Geschätzte Lesezeit: 11 Minuten

In John Carter of Mars treten die Charaktere in die Fußstapfen des legendären Titelhelden von Edgar Rice Burroughs Pulp-Geschichten. Dabei gilt es nicht nur Kämpfe zu bestreiten, sondern auch Intrigen aufzudecken, kulturelle Differenzen zu überwinden und die fantastische Welt von Barsoom zu erkunden.

John Carter vom Mars ist eine der wohl bekanntesten Figuren der Pulpliteratur. Er entstammt der Feder des Autors Edgar Rice Burroughs, der seine Geschichten zuerst in billigen Heftchen, später dann in Romanform veröffentlichte. John Carter, amerikanischer Soldat, Bürgerkriegsveteran und Gentleman, findet sich eines Tages unter mysteriösen Umständen in einer fremden Welt wieder, die von vierarmigen grünen Monstern, roten und gelben Menschen und anderen merkwürdigen Wesen bevölkert wird.

Ein Ausschnitt der Karte von Barsoom

Diese stellt sich bei weiterer Erforschung als der Planet Mars heraus, der von seinen Bewohnern Barsoom genannt wird – und die Monster sind bei näherem Kennenlernen gar nicht mehr so monströs. Seit John Carter 1912 die Bühne der Literatur betrat, hat er eine treue Fangemeinde. Einer der Fans, Jack Norris, hat für Modiphius ein Rollenspielsystem geschrieben, das auf Barsoom spielt und den Geist der ursprünglichen Geschichten einfangen soll.

Die Spielwelt

Nur 91 der 282 Seiten von John Carter of Mars beschäftigen sich mit Einführung, Regeln und Charaktererschaffung. Der Rest des Buches ist der Beschreibung der Welt von Barsoom, ihren diversen Bewohnern, ihrer Geschichte und ihren Legenden gewidmet. Der Planet, den Erdbewohner Mars nennen, ist physisch dem sehr ähnlich, den auch wir kennen: Er hat zwei Monde, ein Tag ist etwas länger als auf der Erde, das Jahr 687 Erdentage lang, die Gravitation deutlich geringer und es gibt massive Temperaturschwankungen.

Pulp muss nicht mittelalterlich sein oder in den 20ern spielen

wird dieser Mars von vernunftbegabten Wesen bewohnt, die in komplexen und technologisch fortgeschrittenen Gesellschaften leben – die dafür sorgen, dass die eigentlich hauptsächlich aus Kohlendioxid bestehende Atmosphäre künstlich mit Sauerstoff angereichert wird. Ein Teil der Weltbeschreibung ist nur für die Augen der Spielleitung bestimmt und enthält unter anderem ein ausführliches Bestiarium, Informationen, die Spieler erst im Laufe der Kampagne herausfinden sollten, und generelle Tipps.

Die Beschreibung der Spielwelt beginnt mit einer Zusammenfassung ihrer Frühgeschichte, als der Rote Planet noch Ozeane besaß, und geht über zur Geografie und Umwelt Barsooms zu der Zeit, in der das Spiel angesetzt ist. Ein starker Fokus liegt auf der Gesellschaft, genauer gesagt auf den verschiedenen Gesellschaften. Da das System als Grundlage für Plots geeignet sein soll, die nicht nur Kampf, sondern auch Intrige, Spionage und Romantik enthalten, sind die kulturellen Praktiken und politischen Verwicklungen der verschiedenen Völker natürlich wichtig. Ganz im Sinne der ursprünglichen John-Carter-Geschichten ist dabei keine Nation als „Hauptfeind“ vorgesehen. Bösewichte und Verbündete können in jedem Volk gefunden werden.

Etwas anders als zur Zeit Edgar Rice Burroughs’ sind allerdings die Geschlechterrollen, die Charakteren in der Welt des neuen Spielsystems zukommen können: Wie der Autor in einem Kasten am Rand selbst anmerkt, ist es heute kaum noch zeitgemäß, weibliche Charaktere in Nebenrollen zu pressen, was wohl auch vielen heutigen Spielerinnen und Spielern übel aufstoßen würde.

Stattdessen bietet die Welt Spielern wie Spielleitung eine Menge Entfaltungsmöglichkeiten: Die Charaktere können aus unterschiedlichen Kulturen, Rassen und gesellschaftlichen Hintergründen kommen und dennoch als Gruppe zusammenfinden, die Handlung eines Abenteuers kann sich fast überall auf Barsoom abspielen. Da die Marsianer eine gemeinsame Sprache besitzen und zudem alle zumindest rudimentäre Telepathie beherrschen, ist Kommunikation kein Problem.

An den Polkappen kann es richtig gefährlich werden

Generell bietet die detaillierte Beschreibung der Spielwelt, der verschiedenen Marsvölker, Schauplätze und historischen Ereignisse einen guten Rahmen für Spielleiter. Potenzielle Spieler, die mit den Geschichten um John Carter noch nicht vertraut sind, bekommen dadurch genug Information, um ohne weitere Erklärungen losspielen zu können. Dabei lässt das Regelwerk allerdings genug offen, um der Spielleitung Möglichkeiten zur kreativen Entfaltung zu geben.

Es gibt sogar Tipps zur Erschaffung neuer Städte und anderer Schauplätze. Falls jemand einen Erdling spielen möchte, den es wie den Titelhelden nach Barsoom verschlagen hat, sieht das System vor, dass der Charakter aus einer Zeit zwischen der späten viktorianischen Zeit und dem Ende des zweiten Weltkriegs stammt, um das klassische Pulp-Gefühl wiederzugeben. Eine historische Figur zu spielen, ist ausdrücklich erlaubt – etwa die 1937 verschwundene Fliegerlegende Amelia Earhart

Die Regeln

In Anbetracht der Vorlage überrascht es wenig, dass das Rollenspielsystem deutlich im Pulp-Genre angesiedelt ist. Für die Spielmechanik bedeutet das, dass der Fokus auf narrativem Rollenspiel liegt und heldenhaftem Verhalten im Zweifelsfall der Vorzug gegeben wird. Würfel werden trotzdem benötigt, genauer gesagt W20 und W6.

Proben werden im Allgemeinen mit 2W20 gewürfelt – die Regeln sind eine Variation anderer 2W20-Systeme von Modiphius wie Conan – Adventures In An Age Undreamed Of. Dabei muss ein Grenzwert unterwürfelt werden, der sich aus zwei Attributen des Charakters, für den gewürfelt wird, zusammensetzt. Aktionsproben werden immer durch zwei passende Attribute definiert, was Fertigkeiten auf dem Charakterblatt überflüssig macht. Jedes Ergebnis, das unter dem Grenzwert bleibt, zählt als Erfolg.

Das Regelwerk beinhaltet bereits einige vorgefertigte Beispielcharaktere

Je nach Schwierigkeit der Probe werden aber manchmal mehr als zwei Erfolge benötigt. Um diese zu erreichen, haben Charaktere verschiedene Möglichkeiten: Die einfachste ist pures Würfelglück, denn Ergebnisse, die selbst unter dem niedrigsten involvierten Attribut bleiben (in der Regel ein Wert um 4) zählen je einen weiteren Erfolg zum Gesamtergebnis.

Wenn es dann noch nicht reicht, gibt das Regelwerk noch Möglichkeit, zusätzliche Würfel zu erhalten. Dafür sind mehrere dem System eigene Pools vorgesehen: Einer davon ist Momentum, eine Ressource, die jeder Spielercharakter hat. Ein Charakter gewinnt etwa ein Momentum, wenn er mehr Erfolge hat, als für eine Probe gebraucht werden. Die gesammelten Momentum-Punkte sollte sich der Spieler dann aufschreiben oder, wie es im Regelbuch vorgeschlagen wird, durch Münzen, Spielsteine oder andere symbolische und leicht zählbare kleine Dinge dargestellt zu Seite legen, bis sie später gebraucht werden.

Der zweite Pool, aus dem ein Spielercharakter zusätzliche Würfel ziehen kann, heißt Threat, also Bedrohung. Dieser steht unter der Kontrolle der Spielleitung und stellt die Gefahren dar, denen sich die Helden gegenübersehen – also auch die Möglichkeiten und Macht der Antagonisten, die es zu bekämpfen gilt. Wenn ein Charakter kein Momentum hat, um einen Zusatzwürfel zu bekommen, kann der Spieler dafür jederzeit in die Threat-„Kasse“ einzahlen – auch wenn sich dies später rächen mag.

Der dritte Pool, der Zusatzwürfel ergeben kann, heißt Luck, also Glück. Er entspricht zu Beginn des Spiels dem niedrigsten Attribut eines Charakters. Neben der Möglichkeit, Würfel zu einem Wurf hinzuzufügen, kann Glück unter anderem auch dazu verwendet werden, zusätzliche Aktionen in einer Runde auszuführen oder die Geschichte im Sinne des Charakters zu beeinflussen. Wiedergewonnen wird es vor allem durch gutes Rollenspiel oder das Erreichen von Zielen in der Kampagne.

Sechsseitige Würfel werden benötigt, um Schaden zu ermitteln – sei es im Kampf oder durch andere Ereignisse. Dabei bedeutet ein Ergebnis von 1 einen Schadenspunkt, 2 bedeutet zwei Schadenspunkte, 3 und 4 werden ignoriert, 5 und 6 ergeben je einen Schadenspunkt und einen weiteren Effekt, den die Spielleitung festlegt. Man kann sich auch spezielle John Carter of Mars-Würfel kaufen, auf denen dies schon vermerkt ist, aber notwendig ist es nicht. Schaden kann sich auf drei verschiedene Arten auswirken: mental, emotional oder physisch – nach Ermessen der Spielleitung.

Der Charakterbogen zeigt sich wie üblich für 2D20 bunt und verspielt

Charaktererschaffung

Charakterhintergrund schlägt Punktezählen – so lässt sich die Charaktererschaffung in John Carter of Mars zusammenfassen. Das heißt im Einzelnen, dass die Spielercharaktere in klassischer Pulp-Manier als überlebensgroße Heldenfiguren angenommen werden – und in den Fähigkeiten, die sie haben, dementsprechend gut, wenn nicht gar großartig sind.

Jeder Charakter – ob Spielercharakter oder NSC – besitzt sechs Grundattribute: Cunning (List), Daring (Mut), Empathy (Empathie), Might (etwa: Stärke), Passion (Leidenschaft), und Reason (Verstand). Diese werden in unterschiedlicher Kombination für verschiedene Proben benötigt und starten bei allen Spielercharakteren auf 4, was als Durchschnitt für alle Marsbewohner (und Besucher) angenommen wird.

Die Charaktererschaffung geht nach einem narrativen Prinzip vor: Der Spieler wählt zunächst aus, aus welcher Rasse bzw. Kultur der Charakter stammen soll. Rote, grüne, gelbe und schwarze Marsianer stehen zur Wahl, ebenso wie versprengte Erdenbewohner, die durch mystische Phänomene nach Barsoom gekommen sind. Dann wählt der Spieler einen Archetyp, also den Beruf, dem der Charakter nachgeht, und schließlich eine Eigenschaft, die seine Persönlichkeit zusammenfasst, wie etwa „mutig“, oder „charmant“.

Rasse, Archetyp und Persönlichkeit geben dem Charakter jeweils spezifische Boni auf diverse Attribute. Zusätzlich bekommt der Charakter noch fünf Punkte, die auf Talente vergeben werden können – Talente gibt es in den Rängen 1–4, jedoch können bei Charaktererschaffung nur jene in Rang 1 oder 2 gewählt werden.

Rote Marsianer gehören zu den spielbaren Species

Fertigkeiten im eigentlichen Sinne gibt es nicht, denn alle Proben orientieren sich an den Attributen. Wenn davon ausgegangen werden kann, dass ein Charakter eine Fähigkeit hat – etwa aufgrund von Beruf oder kulturellem Hintergrund – darf der Spieler eine Probe versuchen. Talente können bei spezifischen Proben helfen, etwa indem unter spezifischen Umständen eine Würfelwiederholung oder zusätzliche Würfel erlaubt werden.

Charaktere, die einheimische Marsianer sind, bekommen noch acht weitere Punkte, die „Renown“ genannt werden und auf den Status des Charakters, etwa Titel, oder Verbündete verwendet werden können – die auf den jeweiligen Verbündeten vergebenen Punkte bestimmen wiederum dessen Macht und Ansehen in seinem Volk. Erdbewohner, die bei Erschaffung gerade erst nach Barsoom gekommen sind, sind dort unbekannte Fremde und bekommen dementsprechend keine Punkte in dieser Kategorie. Als Ausgleich haben sie spezifische Talente, denn unter der weniger starken Gravitation des Mars sind sie im Vergleich stärker als die Einheimischen und können erstaunlich hoch und weit springen.

Zu guter Letzt wählt der Spieler noch einen Nachteil für den Charakter, der diesen in manchen Umständen zu gewissen Handlungen zwingen kann – etwa der Nachteil „weichherzig“, der es einem Charakter schwer macht, einem schwer verwundeten Feind keine Milde zu zeigen.

Die Erstellung eines Charakters nach diesem System dauert keine 20 Minuten, wenn man eine grobe Idee hat, was man gerne spielen möchte. Veteranen von John Carter of Mars können neue Charaktere auch individueller ausgestalten – etwa mit eigens erdachten und mit der Spielleitung abgesprochenen Talenten –, jedoch ist die narrative Charaktererschaffung des Regelwerks auch für absolute Neulinge recht einfach zu begreifen. Allerdings bleiben beim ersten Lesen ein paar Fragen offen, da die eigentlichen Regeln erst im darauffolgenden Kapitel erklärt werden.

Erscheinungsbild

John Carter of Mars ist mit knapp 300 Seiten ein wahres Monster an Grundregelwerk. Es gliedert sich in 4 Überkapitel, die sich wiederum in Kapitel gliedern. Dankenswerterweise besitzt es neben einem Inhaltsverzeichnis auch einen Index und ein Glossar für spielspezifische Termini.

Passend zum Schauplatz Mars ist das Design des Buchs durchgängig in einem rötlichen Ockerton gehalten, der einen stilvollen Rahmen setzt. Selbst die Schrift ist eher ein dunkles Rotbraun als schwarz, dabei jedoch dunkel genug, um der Lesbarkeit keinen Abbruch zu tun. Die Bebilderung zeigt die Helden und Bösewichte von Barsoom – die jeder spielbaren Rasse und jedem Geschlecht angehören – dabei, wie sie ihrer jeweiligen Berufung nachgehen. Die Illustrationen rahmen den Fließtext ein und machen das darin beschriebene Setting zusätzlich anschaulich.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Modiphius
  • Autoren: Jack Norris, Ben Graybeaton
  • Erscheinungsjahr: 2019
  • Sprache: Englisch
  • Format: PDF
  • Seitenanzahl: 282
  • Preis: USD 19.99
  • Bezugsquelle: DriveThruRPG

 

Fazit

John Carter of Mars bringt die abenteuerliche Welt von Barsoom, die Leser seit über hundert Jahren fasziniert, kongenial in die Form eines Rollenspiels. Egal, ob man von Kindheit an Fan der Reihe war, wie der Autor, oder die Welt nur aus zweiter Hand und aus dem 2012 erschienenen Film John Carter kennt, wie ich: Das Setting fasziniert und überzeugt gleichermaßen. Während es klar im Pulp-Genre bleibt, bietet die Spielwelt große Entfaltungsmöglichkeiten für Plots und Charaktere.

Das System ist nicht mit Regeln überlastet. Die Regeln, die es gibt, sind aber klar verständlich und scheinen – beim ersten Lesen zumindest – gut durchdacht und praktikabel. Die Charaktererstellung geht einfach und schnell, selbst für Rollenspiel-Neulinge. Kurz gesagt: Eindeutige Empfehlung für alle Freunde von Pulp, Science-Fiction- und Space-Opera-Settings, narrativem Rollenspiel und Raum für Spielleiterkreativität.

Mit Tendenz nach Oben

Artikelbilder: © Modiphius, Bearbeitung: Roger Lewin
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

3 Kommentare

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein