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In einer Zeit, als Männer noch Helden, Frauen noch Femmes Fatales und die Welt noch voller Abenteuer war, spielen die Geschichten des klassischen Pulp. Längst hat sich die actiongeladene Erzählweise dieser alten Groschenromane auch im Tischrollenspiel etabliert. Aber was macht Pulp eigentlich aus? Und wie viel Pulp ist zu viel?

Cliffhanger! Heldentum! Rettungen in letzter Sekunde! Pulp lebt von waghalsigen Aktionen, klaren Linien zwischen Gut und Böse sowie spannenden Plots. Abgesehen davon ist Pulp keinem einzelnen Genre zugehörig – im Gegenteil, es lässt sich mit vielen verschiedenen Welten verbinden.

Pulp – was ist das eigentlich?

Die Literaturgattung, die heute zusammenfassend als Pulp bezeichnet wird, wurde von Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1940er Jahre hinein auf billigen Heftchen verbreitet. Sie verdankte ihren Aufstieg nicht unwesentlich der Erfindung der dampfbetriebenen Druckerpresse. Der englische Ausdruck Pulp bezieht sich eigentlich auf das unbehandelte Zellstoffpapier, auf dem diese im Schnellverfahren gedruckt wurden. Meist waren mehrere Geschichten verschiedener Autoren, jedoch zu einem ähnlichen Thema, in einem Magazin zusammengefasst. Diese Themenkomplexe beschäftigten sich etwa mit Abenteuern in exotischen „wilden“ Ländern, Kriminalgeschichten, Romanzen, Horror- und Gruselgeschichten, aber auch fantastischer spekulativer Technik – also dem, was man heute als Science Fiction bezeichnet. Viele Literaturgattungen, etwa die des Noir-Krimis, stammen ursprünglich aus den Pulp-Heften. Damit geht auch schon eine Einschränkung dieser Genrevorstellung einher: Pulp ist im engeren Sinne eigentlich gar kein Genre. Vielmehr ist es ein Erzählstil, charakterisiert durch actionlastige Handlungen mit unvorhergesehenen Wendungen, überlebensgroße Helden und Bösewichte und eindrucksvolle Beschreibungen von Szenerien und Schauplätzen.

Public Domain, Wikimedia Commons – Avon Fantasy Reader von November 1948: H.P. Lovecraft und Robert E. Howard waren unter den bekanntesten Autoren für Pulp im Horror- und Fantasy/Science Fiction-Bereich. Viele ihrer Geschichten sind bis heute Kult.

Hohe Literatur lieferten die Magazine nicht gerade – sie bedienten eher die Sensationslust und den Wunsch nach einer kurzweiligen Flucht vor der Realität. Auf den farbenfroh illustrierten Umschlägen der Hefte waren oft leicht bekleidete Damen und halbnackte Muskelmänner zu sehen, die sich gerade aus irgendeiner halsbrecherischen Zwangslage zu befreien suchten. Und nicht zuletzt gab es auch solche Hefte, die sich vornehmlich mit erotischen Geschichten beschäftigten: Das Genre des Soft-Porno war geboren! Kein Wunder also, dass der Ausdruck „pulp fiction“ bald gleichbedeutend mit „Schundliteratur“ benutzt wurde und die meisten Kunden die Anschaffung eines solchen Magazins eher verschämt unter dem Ladentisch abwickelten. Der Beliebtheit der Hefte tat dies indes keinen Abbruch. Einige Schriftsteller schrieben gar unter Pseudonym Geschichten für Pulp-Magazine, um die Miete zu bezahlen, während sie unter ihrem eigenem Namen an vermeintlich „echter“ Literatur arbeiteten. Allerdings veröffentlichen einige heute noch berühmte Autoren auch unter eigenem Namen Geschichten in den billigen Heftchen, darunter Isaac Asimov, Jack London, Raymond Chandler und Agatha Christie.

Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges und im Laufe der 1950er Jahre begann die Beliebtheit der Pulp-Hefte merklich zu schwinden, bis sie schließlich ganz aus dem Handel verschwanden. Sie gelten allerdings als Vorläufer der klassischen Comichefte. Der actiongeladene Erzählstil und die kernigen Charaktere, die Pulp ausmachten, sind jedenfalls seither nicht mehr aus der Popkultur wegzudenken. Eine berühmte Hommage an die Pulp-Ära sind etwa die Indiana Jones-Filme, die nicht ganz zufällig in den 1930er-Jahren, der Hochzeit des Pulp, spielen.

Pulp im Rollenspiel

Aber nicht nur Comics und Filme haben das Erbe der Pulp-Ära angetreten. Das 1984 erschienene Justice Inc. war wohl das erste „echte“ Pulp-Tischrollenspiel. Die Spielwelt dieses Systems bot Abenteurerszenarien in der realen Welt der 1920er und 1930er Jahre. Charaktere waren keine Superhelden, aber doch mit außergewöhnlichen Fähigkeiten ausgestattete Menschen – eben ganz so, wie etwa Doc Savage und andere Pulp-Helden. Nach einem 1985 erschienenen Abenteuerband wurde Justice Inc. zwar eingestellt und bislang nicht wieder aufgelegt, aber auch andere Rollenspielsysteme haben Abenteuerkampagnen und Regelerweiterungen mit Pulp-Elementen veröffentlicht, etwa das Mini-RPG Pulp Heroes von Wizards of the Coast, das nach den Regeln von d20 Modern gespielt wird.

Wie kommt Pulp an den Spieltisch?

Einige Genres, die oft mit Pulp verbunden sind, sind Steampunk, Space Opera, Western oder Alternative History: Settings, in denen Abenteuerlust und Entdeckergeist eine wichtige Rolle spielen. Pulp-Kampagnen, die in der realen Welt angesiedelt sind, haben nicht selten die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts als vorgegebenen Rahmen. Ähnlich wie in den Pulp-Heften aus dieser Zeit geht es in diesen Szenarien oft um Abenteuer und Reisen in andere Welten oder an exotische Orte, nicht selten mit Hilfe fantastisch anmutender Technik. In Hollow Earth Expedition verschlägt es die furchtlosen Spielercharaktere etwa ins Innere der Erde, welche keineswegs solide, sondern hohl und von allerlei seltsamen Kreaturen bewohnt ist.

Außergewöhnliche Umgebungen und Situationen sind ein Muss: Kein Pulp-Abenteuer ist komplett ohne einen dramatischen Kampf, aber gegen wen oder was unterliegt allein der Fantasie des Spielleiters. Riesenkrabben, Aliens, Vampirfledermäuse oder Nazischergen – das Prinzip lautet: alles kann, nichts muss. Hauptsache, es wird nicht langweilig. Bevor sich die Spieler allzu lange mit Planung und Überlegung aufhalten, ist es fast immer ratsam, eine unerwartete Wendung in den Plot einzufügen – selbst wenn das bedeuten sollte, wie es im Grundregelwerk zu Hollow Earth Expedition empfohlen wird, zur Not einen wütenden T-Rex auf die Charaktere losgehen zu lassen. (Letzteres empfiehlt sich natürlich nur bedingt, wenn sich diese gerade auf einer Dinnerparty in New York City oder einer Forschungsstation auf der Venus befinden … dort sollte man zu passenden Äquivalenten greifen.)

By Malcolm Smith - Transferred from en.wikipedia to Commons, Public Domain – Other Worlds Magazine von November 1949
By Malcolm Smith – Transferred from en.wikipedia to Commons, Public Domain – Other Worlds Magazine von November 1949

Daneben ist der wichtigste Aspekt des Pulp-Rollenspiels, dass die Charaktere nicht einfach nur normale Menschen sind, sondern Helden. Keine Superhelden zwar, aber doch Menschen, die auf irgendeine Weise außergewöhnlich sind: Ein Pulp-Charakter mag etwa ein Fliegerass, ein Revolverheld oder eine tödliche Martial-Arts-Meisterin sein – wenn es nicht ganz so kampflastig zugehen soll (wobei es das eigentlich fast immer tut), ein genialer Privatdetektiv oder eine verruchte Femme Fatale. Entsprechend dazu sind auch die Gegner nicht nur moralisch verkommen, sondern auch mit bemerkenswerten Eigenschaften versehen: Der geniale, aber verrückte Wissenschaftler etwa, oder der übermächtige Mafiaboss.

Zu viel des Guten: Klischees und andere Stolpersteine

Wie schon gesagt, Pulp ist an kein Genre gebunden. Daraus folgt logisch, dass nahezu jedes Genre und jede beliebige Spielwelt mit Pulp zu verbinden ist. Ein gutes Beispiel dafür ist Pulp-Cthulhu, die Rettung für alle Call of Cthulhu-Spieler, die es satt haben, dass ihre Charaktere immer sterben oder wahnsinnig werden, bevor die obszönen Tentakelmonster aus anderen Ebenen besiegt werden können. Während einige Cthulhu-Fans diese Abweichung für Häresie halten – schließlich ist die Kurzlebigkeit der Charaktere und der Gruselfaktor angesichts übermächtiger Gegner eines der Alleinstellungsmerkmale des Horrorsystems – wünschen sich andere die Möglichkeit, auch endlich einmal zurückzuschlagen und es den Großen Alten so richtig zu zeigen. In Pulp-Cthulhu haben Spielercharaktere diese Möglichkeit. Was H.P. Lovecraft, auf dessen in Pulp-Heften erstmals veröffentlichten Gruselgeschichten das System basiert, dazu sagen würde, wird wohl für immer ein Geheimnis bleiben. Nicht nur in der düsteren Welt Lovecrafts, auch in anderen Settings kann die temporeiche Erzählweise des Pulp ein Abenteuer durchaus auflockern. Jedoch kann zu viel Pulp auch zu Frustration führen.

Eine Gefahr ist – ironischerweise – zu wenig Risiko. Schon klar, dass wir alle mal Helden sein wollen. Erst recht im Rollenspiel. Wie schön, wenn entgegen aller Wahrscheinlichkeit die Bombe doch noch in letzter Sekunde entschärft, der Protagonist – sprich: der eigene Charakter – den dramatischen Flugzeugabsturz doch noch überlebt. Pulp bietet für solche heldenhaften Szenarien genau die richtigen Voraussetzungen. Wenn allerdings von vornherein klar ist, dass die Spielercharaktere ohnehin bei allem Erfolg haben werden, nimmt das dem Spiel schnell die Spannung. Hier sollte der Spielleiter gesunden Menschenverstand walten lassen: Selbst wenn Indy im Film den Atomtest im Kühlschrank überlebt – ist es wirklich sinnvoll, wenn die Spielercharaktere ähnlich unzerstörbar sind? In manchen Szenarien lohnt es sich, den Spielern auch mal einen Triumph zu verwehren. Manchmal stirbt auch ein Held – gut nur, dass seine Gefährten ihn rächen werden!

Eine weitere Gefahr sind Klischees: Klar, überkandidelte Charakterkonzepte, glorreiche Helden und bitterböse Antagonisten sind erwünscht. Dabei besteht allerdings die Gefahr, immer wieder die gleichen abgedroschenen Geschichten zu erzählen, etwa so: verrückter Naziwissenschaftler/hinterlistiges Alienwesen/wilder Barbarenhäuptling entführt hilflose Jungfrau zum Zwecke der Paarung und muss von den furchtlosen Helden gestoppt werden. Pulp ist das schon, aber nach einer Weile auch nicht mehr so richtig interessant. Es lohnt sich, sowohl Spielercharakteren als auch NSC so viel Tiefe zu geben, dass sie nicht als reine Pappkameraden erscheinen. Auch Handlungsstränge dürfen durchaus komplex bis doppelbödig sein. Es ist zwar wichtig, dass die Helden keine Atempause bekommen – die Spieler hingegen dürfen durchaus ein wenig zum Nachdenken gebracht werden.

CC-BY-2.0 Will Hart (vial flickr) Mystery Adventure Magazine von September 1936

Die meisten Pulp-Systeme neigen dazu, eher narrativ als zufallsgesteuert zu sein. Das bedeutet einerseits, dass ein guter Plan nicht einfach so durch einen schlechten Würfelwurf zunichte gemacht werden kann; andererseits gibt es der Spielleitung auch die Möglichkeit, im Notfall in die Handlung einzugreifen. Wenn die Gruppe etwa sicher ist, dass sie den Bösewicht beim letzten Spielabend unschädlich gemacht hat, der Spielleiter aber findet, dass das doch ein bisschen zu einfach war – dann gibt es immer die Möglichkeit, dass er auf unerklärliche Weise doch überlebt hat. Und jetzt ist er auf Rache aus! Auch das ist Pulp – und hält das Spiel spannend, solange Kunstgriffe dieser Art in Maßen eingesetzt werden. Natürlich ist es Geschmackssache, wie stark die Lösung eines Plots von der willentlichen Aussetzung der Ungläubigkeit abhängen darf. Man sollte sich dabei jedoch in jedem Fall miteinander abstimmen, um zu verhindern, dass das Ganze ins Alberne kippt.

Charaktere für die Ewigkeit

Doc Savage, Conan der Barbar, John Carter vom Mars, Tarzan und Captain Future – die Geschichten der Pulp-Ära haben Helden erschaffen, die Rollenspieler bis heute inspirieren. Die kreativen Beschreibungen und halsbrecherischen Plots dieser alten Magazine sind als Inspiration für Spielleiter ebenfalls nicht zu verachten. Die etwas überzogene Weltsicht, die sie mit sich bringt, mag nicht jedermanns Sache sein. Manche Gruppen bevorzugen sicherlich vielschichtigere und subtilere Plots als jene, die Pulp-Rollenspiel mit sich bringt. Für die übrigen aber gilt, dass ein bisschen Pulp zur Abwechslung für viel Freude sorgen kann. Welt und System sind eigentlich egal.

Das Einzige, was man braucht, ist ein williger Spielleiter und eine ganze Menge Heldentum.

Artikelbilder: White Wolf, Uhrwerk Verlag, Mystery Adventure Magazine von September 1936, Other Worlds Magazine von November 1949, Avon Fantasy Reader von November 1948

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