Geschätzte Lesezeit: 7 Minuten

Horror über Transsylvanien gibt es wie Fledermäuse im Gruselschloss, aber Romane von tatsächlichen rumänischen Autor*innen kennt man in der deutschen Phantastikszene kaum. Mit Flavius Ardeleans verspielter Erzählung über das Leben eines Heiligen in einer Welt, die von widerwärtigen Kreaturen überrannt wird, könnte sich dies nun ändern.

Wer sich für internationale Phantastik jenseits des englischsprachigen Markts interessiert, muss oft ein Weilchen suchen. Neben dem Boom chinesischer Science-Fiction sind es insbesondere dystopische Romane wie Basma Abdel Aziz’ Das Tor oder Michal Hvoreckys Troll, die es auf den deutschen Buchmarkt schaffen. Diesen Winter kommen aber auch Horrorfreund*innen auf ihre Kosten, denn der Homunculus Verlag gibt ihnen mit Flavius Ardeleans Der Heilige mit der roten Schnur die Möglichkeit, sich einen Lieblingsautor aus der sagenhaften Heimat Graf Draculas zuzulegen.

Mit Bram Stokers etwas angestaubtem Briefroman von 1897 hat das Werk des rumänischen Schriftstellers allerdings wenig gemein. In seinen Miasma-Büchern, vage zusammenhängenden Schauermärchen, die Teil eines einzigen bizarren Universums sind, spielt er mit literarischen Traditionen von der deutschen Romantik bis zur Postmoderne und wirkt wie ein nihilistischer Walter Moers aus Siebenbürgen, der selbst nur als Herausgeber in Erscheinung treten will.

Story

Der Heilige mit der roten Schnur berichtet von Geburt, Leben und Tod des Heiligen Taush, so wie das lebende Skelett Bartholomäus Knochenfaust es seinem Mitfahrer auf dem Weg in die Stadt Alrauna über mehrere Tage hinweg erzählt. Es erzählt, wie Taush, der eine rote Schnur aus seinem Bauchnabel ziehen kann, die den Sterbenden den Weg ins Jenseits ermöglicht, die wichtigen Stationen der klassischen Heldenreise erlebt: Die Kindheit mit ersten Wundertaten, die Lehre bei einem weisen alten Meister, die Kameradschaft mit den anderen Gesellen und natürlich auch die Liebe und ihr Verlust an das Böse, bis er sich aufmacht, große Taten zu vollbringen und schließlich die Stadt zu gründen, deren Schutzheiliger er werden wird.

Der Kampf gegen das Böse, der zumindest aus modernen Mythen nicht wegzudenken ist, wird zum zentralen Moment. Mit dem Jahrmarkt der üblen Dünste markiert ein gut abgehangenes Horrormotiv den Beginn dieses Konflikts, und von da an bevölkern albtraumhafte Kreaturen die Geschichte, vor deren grotesken Gewalttaten Hannibal Lecter als Liebhaber korpo-realer Kunst seinen Hut ziehen würde. Ob die Bösen allerdings wirklich die Bösen sind, wie ihre ekelhaften Gestalten nahelegen, bleibt offen. Zwar ist es die Aufgabe Taushs und seiner Mitstreiter, das Einfallen der un’Welt in die Welt aufzuhalten, wo immer es ihm begegnet, jedoch betont die Erzählung stets das Spiegelverhältnis zwischen den Welten.

Vom Himmel aus muss die Erde aussehen wie eine Unterwelt – und was, wenn unten und oben nur perspektivische Verzerrungen sind? Nicht zuletzt der sympathische und doch ganz und gar gräuliche Knochenmann, der die Sage erzählt, entlarvt das Verhältnis zwischen Gut und Böse als ein künstliches, hinter dem ganz andere Facetten schillern. Aufgehoben wird es allerdings nie, denn wenn deine Stadt von Rattenmenschen bedroht wird, verteidigst du sie, egal wie sehr die diabolischen Nager vielleicht von sich selbst glauben, ihrerseits das Richtige zu tun.

Mit dem Kontrast zwischen den sakralen Aspekten des Heiligen und der ironisch gebrochenen Erzählhaltung liest sich der Roman zugleich als sanfte Dekonstruktion religiös und – bedenkt man den Gut-Böse-Dualismus – insbesondere christlich geprägter Legenden über das Leben und Leiden von Heiligen, deren sterbliche Überreste ja selbst oft aufs Morbideste zu Reliquien stilisiert wurden. Das Erhabene und das Schreckliche, das Heilige und das Horrende gehen nicht selten Hand in Hand, was sich im Horror-Genre oft und gern niederschlägt, aber selten so ausdrücklich zum Thema gemacht wird wie hier.

Die Entrückungen Taushs sind keine Erleuchtungen, sondern „Ekel“, seine ersten Verbündeten sind die Insekten und in seiner Entrückung bricht er später eines der fundamentalen zwischenmenschlichen Tabus: In einer grausamen Verzerrung der Eucharistie wird der Heilige zum Menschenfresser. Der so erzeugte Kitzel geht über den profanen Schrecken alltäglicher Horrorliteratur hinaus, denn trotz des wohligen Abstands, den die Leser*innen zum Geschehen bewahren, ist das Thema doch zu sehr im kulturellen Gedächtnis verankert, um einen nichts anzugehen.

Die Verhaftung in einer alten Erzähltradition führt allerdings auch zum einzigen Manko des Buchs: Ardelean bricht vieles ironisch, nicht aber die Frauenrollen. Als Wegsteine auf der Heldenreise, als sorgende Mütter, arglose Geliebte und tückische Verführerinnen, wirken sie nicht klassisch, sondern klischeehaft, umso mehr, als dass sie zugleich zum Angelpunkt durchaus wirkungsvoll eingesetzter Horrortropen werden.

Schreibstil

Ironische Brechung und innerer Sicherheitsabstand sind nicht nur eine Folge des mitunter flapsig-gestelzten Erzählstils Bartholomäus Knochenfausts, sondern auch des gekonnten Spiels mit Text und Paratext. Bereits die vier Teile des Buchs haben suggestive Unterüberschriften, die gerade nicht auf den Inhalt, sondern auf die unterstellte innere Haltung der Leser*innen abzielen: Man ahnt, man erfährt, man weiß, man vergisst. Genauso bereiten auch die Unterüberschriften der einzelnen Kapitel das Kommende vor, etwas, das in der Generation Spoilerwarnung endgültig aus der Mode gekommen zu sein scheint, obwohl man es etwa aus Michael Endes Romanen noch kennt.

Begrifflich leistet Ardelean ganze Arbeit. „Literatur ist am Ende Wortspiel“ behauptet der Fünfunddreißigjährige in einem Interview, und genau so schreibt er auch. Die entscheidenden Motive des Romans finden in seiner Sprache stärker Ausdruck als in der Handlung, das Verhältnis von Welt und un’Welt, Mensch und un’Mensch wird bereits mit der abgetrennten Vorsilbe hinterfragt. Viele der deutsch klingenden Namen von Orten und Figuren sind übrigens keine Übersetzungen, sondern seine Hommage an die deutsche Literatur. Mit ihrer Schreibweise verschärfen sie in der deutschen Ausgabe das Spiel zwischen Vertrautheit und Fremdheit noch weiter, was der außerordentlich gelungenen Übersetzung von Eva Ruth Wemme zu verdanken ist.

Der Autor

Flavius Ardelean, geboren 1985 in Brașov, ist ein rumänischer Autor, Übersetzer und Musiker. Als Verfasser dunkler Phantastik für Kinder und Erwachsene ist er Mitglied der Horror Writers Association und wurde bereits für mehrere Preise nominiert. In Rumänien wurde er zweifach mit dem Colin Award für fantastische Literatur ausgezeichnet. Seine Bücher werden aktuell ins Deutsche und ins Russische übersetzt. Der Heilige mit der roten Schnur ist sein erster auf Deutsch verfügbarer Roman, der Nachfolger Die Blase der Welt und der un’Welt ist bereits angekündigt.

Erscheinungsbild

Abgesehen vom Inhalt lohnt sich Der Heilige mit der roten Schnur für Bücherfreund*innen und Regalprotzer*innen auch wegen der liebevollen Aufmachung. Die gebundene und illustrierte Ausgabe aus dem Homunculus Verlag ist vom – natürlich – roten Lesebändchen bis hin zum gelungenen Schriftsatz der Kapitelüberschriften und Unterüberschriften eine Freude.

Die Illustrationen von Ecaterina Gabriela, die oft mit Ardelean zusammenarbeitet, tragen nicht unwesentlich zu der Stimmung bei, die der Roman erzeugen möchte. Mit fahrigen Strichen skizziert sie Gestalten, die sich nur mit Mühe in der Welt halten können und so aussehen, als seien sie permanent in Auflösung begriffen. Ob als Rattenmensch am Fenster oder als Paar beim Liebesspiel scheinen die Figuren dem Wunsch nach Klarheit und Eindeutigkeit bereits in der Linienführung zu spotten, als würde hier die Ordnung selbst ein letztes Mal standhalten, um sich im nächsten Moment schon dem Chaos zu überantworten.

Die harten Fakten:

  • Verlag: homunculus verlag
  • Autor: Flavius Ardelean
  • Erscheinungsdatum: 10. September 2020
  • Sprache: Deutsch (aus dem Rumänischen übersetzt von Eva Ruth Wemme)
  • Format: gebunden
  • Seitenanzahl: 216
  • ISBN: 978-3-9461-2090-2
  • Preis: 22,00 EUR
  • Bezugsquelle Fachhandel, Amazon, idealo

 

Fazit

Der Heilige mit der roten Schnur erzählt als philosophischer Horrorroman eine drastische Heiligengeschichte, deren augenzwinkernde Rahmenhandlung bereits den Ton für den ganzen Text vorgibt. In einem klugen Spiel mit literarischen Formen und deren kontrollierter Subversion durchläuft die Handlung alle herkömmlichen Stationen einer religiösen Heldenreise und stellt sie sprachlich subtil in Frage, ohne sie zu brechen. Die Geschichte des heiligen Taush, dessen rote Schnur Menschen ins Jenseits geleiten kann, hält viele grausige Begegnungen und einige brutale Tableaus bereit, aber wahrt eine ironische Distanz, die ein lustvolles Spiel zwischen dem Sakralen und dem Abstoßenden ermöglicht, an dessen Grenze die schreckliche Schelmenfigur des Bartholomäus Knochenfaust steht.

Die gerade nicht in ihrer Explizität, sondern in ihrer vagen Fahrigkeit verstörenden Illustrationen von Ecaterina Gabriela tun ihr Übriges, um den Roman zu einem schauerlichen Winterhighlight zu machen. Vom Stil bis hin zur Aufmachung des Romans kann man wirklich nur wünschen, dass man aus Flavius Ardeleans düsterer Miasma-Welt bald noch mehr erfährt. Wenn es so aussieht, wenn Horror, der in Transsylvanien spielt, von Horror aus Transsylvanien abgelöst wird, dann bräuchten wir dringend mehr davon.

 

 

 

Artikelbild: homunculus, © Depositphotos | Vadim Vasenin
Layout und Satz: Verena Bach
Lektorat: Simon Burandt
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein