Geschätzte Lesezeit: 7 Minuten

Eigentlich hofft die gepanzerte Sicherheitseinheit Murderbot nur, niemand möge bemerken, dass sie ein Bewusstsein entwickelt hat und heimlich Serien guckt. Doch als das Forschungsteam, das sie beschützen soll, in Lebensgefahr schwebt, droht ihr Geheimnis ans Licht zu kommen. Martha Wells preisgekrönte Novelle über einen introvertierten Roboter ist kultverdächtig.

Während sie sich auf dem englischsprachigen Buchmarkt großer Beliebtheit erfreuen, haben Novellen in der deutschen Phantastik oft keinen leichten Stand. Das ist schade, denn einige der besten Bücher, die Fantasy und Science-Fiction in den letzten Jahren zu bieten hatten, waren Novellen. Zum Glück sind sowohl Nnedi Okorafors afrofuturistische Binti-Reihe als auch Seanan McGuires Wayward Children Novellen inzwischen in Form von Sammelbänden auch auf Deutsch erhältlich. Wenn der Erfolg der englischen Ausgaben ein Anhaltspunkt ist, müssten es als nächstes Martha Wells Murderbot Diaries zu uns schaffen. Und tatsächlich: Es mehren sich die Gerüchte, dass man die Abenteuer des zwischenmenschlich etwas ungeübten Androiden bald im Heyne-Verlag erwerben kann. Bis dahin müssen Roboterenthusiasten mit dem Original Vorlieb nehmen.

Story

In einer fernen turbokapitalistischen Zukunft haben die Menschen sich aufgemacht, den Weltraum zu erkunden. Da aber Wissen allein sich nicht rentiert und eine Reihe großer Konzerne vor allem auf Profit aus ist, muss sie dabei auf Zeitverträge, ökonomisches Outsourcing und zweitklassiges Equipment zurückgreifen. So etwa auf die SecUnits, militärisch ausgerüstete Killerroboter, die Wissenschaftlern zu ihrem Schutz auf Expeditionen begleiten. Es geschieht, was geschehen muss, wenn man am falschen Ende spart: Dank schlampiger Programmierung entwickelt eine der intelligenten Kriegsmaschinen ein Bewusstsein und hackt ihr Regler-Modul.

Noch bevor sie ihre radikale Freiheit dazu nutzen kann, ein schreckliches Blutbad anzurichten, entdeckt sie die Mediathek ihrer aktuellen Auftraggeber. Unzählige Stunden hingebungsvollen Medienkonsums später hat sich Murderbot, so nennt sie sich selbst, vollkommen mit ihren Umständen abgefunden. Nach außen wirkt sie wie alle anderen SecUnits, erfüllt Aufträge und gehorcht zum Schein ihrer ursprünglichen Programmierung, aber sobald sie nicht gebraucht wird, verliert sie sich dann in Filmen, Serien und Hörbüchern. Kein schlechtes Dasein also, solange nur ihre Firma nichts mitbekommt.

Doch Murderbots Tarnung droht aufzufliegen, als sie einer Expedition auf einen noch unbesiedelten Planeten zugeteilt wird, die einfach vom Pech verfolgt scheint. Karten stimmen nicht, Geräte streiken und immer wieder geraten die sympathische Dr. Mensah und ihre Crew in Lebensgefahr. Ist es möglich, dass jemand die Mission gezielt sabotiert? Wieso sollte jemand ein Team harmloser Wissenschaftler ausschalten wollen? Klar ist nur eins: Die Täter haben die Rechnung ohne einen gepanzerten Kampfroboter gemacht, der gewillt ist, alle Programmierungen zu ignorieren, um der Sache auf den Grund zu gehen…

Martha Wells verpasst in All Systems Red dem beliebten Narrativ vom allzu menschlichen Roboter einen neuen Anstrich. Dass intelligente Maschinen sich als Außenseiter behaupten müssen, ist an sich keine Seltenheit. Murderbot ist jedoch die ultimative Identifikationsfigur für eine Generation, die eigentlich nichts lieber möchte, als hingebungsvoll ihre Netflix-Serien zu schauen, sich aber ständig zum Handeln gezwungen sieht. Sozial unbeholfen und mit (verständlichen) Ängsten seitens der Wissenschaftler konfrontiert, muss die schüchterne Killermaschine lernen, sich mit der Gruppe zu arrangieren.

