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Immer mehr LeserInnen rufen unter Hashtags wie #Frauenlesen dazu auf, das eigene Bücherregal bewusst zu diversifizieren. Gerade in der Phantastik ist das empfehlenswert, denn wer stur am etablierten Kanon festhält, geht Stereotypen auf den Leim, die dem Potential des Genres schlicht nicht gerecht werden.


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Die Forderung nach mehr Diversität wird in der phantastischen Literatur immer lauter und ist auch in Deutschland mittlerweile nicht mehr zu überhören. Bereits letztes Jahr wurde auf dem PAN darüber diskutiert, welche Arten von Diversität wie zu erreichen sind und worin dabei die jeweiligen Schwierigkeiten liegen könnten.

Ein von Lars Schmeink angestoßener Dialog wurde aufgegriffen und in Folge äußerten sich viele AutorInnen öffentlich dazu, wie sie welche Figuren schreiben, was allerdings den Eindruck erweckt, der Schwerpunkt der Verantwortung läge bei denjenigen, die die Bücher schreiben. Es gibt aktuell, so die Vorstellung, schlicht keine phantastischen Romane mit vielschichtigen Protagonistinnen, in nicht-westlichen Settings oder mit einem Heldenensemble, das man ohne Schneebrille gar nicht direkt ansehen kann. Gäbe es diese Bücher doch endlich, würden sie begeistert aus den Regalen gerissen werden. Aber ist dem wirklich so?

Wenn der erste Harry Potter-Band vor über zwanzig Jahren unter dem geschlechtsverschleiernden Namen J. K. Rowling erschien, weil der Verlag kein Risiko eingehen wollte, oder wenn die Cover von N. K. Jemisins Inheritance-Trilogie oder Saladin Ahmeds Throne of the Crescent Moon von normschönen weißen Personen geziert werden, obwohl sie von einer schwarzen Prinzessin und einem dicken Araber handeln, genügt es nicht, auf sexistische oder rassistische Verlagsentscheidungen hinzuweisen.

Immerhin steht dahinter die Unterstellung, dass wir als KundInnen lieber keine Bücher von Autorinnen kaufen, geschweige denn Bücher, in denen es nicht um Weiße geht. Diese Unterstellung ärgert mich. Noch mehr ärgert mich allerdings, dass an ihr tatsächlich etwas dran sein könnte.

„Ich lass mir doch meine Lesegewohnheiten nicht diktieren.“

Seit einigen Jahren habe ich mir angewöhnt, darauf zu achten, gezielt so viele Bücher wie möglich von Frauen oder nicht-weißen Männern zu lesen. Dahinter stand kein politischer Aktivismus. Ich war einfach von der Zusammensetzung meiner Bücherregale genervt. Eine spontane Inventur ergab: Ich besaß zwar Bücher von Frauen, aber das waren stets nur Größen wie Rowling und Ursula K. Le Guin; Ausnahmen, so dachte ich, in einem nun mal leider von Männern geprägten Genre. Eine schwarze Frau – Toni Morrison – und ein Asiate – Haruki Murakami – waren auch dabei. Ansonsten gab meine literarische Sammlung allen Verlagsentscheidungen, auf die inzwischen immer öfter empört mit dem Finger gezeigt wird, recht. Warum ist das so?

Dahinter steht – wieder einmal – das Problem der Sichtbarkeit. Bücher von weißen Männern werden stärker beworben und vor allem häufiger besprochen. Eine Studie der Universität Rostock ergab letztes Jahr, dass von Männern verfasste Titel in deutschen Medien doppelt so oft besprochen werden wie Bücher von Frauen. Ein Buch, von dem ich bereits gehört habe, dessen Namen ich vielleicht noch im Ohr habe, springt mir aber in der Buchhandlung mit höherer Wahrscheinlichkeit ins Auge als ein Titel, der mir nichts sagt, selbst, wenn die ursprüngliche Rezension gar nicht positiv ausfiel.

Weiterhin nicht zu unterschätzen sind außerdem direkte Empfehlungen aus dem eigenen Umfeld, gerade in den nischenhaften Genres. Über welche Bücher wir miteinander sprechen, welche Leseerlebnisse wir in sozialen Netzwerken teilen und welche Empfehlungen wir aussprechen, all das wirkt sich auf die Sichtbarkeit einzelner AutorInnen aus – und damit letztlich auf unsere Kaufgewohnheiten.

Die völlig unbeeinflußte Kaufentscheidung gibt es nicht. Warum dann nicht aktiv mit-beeinflussen?

Stereotype stellen ein weiteres Problem dar: Denke ich an klassische Fantasy, fallen mir J.R.R. Tolkien oder T.H. White ein. Fantasy-Autorinnen haben bei mir unwillkürlich das Image von verklärt-langatmiger Mondscheinesoterik à la Marion Zimmer Bradley oder von Kinderbüchern, die auch im Erwachsenenalter noch gerne gelesen werden – von Liebesgeschichten mit übernatürlichen Schnulzschönlingen ganz zu schweigen.

Bei Science-Fiction und Horror liegt die Messlatte noch viel tiefer, denn wenn ich davon ausgehe, dass Frauen in den seltensten Fällen gute Phantastik schreiben, werde ich bei einem Blindkauf auf Autorinnen verzichten, um kein Risiko einzugehen. Wenn außerdem alle Figuren in meinen Lieblingsbüchern weiß waren, soll das in meiner Abendunterhaltung bitte so bleiben. Für Leserinnen kommt gelegentlich noch ein weiterer Aspekt hinzu: Ich möchte, so albern das klingt, auf keinen Fall, dass jemand denkt, ich lese Science-Fiction von Frauen nur, weil ich eine Frau bin.

Kurz und gut und genau genommen wenig überraschend: So etwas wie eine völlig neutrale Lesegewohnheit gibt es nicht. Indem ich mir keine Gedanken darüber mache, welche Stimmen ich zu Wort kommen lassen möchte, indem ich meine Kaufentscheidung basierend auf Empfehlungen, Verlagswerbung und Rezensionen sowie gelegentlich zufällig treffe, trage ich unbewusst den weiß und männlich geprägten Kanon mit, der sich wiederum auf meine eigenen Empfehlungen auswirkt. Trends wie der Hashtag #Frauenlesen wirken also selbst bereits einem unsichtbaren Trend entgegen, der unsere Buchvorlieben bestimmt.

„In meinem Lieblingsgenre schreiben eben nur weiße Männer.“

Besonders gravierend ist die Kanonisierung, wenn Fans vor lauter stumpf-starrsinniger Stereotypisierung ihre eigene Genregeschichte vergessen. Ein anschauliches Beispiel hierfür liefert die Wahrnehmung klassischer Science-Fiction als traditionell männlich. Diese zeigt sich bereits an den ersten drei Hits der Google-Suche nach „klassische Science-Fiction“. Unter den neununddreißig gelisteten klassischen Science-Fiction-Titeln auf buechertreff.de finden sich vier Titel von Frauen, darunter zweimal Le Guin. Sowohl tor-online.de als auch diezukunft.de featuren auf ihren Listen der wichtigsten Science-Fiction-Klassiker aller Zeiten nicht eine einzige Frau. Diese Art von Geschichtsvergessenheit ist, unabhängig von allen politischen Implikationen für Frauen, die sich heute im Genre behaupten wollen, extrem peinlich und spricht Bände über die deutsche Fankultur.

Gerade um die eigenen Vorurteile zu überwinden, ist eine Auseinandersetzung mit den Autorinnen, die langsam aus dem Blickfeld verschwinden, weil wenig über sie gesprochen wird, unerlässlich. Natürlich kann man vergessen, dass die Wurzeln der Science-Fiction bis zu der ohnehin obskuren Philosophin Margaret Cavendish zurückreichen, aber Mary Shelleys Frankenstein gehört als Ursprung des Genres, wie wir es kennen, fest im historischen Bewusstsein verankert.

Dass heute Anne McCaffrey, Kate Wilhelm und sogar James Tiptree Jr. eher als Spezialwissen gelten, Frank Herbert, Isaac Asimov und Philip K. Dick aber Allgemeinbildung sind, hängt nicht zuletzt damit zusammen, wer prominent verfilmt wurde und so einer jüngeren Generation heute ohne großen Aufwand nahegebracht wird. Das führt eben auch dazu, dass letztere immer wieder genannt werden, wenn Neueinsteiger fragen, welche klassischen Werke sie unbedingt gelesen haben müssen – dabei lässt sich über die Qualität mancher Klassiker trefflich streiten. Langfristig führt dies zu dem Eindruck einer weit zurückreichenden männlichen Tradition, in der Frauen nun ihre ersten, gönnerhaft ermutigten Gehversuche machen.

Dem Internet sei Dank sind historische wie aktuelle Empfehlungen zu Science-Fiction-Autorinnen heutzutage leicht zugänglich. Seit feministische Themen in den letzten Jahren wieder stärker diskutiert werden, finden sich zahllose nach verschiedenen Kriterien zusammengestellte Listen, die neugierigen LeserInnen Inspiration bieten sollen – auch auf den oben genannten Seiten. Etwas schwieriger gestaltet es sich, möchte man neben dem Geschlecht auch auf andere marginalisierende Faktoren achten. Im englischsprachigen Raum hat im Rahmen des neuen Interesses an Afrofuturismus die Aufarbeitung afroamerikanischer Science-Fiction längst begonnen. Das sollte allerdings nicht nötig sein, um Octavia E. Butler und Samuel R. Delany als Wegbereiter für aktuelle Publikumslieblinge wie Nnedi Okorafor und N. K. Jemisin einordnen zu können.

Nicht-binäre Identitäten im Bücherschrank – unerforschtes Territorium?

Hingegen fallen nicht-binäre Identitäten im Diskurs noch heute vollkommen unter den Tisch – und das, obwohl The Left Hand of Darkness ein absolutes Standardwerk ist, das doch gerade Phantastik-Fans beigebracht haben sollte, in dieser Hinsicht um manche Ecke zu denken. Hier verschiebt sich das Problem auch nochmal: Selbst wenn Namen wie Sarah Gailey oder Rivers Solomon manchen ein Begriff sein dürften, wird selten zur Kenntnis genommen, dass beide die Pronomen they/them bevorzugen.

„Fremde Welten“ gähnend leer

Aber warum diesen zugegebenermaßen immer kleiner werdenden Aufwand auf sich nehmen, nur um aus einem allgemeinen Interesse heraus das Ungleichgewicht auf den Regalbrettern auszugleichen? Nun, vor allem, weil jeder, der sich einem nicht unerheblichen Teil phantastischer Literatur durch Nachlässigkeit verschließt, einiges verpasst. Ich persönlich würde nicht auf James Tiptree Jr.s nihilistisch-boshafte Kurzgeschichten verzichten wollen, ebenso wenig wie auf Kate Wilhelms psychologisch fundierte Klon-Familiensaga Hier sangen früher Vögel, geschweige denn auf Jemisins Broken Earth-Trilogie oder Ada Palmers Terra Ignota. Mit diesen Büchern wäre ich vermutlich nie in Berührung gekommen, hätte ich nicht aktiv danach gesucht.

Wer in der Phantastik stur am etablierten Kanon festhält, geht Stereotypen auf den Leim, die dem Potential wirklich fremdartiger Welten nicht gerecht werden können.

Darüber hinaus: Für ein Genre, das von sich behauptet, sich der Erkundung des Fremden zu widmen und sich selbst keine Grenzen zu setzen, ist die Beschränkung auf eine einzige Perspektive schon ein ziemliches Armutszeugnis. Positive Gegenbeispiele für den Einsatz phantastischer Stilmittel der letzten Jahre waren die Verarbeitung der Angst vor rassistischer Polizeigewalt, das Sichtbarmachen grundliegender Problematiken hinter der sogenannten Flüchtlingskrise und die Ergründung des wechselseitigen Verhältnisses zwischen Islam und Postmoderne.

Wer sich einerseits mehr gesellschaftliche Anerkennung für die Phantastikszene wünscht, aber seinerseits nicht gewillt ist, das, was Multiperspektivität hier leisten kann, anzuerkennen, also sich so verhält, wie die Verlage es bei ihren Kauf- und Werbeentscheidungen vorhersehen, gelangt über einen kurzsichtigen Retrofuturismus nicht hinaus.

Manch einer mag jetzt entsetzt auf den Bildschirm starren und ausrufen: „Heißt das, wir dürfen jetzt keine weißen Männer mehr lesen?“ Das ist natürlich Unsinn und im Übrigen auch gar nicht so einfach. Seit ich gezielt versuche, nur noch Frauen zu lesen, machen diese knapp über die Hälfte meines Lesepensums aus, aber mehr eben auch nicht. Denn der Kanon wirkt weiter, das hochgelobte Buch der Stunde, der zeitlose Klassiker, die Romanvorlage für den aktuellen Blockbuster, sie alle wollen weiterhin gelesen werden, ebenso wie Buchgeschenke und Empfehlungen.

Nichts spricht gegen Bücher, in denen wir uns zu Hause fühlen, gegen Figuren, mit denen wir stark übereinstimmen und dagegen, seine Unterhaltung im Vertrauten zu finden – doch mit jeder Neuerzählung derselben Geschichte aus derselben, uns wohlvertrauten Perspektive klingt die Floskel von den fremden Welten, die wir erkunden wollen, leerer.

Artikelbilder: © Freeograph, © JohanSwanepoel, © ccaetano, © Dirima | depositphotos.com, Bearbeitung: Melanie Maria Mazur

5 Kommentare

  1. Interessanter Weise offenbart ein Blick auf mein Bücherregal unglaublich viele Autorinnen. Wenn ich drüber nachdenke, stelle ich fest: Da ich mir schon (sehr) früh einiges an feministischer Fantasy-Tradition angelesen habe – mich haben schlicht weibliche Protagonistinnen interessiert, und die gab es in den Männerbüchern der 80er und 90er quasi nicht – hatte ich schon recht früh ne Lesegewohnheit entwickelt, die die typische Männerliteratur nicht bedienen kann. Ich bin RAUS, wenn weibliche Charaktere platt sexistisch charakterisiert werden, für mich ist das nicht selten ein Grund ein Buch nicht zu beenden – und es natürlich auch nicht weiterzuempfehlen. Meine Jugend war komplett begleitet von den diversen Tortall-Reihen von Tamora Pierce, ich finde auch Marion Zimmer Bradley bis heute wichtig und interessant, es ist halt letztlich feministische Literatur. Von dort kam ich zu Jugenbüchern wie dem Clan der Otori von Lian Hearn, auch eine Frau, und dann zur weiblichen Erotik-Fantasy von Anne Bishop. Wo mich das Coverdesign von Trudi Canavans Black Magician-Reihe angezogen hat, hat mich ihr Schreibstil in allen Fortsetzungen und auch in der Age of Five-Reihe gehalten. Und Naomi Novik hatte mit der Temeraire-Reihe eine der fantastischsten Ideen von Drachenreitern ever, und hat dazu noch fantastische alternate History draus gemacht – wunderbare Bücher.
    Viele typischen männlichen Fantasy-Protagonisten langweilen mich. Ich hab zu wenig Zeit, mich durch Bücher zu fressen, die ich langweilig finde. Es gibt noch genug Autorinnen, die mir Protagonistinnen präsentieren, die kriegen eher meine Lebenszeit. Dazu kommt, dass ich inzwischen viel im Internet lese, in Frauen-dominierten Spaces wie AO3, dort ist Zeug dabei, das Verlagen viel zu radikal wäre, um es zu publizieren. Damit kann das seichte/übervorsichtige Programm der Verlage dann aber eben nicht mithalten. Deswegen finde ich Online-Publishing immer interessanter, dort werden Themen noch viel unbeschränkter am Puls der Zeit aufgearbeitet. In dem Themenbereich, wo ich lese, gibt auch viele non-binary und Trans-Autor*innen. Wer wirklich wilde, moderne Literatur will, muss sich vielleicht wirklich von der Vorauswahl konservativ handelnder Verlage verabschieden. Das Internet hat alles!

  2. Mir gehts ein wenig wie Stefanie. Ich hatte noch nie den Eindruck, dass Frauen in der Fantasyliteratur unterrepräsentiert waren, weil ich von Beginn meiner Lesekarriere an immer schon weibliche Autoren gerne gelesen habe. C.L. moore, C.J. Cherryh, Tanith Lee, Ursula K. Leguin, Marion Zimmer Bradley, Anne Rice. Das war damals keine bewusste Entscheidung, da ich einfach alles gelesen habe, was ich in die Finger bekam, aber geprägt bzw. geöffnet hat es meinen Geschmack natürlich.

    Und heute? Bin ich Mitglied bei goodreads.com und lasse mich gerne von deren Listen bei der Suche nach neuen Büchern/Autoren beeinflussen. Und wenn ich mir beispielsweise die Top 10 der Can’t wait Sci-Fi/Fantasy of 2019-Liste anschaue, wundert es mich gar nicht, dass dort 7 Positionen von weiblichen Autoren besetzt sind.

    Dank Goodreads werde ich auch zusehends auf Autoren mit nicht westlich-europäischem Hintergrund aufmerksam, da stimme ich der Kritik an der Verlagspolitik hiesiger Buchverlage durchaus zu.

  3. Und auch die fantastische Connie Willis, die Frau, die – meiner Meinung nach zu Recht – 11 Hugo und 7 Nebula Awards gewonnen hat, sollte erwähnt werden.

  4. Mir geht es ähnlich. Da ich Fantasy mit Marion Zimmer Bradley begann und ihre Anthologien las (Sword and Sorceress) fanden sich darin viele Geschichten über starke Frauen, oft von Frauen geschrieben. Oft kaufte ich dann auch Romane dieser Autorinnen und habe daher viele solcher Bücher im Schrank. Auch Fantasy aus anderen Kulturkreisen (Afrika, Asien, native Americans) ist dabei vertreten.

    Aber ja: ich merke auch, dass mehr weiße Männerbücher besprochen werden. Letztens hat aber Tor Berichte über weibliche Autoren gemacht. Weiter so!

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