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Ein Buch, das Aufmerksamkeit verdient: Basma Abdel Aziz‘ Debutroman Das Tor wird als die „erste große Dystopie einer arabischen Autorin“ angepriesen. Im Fokus der ägyptischen Autorin stehen nicht politische Strategien, sondern Einzelschicksale von Menschen, die zwischen Bürokratie und Gewalt aufgerieben werden, bis letztlich auch sie dem System zuarbeiten.

Dystopien scheinen dieser Tage überall zu sein und vermögen doch im Großen und Ganzen immer weniger zu berühren. Allein das letzte Jahr brachte uns Bilder von apokalyptischen Waldbränden in Kalifornien, Elendslagern an den europäischen Außengrenzen und einem karikaturesken US-Präsidenten, neben dem die satirisch überspitzten Kapitolbewohner in The Hunger Games geradezu subtil wirken. Muss ich da wirklich noch ein Buch aufschlagen, um mir vorzustellen, wie ein totalitärer Staat oder eine konsumbesessene Gesellschaft aussieht? Obwohl Dystopien meistens als Warnungen vor der Zukunft gelesen werden, spiegelt das Genre vor allem die Ängste seiner jeweiligen Gegenwart. Die Bedrohung einer sich entwickelnden Biotechnologie des frühen 20. Jahrhunderts prägt Huxleys Brave New World, die Sorge, dass eine neue Frauengeneration in den 80er Jahren die erstrittenen Selbstbestimmungsrechte nicht wird halten können, durchzieht Atwoods The Handmaids Tale und erst letztes Jahr verarbeitete Melanie Vogltanz in Shape Me mit der unheiligen Allianz von Gesundheitsdoktrin und Bodyshaming unter dem Deckmantel der Selbstoptimierung ein hochaktuelles Unbehagen. Auf einen solchen Blick in den Spiegel kann man 2020 verzichten. Immerhin kann nichts so bedrückend, verstörend und unangenehm sein, wie die Tagesschau.

Der Sturm legte sich, nachdem die Beteiligten sich gegenseitig des Verrats bezichtigt hatten.

Das ist vermutlich einer der Gründe, aus denen Basma Abdel Aziz‘ dystopischer Roman Das Tor im letzten April bei seinem Erscheinen zwar stellenweise wohlwollend zur Kenntnis genommen wurde, aber zumindest keine großen Wellen schlug. Vom Verlag etwas großspurig – obgleich nicht ganz zu Unrecht – als „Die erste große Dystopie einer arabischen Autorin“ beworben, verspricht das im Original bereits 2013 erschienene Buch einen Einblick in die politischen Ängste Ägyptens während des Arabischen Frühlings. Die aber scheinen paradoxerweise einerseits unendlich weit von denen einer deutschen Leserschaft im Jahr 2020 entfernt zu sein und ist andererseits doch zu aktuell, um als eskapistische Unterhaltung zu dienen. Das ist schade, denn tatsächlich nimmt al-Ṭābūr, wie der Roman im Original heißt, die schleichende Banalität von autoritären Prozessen unter die Lupe – ein Thema, das uns alle angeht.

Story

Strenggenommen ist Das Tor keine große Dystopie, die hinter die Kulissen eines politischen Systems späht. Im Gegenteil: mit dem Fokus auf einzelne Figuren, die versuchen, in den Wirbeln bürokratischer Willkür den Kopf über Wasser zu halten, ist gerade die Verengung des Blicks die Stärke des Romans. Basma Abdel Aziz führt uns keine großangelegte Staatstheorie vor, sondern eine an verschiedenen Beispielen verdeutlichte Theorie über den Menschen und wie einfach es ist, ihn zu brechen.

Im Mittelpunkt steht der Handelsvertreter Yahya Gad al-Rabb Said, der bei etwas, das die Bevölkerung des namenlosen Landes, in dem die Geschichte spielt, im Nachhinein nur als die „Schändlichen Ereignisse“ bezeichnet, angeschossen wurde. Die Kugel steckt noch immer in seinem Körper. Da sie der Beweis sein könnte, dass bei den „Schändlichen Ereignissen“ Sicherheitskräfte auf unbeteiligte Passanten geschossen haben, wird dem behandelnden Arzt Tarik verboten, sie operativ zu entfernen. Für den Eingriff braucht Yahya eine Genehmigung, die ihm am Tor ausgestellt werden soll, dem Verwaltungssitz, an den sich Bürger*innen mit ihren Belangen wenden können. So bleibt ihm keine andere Wahl, als sich in eine immer länger werdende Schlange einzureihen und darauf hoffen, dass das Tor sich bald öffnet. Allein, das tut es nicht.

Und wenn Du nur die Hälfte ihrer Überzeugung hättest, hättest du längst aufgehört herumzuschwafeln.

Mit Yahya erfahren wir vom Schicksal anderer Menschen in der Schlange. Da ist die passionierte Lehrerin Ines, deren liberale Gesinnung zu deutlich wurde und die nun vom Tor eine Bescheinigung braucht, um weiter unterrichten zu dürfen. Der geschwätzige Schalabi steht an, um die Erinnerung an seinen gefallenen Cousin reinzuwaschen. Und da ist Umm Mabrouk, die sich geschickt in der Schlange vorarbeitet und schließlich anfängt, mit den anderen Anstehenden ins Geschäft zu kommen. Sie alle werden von der Notwendigkeit, ihren Platz in der Schlange nicht aufzugeben, sowohl an ihrem Alltag als auch am aktiven Verfolgen des Zeitgeschehens gehindert.

Damit zeigt Das Tor, was in vielen Dystopien stillschweigend übergangen wird: die Zeit, in der ein autoritäres Regime sich etabliert, Freiheiten nach und nach zurückschneidet und niemand sich dagegenstellt, weil die Bürger*innen je nur einen einzelnen Ausschnitt des Gesamtgeschehens erfassen können. Dabei werden sie weder getäuscht noch korrumpiert, sind weder schuldig noch unschuldig, sondern einfach zu sehr in ihre eigenen kleinen Geschichten verstrickt, um etwas zu tun. Während Telefone abgeschaltet oder abgehört werden, Menschen einfach verschwinden und die freie Presse verstummt, stehen jene, die sich dagegen auflehnen sollten, in der schier endlosen Schlange vor dem Tor, wie tausendundein Türhüter, die sich selbst den Eintritt ins Gesetz versagen.

Schreibstil

Der nüchtern gehaltene Ton, in dem die Ereignisse beschrieben werden, lässt nicht selten eine feine Ironie durchscheinen, wenn die Figuren nach und nach hohe Ideale aufgeben und sich nach jeder neuen Maßnahme des Regimes wieder mit der neuen Situation, dem neuen Normalzustand, arrangieren. Gerahmt werden die einzelnen Teile, die jeweils eine neue totalitäre Stufe erahnen lassen, von den Versuchen des Arztes Tarik, den Fall Yahya Gad al-Rabb Said mit seinen ethischen Selbstansprüchen zu vereinbaren.

Er wollte die Nacht lieber wie die anderen verbringen und ein oder zwei Stunden an seinem Platz schlummern.

Interessant ist das Maß an Verfremdung, das für Leser*innen, die mit arabischer Literatur weniger vertraut sind, allein durch einzelne sprachliche Elemente aufkommt. Da der Schauplatz der Ereignisse nicht näher benannt ist, könnte der Roman letztlich überall spielen, doch die Namen und die Tatsache, dass einige der Figuren Muslime sind, verorten sie im arabischen Raum und spezifischer, wenn man den Kontext der Autorin miteinbezieht, während des Arabischen Frühlings. So spiegelt die deutsche Übersetzung des Romans nicht nur spezifische politische Ängste, sondern auch gewisse Vorurteile der Leserschaft. Gedanken wie „Sowas könnte hier aber nicht passieren“ und „Gegen sowas haben wir ja Gesetze“ verkennen, wie beklemmend nachvollziehbar die Figuren in den jeweiligen Situationen handeln, dass etwa Umm Mabrouk, wenn sie gegen die Überwachung eine Telefongesellschaft boykottieren möchte, genau das tut, was auch eine Heidrun Möller versuchen würde.

Die Autorin

Basma Abdel Aziz wurde 1976 in Kairo geboren. Sie studierte Medizin, Neuropsychiatrie und Soziologie und fiel bereits während des Studiums durch ihre kritische Haltung auf, was ihre Karrierechancen minderte. Als Psychiaterin unterstützt sie Opfer von Polizeigewalt und Folter in Gefangenenlagern. Auch als Soziologin setzt sie sich intensiv mit dem Thema Folter auseinander. Nebenher ist sie als Schriftstellerin tätig. Ihre erste Kurzgeschichtensammlung erschien 2007 unter dem Titel Möge Gott es leicht machen. Das Tor ist ihr erster Roman, der das in Ägypten eingesetzte Militärregime von Abdel Fattah al-Sisi teils verarbeitet, teils vorwegnimmt. Nach Eigenangaben sieht sich die vielseitige Rebellin in ihrer Nebentätigkeit als Kolumnistin zunehmend mit Zensurmaßnahmen konfrontiert. 2018 erklärte das Gottlieb Duttweiler Institut Basma Abdel Aziz zu einer der einflussreichsten Meinungsbildnerinnen in den arabischen Ländern.

Erscheinungsbild

Das Buch ist so hochwertig, wie man von einem großen Verlag erwartet. Das Cover zeigt eine wartende Menschenmenge vor einem großen Tor, durch dessen Spalt ein Lichtstrahl zu fallen scheint. Besonders erfreulich ist in meinen Augen, dass auf zusätzliche Versuche, das Motiv gezielt „arabisch“ darzustellen, etwa wahllos arabische Buchstaben auf das Cover zu klatschen oder die Menschenmenge klischeehaften westlichen Vorstellungen anzupassen, verzichtet wurde.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Heyne
  • Autorin: Basma Abdel Aziz
  • Erscheinungsdatum: 13. April 2020
  • Sprache: Deutsch (Aus dem Arabischen übersetzt von Larissa Bender)
  • Format: Broschiert
  • Seitenanzahl: 288
  • ISBN: 978-3453320468
  • Preis:14,99 EUR
  • Bezugsquelle Fachhandel, Amazon, idealo

 

Fazit

Das Tor setzt da an, wo die meisten Dystopien einen blinden Fleck haben: in der Umsturzphase, in der sich ein totalitäres Regime so schleichend etabliert, dass die Bevölkerung wenig Möglichkeiten sieht, sich dagegen zu stellen. Als größtes Machtinstrument tritt dabei nicht die Gewalt auf, sondern die Bürokratie. In der Hoffnung, ihre persönlichen Belange regeln zu können, begeben sich die Figuren rings um den tragikomischen Protagonisten Yahyya Gad al-Rabb Said in eine buchstäbliche Warteschlange, die sie handlungsunfähig macht. Es wäre jedoch ein Missverständnis, den Roman als Warnung vor konkreten bürokratischen Strategien zu lesen. Diese könnten auch völlig anders ausfallen, denn entscheidend ist das absolut nachvollziehbare Bedürfnis der Figuren, sich selbst zu retten.

Insofern handelt es sich hier tatsächlich um eine Dystopie, die es sich zu lesen – und zu bedenken – lohnt, gerade weil sie mit herkömmlichen Dystopiemodellen bricht. Hinter den spezifisch vom Arabischen Frühling inspirierten Aspekten der Handlung steht zu jedem Zeitpunkt etwas beklemmend Universelles, das man aushalten muss. Das berühmte Sprichwort „Alles, was das Böse braucht, um zu triumphieren, sind genügend gute Menschen, die nichts unternehmen“ suggeriert Bilder einer passiven Bevölkerung, die politischen Entwicklung mit Gleichgültigkeit gegenübersteht. Basma Abdel Aziz zeichnet ein anderes Bild: Alles, was der Totalitarismus braucht, um zu triumphieren, sind genügend gute Menschen, die viel zu sehr damit beschäftigt sind, ihr Überleben zu sichern, um ernsthaften Widerstand zu leisten.

 

Artikelbilder: © Heyne, © TripleMedia
Layout und Satz: Melanie Maria Mazur
Lektorat: Nina Horbelt
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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