Man kann sich gut in Murderbot hineinfühlen.

Dabei vermittelt allein die Tatsache, dass die Interaktion mit den Menschen sie viel mehr anstrengt als diverse actionlastige Rettungsaktionen, nicht nur Introvertierten ein tiefes Gefühl von Vertrautheit. Wer sehnt in unangenehmen sozialen Situationen nicht den Abend und die nächste Folge der Lieblingsserie herbei? In einer Zeit, in der von Becky Chambers Zwischen zwei Sternen bis Annalee Newitz Autonom sympathische Roboter auf dem Selbstfindungstrip allgegenwärtig sind, fliegen Murderbot die Herzen förmlich zu – auch und gerade in dem Bewusstsein, dass es dem linkischen Stahlkoloss unendlich unangenehm wäre.

Der Plot selbst ist wie bei Novellen üblich sehr gerafft. Wells hält sich nicht lange mit Expositionen auf, sondern kommt direkt zur Sache. Ein Geheimnis muss gelüftet, Feinde müssen überwunden, die Forscher müssen beschützt werden. Da ist es gut, dass die Wissenschaftler sich rasch zu individuellen Charakteren mausern, die ihrerseits viel zur Lösung beitragen. Die Frage, wie sie reagieren werden, sobald ihnen dämmert, dass ihre SecUnit alles andere als ein willfähriger Diener ohne Bewusstsein ist, trägt zur spannenden Dynamik zwischen den Figuren bei, ohne den Plot unnötig in die Länge zu ziehen. So geht es dann auch geradlinig auf das Finale zu, das an Unterhaltsamkeit nichts zu wünschen übriglässt.

Schreibstil

Murderbot erzählt seine Geschichte selbst und so wird die etwas absurde Prämisse des dauerverlegenen Killerroboters aus der Innenperspektive entwickelt. Gekonnt vermeidet Wells die naheliegenden Klischees. Aus Murderbots Erzählung spricht weder zynische Überlegenheit noch gezwungen komische Ahnungslosigkeit im Umgang mit Menschen. Stattdessen erzeugt der Gegensatz zwischen tödlichen Fähigkeiten und dem völligen Desinteresse daran, irgendjemandem zu schaden, eine ganz eigene, subtilere Komik, dank der man sich bei dem mechanischen Meuchler bestens aufgehoben fühlt.

Da auf den knappen 150 Seiten die Handlung im Vordergrund steht, darf man von All Systems Red keine Detailanalysen eines kapitalistischen Raumfahrtzeitalters oder semiwissenschaftliche Großentwürfe der Flora und Fauna des Planeten erwarten. Die Novelle ist Unterhaltungsliteratur par excellence und was sie an Welt zu bieten hat, ist unmittelbar plotrelevant. Entsprechend gibt es auch keine langen Exkurse.

Murderbots sarkastische Kommentare zu verhängnisvollen Sparmaßnahmen liefern bereits alle Hinweise, die man braucht. Dass der Erzähler außerdem digital Zugriff auf die Hintergründe aller anderen Figuren hat und über keine schlechte Menschenkenntnis verfügt, erspart gekünstelte Vorstellungsszenen. Was man über die Wissenschaftler wissen muss, bekommt man schon gesagt. Generell ist die Sprache sehr zugänglich, der Stil angenehm unprätentiös und die Lektüre verbindet Spaß und Spannung aufs erfreulichste.

Die Autorin

Martha Wells wurde 1964 in Texas geboren und war bereits während ihres Anthropologiestudiums als Schriftstellerin tätig. 1993 erschien ihr erster Roman The Element of Fire. Seitdem verfasste sie zahlreiche Fantasy- und Science-Fiction-Romane und wurde für diverse Preise nominiert, darunter auch für den Nebula-Award. Neben eigenständigen Büchern schrieb sie außerdem für das Universum von Star Wars sowie Stargate Atlantis. Zusätzliche Bekanntheit erlangte sie mit ihrer Rede „Unbury the Future“ auf der Worldcon 2017, in der sie dazu aufrief, sich mit vergangener und gegenwärtiger Marginalisierung in der Community auseinanderzusetzen. Ein Jahr später wurde sie für All Systems Red mit dem Hugo-Award ausgezeichnet. Die Murderbot Diaries umfassen inzwischen vier Bände.

Erscheinungsbild

Das Cover von All Systems Red gibt die Qualitäten der Novelle erstaunlich gut wieder. Aus dem Augenwinkel betrachtet scheint das Maschinengrau von Stahl und Chrom jeden potentiellen Leser weiterzuwinken, der nicht eingefleischter Fan von Military Science-Fiction ist. Aber dann bleibt der Blick doch hängen: Sind das nicht etwas zu viele Nuancen für ein liebloses Ballerwerk? Wie böse kann ein gesichtsloser Roboter sein, der über allen Schattenwald erhaben in einen Himmel aufragt, den Planetenringe wie graue Regenbögen durchziehen? Das Cover ist so schlicht, dass man es direkt wieder vergisst, und doch so effektiv, dass man es überall wiedererkennen würde.

Für amerikanische Standards, die ja qualitativ mitunter sehr zu wünschen übriglassen, ist das Buch sehr hochwertig. Papier und Bindung sind einwandfrei, der Satz ist ansehnlich und die Schrift groß genug, dass man nicht befürchten muss, sich die Augen zu ruinierten.

Die harten Fakten:

  • Verlag: TOR Books
  • Autorin: Martha Wells
  • Erscheinungsdatum: 2. Mai 2017
  • Sprache: Englisch
  • Format: Taschenbuch
  • Seitenanzahl: 154
  • ISBN: 978-0-7653-9753-9
  • Preis: 12,38 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon

 

Fazit

All Systems Red ist ein Science-Fiction Thriller, der einerseits subversiv, andererseits aber angenehm unaufdringlich ist. Murderbot, ein schwerbewaffneter Sicherheitsroboter, der ein Bewusstsein entwickelt und sich selbst gehackt hat, muss sich widerwillig zum Retter einer völlig aus dem Ruder laufenden Forschungsmission aufschwingen. Die kluge Story lebt vor allem von der introvertierten Hauptfigur, die mit ihren sozialen Hemmungen und beinahe schrulligen Serienvernarrtheit die sympathischste Killermaschine ist, die einem in absehbarer Zeit begegnen dürfte. Humorvoll, actiongeladen und mitunter auch nachdenklich ist der Auftakt zu Martha Wells The Murderbot Diaries ein Science-Fiction Ereignis, das man sich nicht entgehen lassen sollte.

Ob die deutsche Übersetzung der Novelle sie wie üblich mit ihren Nachfolgern bündeln und als Sammelband erscheinen wird, ist noch nicht bekannt. Schön wäre aber, wenn mit All Systems Red endlich wieder mehr Leser ihre Liebe zur Novelle entdecken würden. Wer wenig Zeit hat oder langsam liest, wem 900 Seiten Dune einfach mal zu viel sind, der kann mit Murderbot dennoch in eine vollständig durchdachte und in jeder Hinsicht vollwertige Welt eintauchen, die fesselt, ohne einen für Wochen und Monate in Beschlag zu nehmen. Aber auch für Schnellleser ist das kurzweilige Vergnügen absolut empfehlenswert. Murderbot die SecUnit, die eigentlich nichts Anderes will, als wieder an ihre Ladestation zu dürfen und ihre Serien zu schauen, ist nicht einfach nur eine Figur, sondern ein ganzes Lebensgefühl.

Artikelbild: TOR Books, Bearbeitet von Verena Bach
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein