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Strahlende Helden, mächtige Magie, epische Schlachten – ist das wirklich alles, was man im Rollenspiel erlebt? Middenarde richtet den Blick auf die einfache Bevölkerung des alten Englands, die sich erst durch die Strapazen des harten Alltags zu Großem aufschwingen kann.

Schon die Einleitung rühmt sich selbst eines erbarmungslosen Kampfsystems und hoher Sterblichkeit, denn die Charaktere sind nicht auserkoren, um Helden zu sein. Es mache eben auch Spaß, diese unbedeutenden Figuren zu verkörpern und ihnen dabei zuzusehen, wie sie durch Strapazen und Mühsal aufgebaut werden.

Die Spielwelt

Middenarde entführt die Spieler auf die Britischen Inseln im 15. Jahrhundert, kurz vor den Rosenkriegen, während dessen die Häuser York und Lancaster dreißig Jahre um den Anspruch auf den Thron kämpfen sollten. Eine ausgezeichnete Epoche für große Heldentaten also – aber genau das ist es nicht, was Middenarde möchte. Statt mächtiger Adliger, Ritter und Kaufleute übernimmt man die Rolle des einfachen Volkes: die der Bauern, der Schmiede, der Jäger.

Dessen Alltag wird auch im ersten Kapitel von Middenarde vorbildlich beschrieben. Aberglaube und Religion, für die Zeit übliche Namen, der Tagesablauf der einfachen Leute bis hin zu ihren genauen Mahlzeiten und Kleidung; alles wird flüssig und auch spannend ausgeführt. Auch das altenglische Feudalsystem, Kriegstechnik und Kriegsführung werden veranschaulicht. Diese Einleitung macht direkt Lust auf mehr.

Karte der britischen Inseln.

Zu meiner großen Verwunderung fehlt aber der Überblick über das große Ganze: Wie ist die politische Situation der damaligen Zeit beschaffen, welche Fraktionen bewegen sich gerade unaufhaltsam auf die kommenden Rosenkriege zu, und wie beeinflusst dies das Leben der einfachen Leute? Tatsächlich verzichtet Middenarde gänzlich darauf, den potentiellen Spielleiter mit Ideen für Abenteuer oder Kampagnen an die Hand zu nehmen. Ich fühlte mich bei der Lektüre sehr schnell allein gelassen. Es verwundert mich sehr, dass der Autor an dieser Stelle wohl ungeheures Potential sieht, schließlich beschreibt er in den Regel den Aufstieg bis hin zu Stufe 30!

Lediglich die dreiseitigen Kurzgeschichten, die jedem Kapitel vorangehen, lassen erahnen, welche Abenteuer man in Middenarde erleben kann. So beschreibt eine der Geschichten eine Dorfhexe, die subtil vor einem kommenden Raubüberfall warnt, eine andere zwei Bauern, die in einer Höhle von lebenden Skeletten übermannt werden. Stimmungsvoll, gewiss, aber zu wenig, um zum eigenen Rollenspiel zu inspirieren.

Die Regeln

Soviel gleich vorweg: Die Regeln von Middenarde wirken zwar durchdacht und überaus detailliert, leiden aber unter der katastrophalen Aufteilung des Buchs. Jedes Element bekommt thematisch konsequent sein eigenes Kapitel, verzichtet aber auf jegliche Querverweise und Hervorhebungen. Übersichten finden sich kaum. Immer wieder werden wichtige Regeln im Fließtext versteckt und gehen leicht unter. Oftmals werden Begriffe genannt, aber nicht erklärt, da diese Ausführungen zu einem anderen Kapitel gehören. Erst mit der vollständigen Lektüre und häufigem Blättern ergibt sich in mühsamer Kleinarbeit ein vollständiges Bild.

Gelungene, aber bisweilen etwas steif wirkende Illustrationen.

Bereits bei der Charaktererschaffung – weiter unten detailliert beschrieben – fehlen Optionen der Abstammung oder die genauen zur Auswahl stehenden Fertigkeiten. Das folgende Kapitel „Playing the Game“ erklärt zwar die Mechanismen für Fertigkeitsproben, auch hier sind die eigentlichen Fertigkeiten aber an keiner Stelle beschrieben oder auch nur aufgelistet. Stattdessen ist ihnen ein eigenes Kapitel gewidmet. Für die eigentliche Probe wirft ein Spieler 3w6 gegen einen vom Spielleiter festgelegten Mindestwurf; bei direkten Konflikten vergleichen die Kontrahenten ihr Ergebnis.

Fertigkeiten

Je sechs Fertigkeiten schließlich sind in insgesamt fünf Kategorien zusammengefasst: Fitness, Combat, Roguish, Mental und Productive. Darunter finden sich übliche Fähigkeiten wie Akrobatik, Klettern, Taschendiebstahl, Aufmerksamkeit oder Handwerk. Zusätzlich ist jede Fertigkeit noch mit ein oder zwei Merkmalen, sogenannten „Tags“, versehen, wie die Beschränkung auf passive Anwendung, ein Höchstwert oder die Möglichkeit zur langfristigen Anwendung. Jede Fertigkeit wird zudem ausführlich in ihren Einsatzmöglichkeiten beschrieben, zusammen mit je einem Beispiel für eine einfache, mittlere und schwere Probe.

Auch Haustier-Eigenschaften werden minutiös definiert.

Besondere Beachtung schenkt Middenarde einem Aspekt des Rollenspiels, der in den meisten anderen Systemen höchstens beiläufig behandelt wird: die tägliche Verpflegung. Schafft es ein Charakter nicht, zwei halbwegs ordentliche Mahlzeiten am Tag zu sich zu nehmen, so erleidet er die zunehmenden Auswirkungen von Mangelernährung und Dehydrierung. Die Fertigkeit Survival hilft in diesen Fällen, auf eigene Faust etwas zusammen zu klauben.

Ähnlich detailliert geht Middenarde auf die Behinderung durch zu große Belastung ein, die in abstrakten Units gemessen wird. Jeder Gegenstand der ausführlichen Ausrüstungslisten hat genaue Angaben über dessen Gewicht. Auch hier zeigt sich, wie Middenarde die Unbill des Alltags haarklein simulieren möchte.

Kämpfe

Kampfhandlungen wickelt Middenarde sehr detailliert ab. Dabei kommt allerdings ein anderer Mechanismus zum Einsatz, als dies bei Fertigkeitsproben der Fall ist. Jeder Kämpfer verfügt über drei Würfelpools: Attack, Evasion und Block. Die ersten beiden verfügen über einen Grundwert von 1w6, der letzte erhält durch Schilde einen Grundwert von 1w8 aufwärts. Kampfaktionen sowie bestimmte Fertigkeiten sorgen dafür, dass Würfel zu Beginn und im weiteren Verlauf auf- oder abgewertet werden können: Aus einem w6 wird ein w8, bis hoch zu einem w12 und umgekehrt. Im folgenden Scharmützel stehen den Spielern zahlreiche Manöver zur Verfügung, wie Desorientierung, Positionswechsel oder Gnadenstoß.

Verschiedene Angriffsarten, ausführlich beschrieben.

Für einen normalen Angriff würfelt man seinen gesamten Angriffspool und verwendet die höchste Augenzahl. Der Gegner entscheidet sich, auszuweichen oder zu blocken, und ermittelt auf die gleiche Weise sein Ergebnis. Übertrifft der Angriff die Verteidigung, fügt die Attacke Schaden zu. Auf einer Tabelle mit 3w6 wird das betroffene Körperteil ermittelt – die meisten Attacken treffen dabei Kopf, Torso oder Taille – und Schaden entsprechend der Waffe von der Vitalität des Verwundeten abgezogen.

Laut dem Regelkapitel (einen Querverweis findet man in den Ausführungen zum Kampf vergeblich) sind den einzelnen Körperteilen eigene Vitalitätspunkte zugewiesen. Bestimmte Waffen können eine Gliedmaße direkt abtrennen, andere diese durch ausreichenden Schaden verkrüppeln.

Das Kampfsystem lässt mich mit gemischten Gefühlen zurück. Zwar gefällt mir die schlichte Idee des Auf- und Abwertens von Würfeln, diese bricht aber mit dem grundsätzlichen Probenmechanismus der 3W6 – warum hat man das originellere System des Kampfes nicht gleich für alle Würfe übernommen? Allerdings macht es die wenigen Fertigkeitspunkte, die ein Charakter überhaupt erhält, unglaublich stark. Geübte Krieger setzen sich schnell von unerfahrenen Kämpfern ab und können diese mit nur einem glücklichen Schlag verkrüppeln oder verstümmeln. So reiht das Kampfsystem sich brutal, aber passend in die Stimmung ein, die Middenarde vermittelt: Du bist kein Held, und der Tod kann dich schneller ereilen, als dir lieb ist.

Magie

Magie kennt Middenarde ebenfalls, obgleich die Einleitung zu diesem Kapitel betont, dass es sich um Low Fantasy handelt und Zauberei oder Wunder zwar real, aber nicht alltäglich sind. Vier Pfade der Macht bietet das Spiel, für die man über die Fertigkeit Attunement beim Charakteraufstieg einen neuen Zauber lernen kann.

Die wilde Magie in Form der Hedge Magic offeriert kleine Effekte wie Gefahrensinn oder Wetterfestigkeit bis hin zu mächtigen Flüchen. Christliche Wunder stehen nur den Frommen zur Verfügung, denn sie vermögen die Gunst des Herrn für Mirakel wie zum Beispiel Heilungen nutzen. Sünden allerdings können die Frömmigkeit senken und im schlimmsten Fall dazu führen, dass Gott sich von dem Übeltäter abwendet.

Häretische Anrufungen hingegen folgen den zahlreichen alten Göttern der Römer, Kelten oder Nordmänner, die auf den Britischen Inseln vor der Christianisierung angebetet wurden. So verschieden wie die Götter sind auch die Auswirkungen. Zuletzt kann man auch infernale Wesenheiten beschwören und mit einer Aufgabe betrauen – doch werden sie zu einem späteren Zeitpunkt ihre Bezahlung einfordern.

Pfade der Macht

Die Pfade der Macht sind allzu mühselig zu beschreiten.

Die Pfade der Macht von Middenarde überzeugen mich nicht. Zum einen ist das System mit seinen kleinen Eigenheiten je Pfad unnötig fragmentiert, zum anderen mag es für mich nicht recht zu dem passen, was Middenarde als Spielgefühl propagiert: Einfache Leute im Alltag ihrer Welt. Dazu mögen gerade die größeren Effekte der Pfade gar nicht passen, durch welche zum Beispiel starke Dämonen beschwören werden, die Armen speisen oder mächtige Flüche aussprechen können.

Für ihre Abenteuer erhalten die Charaktere Erfahrung, gemessen in XP, die von 10 für einen einfachen Spielabend bis hin zu 200 für das Erreichen eines großen Ziels reichen. Ein Stufenaufstieg verleiht gerade einmal je einen weiteren Punkt in zwei separaten Fertigkeiten, dazu einen weiteren Punkt der speziellen Art von Glück, die ihm seine Abstammung verleiht (dazu mehr in der Charaktererschaffung). So erlangen auch erfahrene Charaktere nur zermürbend langsam die Art von Kompetenz, die andere Systeme bieten.

Charaktererschaffung

Darstellung eines erschaffenen Charakters.

Das Erschaffen eines eigenen Charakters in Middenarde ist eigentlich ein schnelles Unterfangen, leidet aber ebenfalls unter der rigorosen Kapitelstruktur und den fehlenden Querverweisen. Zudem befindet sich das Kapitel der Charaktererschaffung vor denen, in denen die Regeln und die Fertigkeiten erläutert werden, so dass die neu eingeführten Begrifflichkeiten zunächst nur für Verwirrung sorgen.

Dabei sind die eigentlichen Schritte schlicht und schnell abzuarbeiten. Zuerst wird der Leser aufgefordert, sich ein grobes Konzept seines Charakter zu machen. Danach soll man bestimmen, ob die Figur Links- oder Rechtshänder ist und die Abstammung festlegen. Bei letzterem hat man die Wahl zwischen Angelsachse, Kelte, Nordmann und Römer. Im vorletzten Schritt erhält man lediglich je einen Punkt auf zwei Fertigkeiten verschiedener Kategorien und einen Punkt der übernatürlichen Kraft, über die man laut der gewählten Abstammung verfügt. Zuletzt bekommt man ausreichendes Startgeld für ein besonderes Erbstück sowie sehr einfache Kleidung und eine ordentliche kleine Waffe.

Am Ende verfügt man über einen sehr schlichten Charakter ohne nennenswerte Kompetenzen, der sich den Strapazen des altenglischen Alltags stellen kann.

Zwar wird jeder Schritt von einem konkreten Beispiel begleitet; dieser Umstand geht als Teil des Fließtexts aber unter.  Zur Erläuterung verwendete Tabellen und Optionen finden sich ohne die nötigen Verweise in anderen Kapiteln. So stiften die Beispiele mehr Verwirrung, als dass sie den Leser unterstützen. Andere essenzielle Werte eines Charakters wie die Lebensenergie oder die drei Kampfpools werden im Erschaffungskapitel sogar komplett unterschlagen.

Erscheinungsbild

Das nur als PDF vorliegende Middenarde ist mit seiner zweispaltigen Aufteilung sehr gut zu lesen, häufige Unterüberschriften erleichtern den Lesefluss. Die acht Kapitel werden eingeleitet von einer ganzseitigen Illustration, darauf folgt stets eine Kurzgeschichte von zwei bis drei Seiten Länge.

Sehr gelungene Einseiter von Wadim Kashim bereichern das Erscheinungsbild.

Ein Index ist leider nicht vorhanden; gerade dieser wäre wegen der fragmentierten Beschreibung der diversen Regeln und Begrifflichkeiten eine große Hilfe. Stattdessen gibt es leider nur das Inhaltsverzeichnis, das grob die acht Hauptkapitel angibt, ohne die Unterabschnitte zu nennen.

Die Illustrationen, so etwa auch auf dem Titelbild, sind zwar gelungen, für meinen Geschmack aber etwas steif. Dafür wissen die Einseiter von Wadim Kashin zu Kapitelbeginn mit ihrem groben, doch dynamischen Pinselstrich und knalligen Farben umso mehr zu begeistern. Diese sind in ihrer Art zwar etwas ungewohnt für eine Rollenspielpublikation, aber toll anzusehen und voller Dramatik.

Der Hintergrund ist nicht ganz druckerfreundlich mit einem leichten Pergamentmuster versehen. Am Rand finden sich nette Ornamente und dekorative Wimpel, die gut und unaufdringlich zum Schauplatz von Middenarde passen.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Eigenverlag
  • Autor: Nathan Quill
  • Erscheinungsjahr: 2018
  • Sprache: Englisch
  • Format: PDF
  • Seitenanzahl: 113
  • ISBN: n/a
  • Preis: 15,- USD
  • Bezugsquelle: DriveThruRPG

 

Bonus/Downloadcontent

Seit Anfang 2019 existiert eine einfache Homepage für Middenarde, die aber bis auf Links auf DriveThruRPG und Social-Media-Kanäle keine eigenen Inhalte bietet. Im Text des Regelwerks ist ein Charakterbogen zum Download erwähnt, der insbesondere die kleinteilige Berechnung der Gewichtsbelastung erleichtern soll, aber dieser ist in der aktuellen Fassung der Seite nicht zu finden.

Fazit

Anstrengendes Leben im Mittelalter.

Der Spielspaß von Middenarde soll sich daraus ergeben, wie eine Figur im mittelalterlichen England durch Strapazen und Mühsal vom einfachen Bauern zum gestandenen Helden heranwächst. Leider ist aber nicht nur das Leben der Charaktere anstrengend, die Lektüre von Middenarde selbst ist es leider auch.

Middenarde verstrickt sich in einem sehr ausgeklügelten Regelwerk, das haarklein Kampfmanöver, Gewichtsbelastung und sogar die tägliche Nahrungsbeschaffung abbildet. Dabei fehlt es den Charakteren an Kompetenz, zu langsam und eingeschränkt steigen die entsprechenden Werte an. Dass Middenarde bei seiner Präsentation auch noch mangels Seitenverweisen und rigoroser Kapitelstruktur bei der Vermittlung der Regeln scheitert, versetzt der Lektüre den Todesstoß.

Schade eigentlich, denn die ausgiebige Beschreibung des alltäglichen Hintergrunds der einfachen Bevölkerung macht Lust auf mehr. Aber auch hier verpasst es Middenarde, einen Überblick über die politische Lage in der Zeit kurz vor den Rosenkriegen zu bieten und den Leser zu eigenen Abenteuern zu inspirieren.

So bleibt Middenarde ein sehr, sehr spezielles Rollenspiel für eine sehr, sehr spezielle Zielgruppe. Meinen Geschmack trifft es nicht.

 

Artikelbild: © Wadim Kashin, © Nathan Quill, Bearbeitung: Melanie Maria Mazur
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

 

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