beim LARP vieles aus der Alltagswelt zurücklassen und eintauchen in eine andere Welt. Unser Gehirn lässt sich jedoch nur bedingt auf das ‚Hier und Jetzt‘ konditionieren, gerade wenn wir den bespielten Ort nicht zum ersten Mal betreten. Ohne es zu bemerken, erschaffen wir uns unsere persönlichen Kippbilder.

LARP sorgt für viele unvergessliche Momente im Leben eines Spielers, von denen er oftmals noch Jahre danach schwärmen kann. Was zu den wunderbarsten Effekten dieses Hobbys gehört, ist jedoch manches Mal auch eine Krux. Der Mensch ist darauf konditioniert, sich besonders an die Details zu erinnern, die mit den meisten Emotionen aufgeladen sind. Dazu gehören eben nicht nur Worte und Menschen, sondern auch Orte.

Wieder an bekannte Spielorte zurückzukehren, hat eine völlig andere Qualität, als neugierig neue Orte zum ersten Mal zu Gesicht zu bekommen. Beide Momente sind mit Aufregung verknüpft, doch etwas Entscheidendes fehlt beim Betreten eines unbekannten Spielortes: die Erinnerung an dort Erlebtes. Gleichsam wie zwei Negative einer alten Filmrolle scheinen sich momentane Eindrücke des Platzes im Rohzustand und Erinnerungen an durchlebte Spielerlebnisse an ein und demselben Ort übereinanderzulegen. Vergleichbar ist jener Effekt auch mit den bekannten Suggestivbildern, die zwei Bilder gleichzeitig sein können: Gesichter oder Kelch, alte oder junge Frau, je nach Blickwinkel. Welches von beiden wir zuerst sehen, hängt maßgeblich von unserer Erwartung und unseren Vorerlebnissen ab, und es braucht einige Übung, dem Gehirn anzuerziehen, das andere Bild zu sehen.

Neuronale Netzwerke: die Theorie

Wie eng räumliche Orientierung und menschliches Gedächtnis miteinander verbunden sind, haben Wissenschaftler an der Universität Freiburg im Jahr 2014 herausgefunden. Demnach werden räumliche Orientierungspunkte, die durch visuelle Eindrücke im Gehirn gespeichert sind, dazu benutzt, bestimmte Erinnerungen wachzurufen. Kurz bevor die Probanden im Test an einem bestimmten Ort abgelegte Objekte im Gedächtnis wachriefen, wurden die Neuronen im Gehirn aktiviert, die für räumliche Informationen zuständig sind.

Erklären lässt sich dieser Umstand leicht mit Urinstinkten der frühen Menschen, welche weit weniger sesshaft waren als der moderne Mensch und häufig in Gruppen dem Zug der Herden folgten. Orte wiederzuerkennen und auch damit verknüpfte positive oder negative Erlebnisse, war im Zweifelsfall überlebenswichtig.

Dass Orte und Erinnerungen gut miteinander kombiniert werden können, ist jedoch auch ohne den 2014 erbrachten neuronalen Beweis längst bekannt. Gedächtniskünstler benutzen sogenannte Gedächtnispaläste, um in den dortigen Räumen Erinnerungen bildlich abzulegen. Wenn sie sich beim Erinnerungsprozess in jene Räume begeben, fallen ihnen die dort gespeicherten Fakten ein. Große Bekanntheit erlangte diese Art der Memorierungstaktik unter anderem durch die BBC-Serie Sherlock.

Was für das Alltagsleben von Vorteil ist, kann sich jedoch für LARP als nachteilig erweisen. Die oft stark zeitlich kondensierten und intensiven Plotmomente einer Con lassen den Effekt der Ort-Erinnerung-Verknüpfung noch stärker hervortreten. Angst, Wut, Siegesrausch und Verzweiflung, gespielt oder nicht, sind mächtige Marker für das Gehirn. Je intensiver die Erinnerung, desto stärker bleibt sie auch mit dem Ort verknüpft, an dem sie stattfand.

Kippbilder allerorten: die Praxis

Mehrere Szenarien der besonderen Verbindung von Ort und Erinnerungen lassen sich fürs LARP durchspielen:

1. Ein OT unbekannter Ort wird einmalig IT belegt

Das dem Spieler unbekannte Gelände einer Con gleicht vor dem ersten Bespielen einer leeren Landkarte voller weißer Flecken. Erst nach und nach werden die Orte mit Szenen verknüpft, die an diesem Ort stattgefunden haben, und erhalten somit eine persönliche Bedeutung. Je stärker der emotionale Stimulus der Szene, desto intensiver wird der Ort mit der Szene ‚besetzt‘. Es entsteht eine Art Landkarte der Erinnerungen. Stattet man den Orten nach dem Ende der Con einen Besuch ab, steigen Erinnerungen auf: der Ort des wichtigen Rituals, der Ort der epischen Endschlacht, der Ort, wo das eigene Zelt stand und man lustige Abende verbrachte … die Liste ließe sich endlos fortführen. Ist man wieder zuhause und erinnert sich an eine bestimmte Szene, erinnert man sich im Gegenzug mit an räumliche Gegebenheiten: den Baum, an den man sich lehnte, als man verletzt war und vom Heiler zusammengeflickt wurde, oder die Silhouetten der Zelte gegen den dunklen Himmel bei der unerwarteten nächtlichen Attacke.

Für die Immersion während der Con und für das Erinnern danach ist dies das Idealszenario, doch je länger man sich in der LARP-Szene bewegt, desto seltener werden diese Momente. Weitaus häufiger kommt es zu folgenden Szenarien:

2. Ein OT bekannter Ort wird zur IT-Spielwiese

Gerade mittlere und kleine Cons finden häufig auf Campingplätzen oder dem Gelände von Pfadfinder-/Jugendorganisationen statt. Hat man dort im wahren Leben schon häufiger Zeit verbracht und besucht dann eine Con auf demselben Gelände, kann es oft schwer sein, die mit dem Ort verknüpften Erinnerungen auszuschalten. Hier kann wieder die häufig emotional sehr stimulierende Welt des LARP helfen, Erinnerungen quasi zu überschreiben und neu mit Con-Erinnerungen zu besetzen. Der Ort des gemütlichen Nachmittagskaffees mit Mitgliedern einer Chorfreizeit kann dann zum Ort der hitzigen Lagerbesprechung werden, jedoch bleibt ein Teil der alten Erinnerungsmarker immer vorhanden, was die Immersion erschwert. Es kommt zu den oben angesprochenen Kippeffekten zwischen zwei Bildern, Alt und Neu. Das Gehirn muss nicht nur einmal, sondern in bestimmten Situationen immer wieder darauf trainiert werden, die OT-Erinnerungen auszuschalten.

Besonders kurios kann ein Szenario werden: wenn nach der Con wieder ein OT Besuch ansteht und die Erinnerungen sich fortwährend überlappen, das Kippbild IT/OT sich also ständig einstellt. So kann es passieren, dass man bei der nächsten Pfadfinder- oder Chorfreizeit nachts ungern allein über das Gelände streift, weil der Gedanke an einen unerwarteten NSC-Angriff noch präsenter ist als erwartet. Angst und Argwohn sind nun einmal Instinkte, die tiefer reichen als das rationale Wissen, dass alles nur ein Spiel war und längst vergangen ist.

3. Der Fall Kampagne

Handelt es sich nicht um eine einmalige Con, sondern um eine längerfristig angelegte Kampagne, bietet die mehrmalige Nutzung desselben Veranstaltungsorts sowohl Chancen als auch Risiken. Die Spieler kehren Jahr für Jahr an denselben Ort zurück, wo sie von Erinnerungen an bisherige Cons begrüßt werden. Handelt es sich OT wie IT um denselben Ort, bildet sich eine Kontinuität, die im besten Fall zum World-Building der gesamten Kampagne beitragen kann. Die Spieler und ihre Charaktere können an vorherige Cons durch bereits bespielte Orte anknüpfen und ihre eigene Geschichte dadurch variantenreich fortschreiben. Gleichzeitig können sich auch die Organisatoren den Wiedererkennungseffekt zunutze machen, alte Kulissen wiederverwenden und die Geschichte der Orte selbst mit mehr Tiefe ausstatten.

Schwieriger gestaltet sich die Rückkehr, wenn IT ein anderer Ort aufgesucht wird, der Zeltplatz jedoch OT derselbe bleibt. Nun müssen alte Erinnerungsorte überschrieben werden, da meist nicht genügend Platz vorhanden ist, um der Wiedernutzung von Spielstellen auszuweichen. Der ehemalige vergiftete Ort eines Unheiligtums, mit negativen Emotionen belegt, ist auf der neuen Con eventuell ein friedlicher Hain oder ein machtvoller Ritualort. Bewusst oder unbewusst kann diese Tatsache Spieler daran hindern, sich im gegebenen Maße auf die neue Situation einzulassen, was wiederum den Spielfluss stört. Auch hier gilt: Je heftiger die Emotion, die mit dem doppelt belegten Ort zuerst verknüpft wird, desto aufwendiger gestaltet sich der Versuch einer Überschreibung.

Selbst wenn Orte nicht erneut direkt genutzt werden, kommt es bei der Bespielung eines Geländes, und sei es nur im Vorbeigehen, unweigerlich zu ‚Flashbacks‘. Diese erfolgreich auszublenden und sich wieder zu vergewissern, dass einem diese Baumgruppe oder dieser Steinkreis als Charakter nichts sagen sollte, erfordert einen aus dem Spiel hinausführenden Aufwand. Natürlich ist vollkommene Immersion zu allen Zeiten nicht unbedingt jedermanns Spielziel, jedoch ist das Bewusstmachen des Effekts ein erster erfolgreicher Schritt in Richtung der gewünschten ‚Umkonditionierung‘ des Gehirns. Auch Organisatoren sollten sich, wenn sich eine Doppelbelegung von Orten von einer Con zu anderen nicht vermeiden lässt, der Wirkung von Ort-Erinnerung-Verknüpfung bewusst sein und darauf achten. So können beispielsweise Orte mit ähnlichen emotionalen Konditionierungen belegt werden, positiv oder negativ. Denn je entgegengesetzter die Emotionen, desto größer der Aufwand, den das Gehirn in der Umkonditionierung leisten muss.

Andernfalls kann es durchaus zu einem diffusen Gefühl der mangelnden Immersion unter den Spielern und dadurch zu einer leicht vermeidbaren negativen Bewertung der Con kommen.

4. Zwei Kampagnen, ein Ort

Es mag viele geeignete Plätze für LARP in ganz Deutschland verteilt geben, von weitläufigen Geländen, wie sie von Wyvern und Utopion gemietet bzw. gekauft sind, über Burgen bis hin zum kleinen Pfadfinderlager um die Ecke. Trotzdem sind Belegungen durch unterschiedliche Organisationsteams kaum zu vermeiden. Gehört man dann zu der Sorte Spieler, denen Energie, Zeit, Ressourcen oder schlichtweg die Lust fehlt, den eigenen Aktionsradius über mehr als drei Bundesländer auszuweiten, kommt es zwangsläufig dazu, dass an einem Spielort unterschiedliche Cons stattfinden.

Im Extremfall kann dann folgende Herausforderung auf das emotionale Gedächtnis des Spielers zukommen: Was vielleicht nur Wochen zuvor als karge Ödnis voller Gefahren und Kälte wahrgenommen werden sollte, wird nun als blühende Landschaft vorgestellt, die zwar durch Gefahren bedroht wird, aber nichts von ihrer Schönheit verloren hat. Stärker können Welten wohl nicht kollidieren.

Aber auch ohne diesen beschriebenen Extremfall von zwei völlig konträren Settings werden die visuellen Eindrücke des Ortes sich mit Erinnerungen an die vergangene Con verbunden haben. Beim erneuten Bespielen des Geländes sind die Erinnerungen immer implizit mit vorhanden, je stärker die verknüpfte Emotion, desto präsenter.

Konditionierung und Übung: das Ergebnis?

Was also kann ein Spieler tun, wenn er sein Spielerlebnis nicht von konfligierenden Eindrücken und alten Erinnerungen, IT wie OT, getrübt sehen möchte? Allein schon das Bewusstmachen des Effekts kann dabei helfen, Spielorte zumindest weitgehend zu neutralisieren. Ganz den alten, unverbrauchten Blick darauf wiederherzustellen, ist unmöglich, da das menschliche Gehirn wie oben erwähnt darauf trainiert ist, sich Orte zum späteren Wiederkennen genau einzuprägen.

Geht man vor dem „in-character“Spiel, noch zu Zeiten des allgemeinen Aufbaus, an jene Stellen, an die man sich noch besonders erinnert, und ruft man dann bewusst die intensive Erinnerung wach, kann man sich in einem nächsten Schritt bewusst darauf einstellen, dass nun vieles anders sein wird. Auf diese Weise wird man später „in-character“ nicht unversehens vom eigenen emotionalen Gedächtnis überrascht und weniger im Spiel beeinflusst.

Im Endeffekt müssen die inneren Kippbilder auch nicht unbedingt als lästiges, zu beseitigendes Übel angesehen werden. Es kann sogar im Gegenteil für den Einzelnen spannend sein herauszufinden, ob und in welchem Maße sich diese Kippeffekte einstellen. Schließlich verrät das emotionale Gedächtnis dem Spieler auch etwas darüber, wie prägend einzelne Erlebnisse für ihn selbst waren und welche Konsequenzen er daraus für sein Leben oder für sein Spiel gezogen hat.

Artikelbild: Gemeinfrei
Bilder: Michael Kramer, Rainer Halama, CVJM

 

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