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Dystopien sind das Genre der Stunde, aber was, wenn nicht ein faschistoider Tyrann, sondern ein rigides Gesundheitsregime die Zügel in der Hand hält? Man kombiniere diese Prämisse mit neuartiger Körpertauschtechnologie und schon erhält man Shape Me, einen klugen und beklemmenden Science-Fiction-Thriller von Melanie Vogltanz.

Die Absage der Leipziger Buchmesse hat auch die Phantastik schwer getroffen: insbesondere Kleinverlage haben mit dem ausbleibenden Umsatz zu kämpfen. Im Netz wird unter dem Hashtag #Bücherhamstern bereits zu ausgleichenden Bücherkäufen aufgerufen, um der deutschsprachigen Literaturszene finanziell durch den Engpass zu helfen. Da trifft es sich natürlich gut, dass ich mich in den letzten Monaten versuchsweise aus meiner englischsprachigen Komfortzone herausgewagt und unter den deutschsprachigen Neuerscheinungen umgesehen habe. Obwohl hier im Vergleich zur internationalen Phantastik, die in den vergangenen Jahren durch Ausnahmetalente wie Ada Palmer und N. K. Jemisin, aber auch durch Szenegrößen wie Cory Doctorow einen regelrechten Innovationsboom erlebte, eher kleine Brötchen gebacken werden, hielt dieser Ausflug doch einige Überraschungen parat, allen voran eine kleine und gemeine Dystopie der Wiener Autorin Melanie Vogltanz mit dem Titel Shape Me. Motivsicher und formbedacht entsteht hier ein wahres Horrorszenario um Krankheit, Gesundheit und das Verhältnis zum eigenen Körper, das deutlich mehr Beachtung verdient.

Story

Der Fall Nena Jean hält die Welt in Atem: Trotz strenger Sicherheitsvorkehrungen ist die alleinstehende Frau erst aus dem System zur bedarfsorientierten Lebensmittelverteilung gefallen, um anschließend mit gestohlener Bodyshare-Technologie in einen fremden Körper transferiert zu werden. Ohne zu wissen, was ihrem eigenen Körper gerade widerfährt, muss Nena erleben, wie alle Instanzen, die sie eigentlich schützen sollten, versagen. Der Roman rekonstruiert die Ereignisse, durch welche die tragische Protagonistin sich letztendlich gezwungen sieht, die Öffentlichkeit einzuschalten. Dabei verfolgt er neben Nenas Geschichte zugleich die Perspektive der Hightech-Fitnesstrainerin Tess Trimm, Systemträgerin und überzeugte Verfechterin der Optimierungspolitik zur Gewichtskontrolle der Bevölkerung. Denn Nena und sie haben eine entscheidende Gemeinsamkeit: Nach dem Diebstahl der studioeigenen Körpertauscheinheit sitzt auch Tess in einem fremden Körper fest.

Auf den ersten Blick wirkt Vogltanz‘ dystopischer Gesellschaftsentwurf etwas unsystematisch, zu punktuell sind die Einblicke, die man bekommt, zu knapp die Informationen über die sozioökonomischen Auswirkungen der neuen Technologien und Gesetze. Jedoch wird schnell spürbar, dass die zentralen Elemente von Shape Me einen gemeinsamen Nenner haben: ein tief gestörtes Verhältnis zu Körperlichkeit und insbesondere zu Essen, das sich permanent in allen Handlungen der Figuren widerspiegelt und bedrückend durch die Kapitel zieht. Von den ungefragten Ernährungstipps der digitalisierten Wohnung über die anhaltende Angst der Figuren, beim Einkaufen für einen „Foodjunkie“ gehalten zu werden, bis hin zum aktiven Ekel vor Übergewicht treibt der Roman ein kompliziertes Verhältnis zu Lebensmitteln, das wir in abgeschwächter Form aus unserem Alltag kennen, auf die Spitze. Die positiven Aspekte rings um das Thema ‚Essen‘ treten in den Hintergrund. Da jeder Mensch nicht mehr mit Geld, sondern einem an seinen Bedarf angelehnten Kaloriensaldo bezahlt, scheinen insbesondere gesellige Aktivitäten wie gemeinsames Kochen oder Restaurantbesuche passé zu sein. So findet Nena Jean folgerichtig auch niemanden, der bereit ist, sein Essen mit ihr zu teilen, als ihr ID-Chip plötzlich versagt.

Personifiziert wird dieses Gemisch aus Scham und Ekel, das die Gesellschaft in Shape Me prägt, von Tess Trimm, die als Trainerin mit ihren Klient*innen die Körper tauscht und so reichen Menschen ermöglicht, ohne Eigenaufwand abzunehmen. Ihr Hang, Übergewicht moralisch zu verurteilen, stürzt sie in eine tiefe Krise, als sie tatsächlich im Körper einer Kundin strandet, und zwingt sie, sich mit der psychischen Grundlage ihres aggressiven Bodyshamings auseinanderzusetzen. Insofern ist die eine oder andere Unschärfe im Aufbau der dystopischen Welt absolut verschmerzbar, denn Vogltanz gelingt über das Essensmotiv eine emotionale Kohärenz, die man in vergleichbaren Romanen oft schmerzlich vermisst.

Bedenkt man die Kürze des Romans und die Tatsache, dass er vor allem – und durchaus erfolgreich – auf Spannung ausgelegt ist statt auf lange Exkurse und ausführliche Gedankenspiele, ist es doch erstaunlich, dass Vogltanz sich neben Fragen von Gewicht und Ernährung auch noch dem Thema chronischer Erkrankungen und deren Folgen für das eigene Umfeld widmet. Denn Nena Jeans neuer Körper, soviel stellt die unglückliche Protagonistin rasch fest, ist krank und unterliegt massiven Einschränkungen. So steuert sie mit dem Stellen der Körperdiebin bereits auf den nächsten Gewissenskonflikt zu, denn die Schuldige argumentiert, dass ihr Körper letztlich von der Krankheit ebenso gestohlen wurde wie Nenas Körper von ihr. Ein unlösbares Dilemma, das einen erneut auf unbehagliche Wahrheiten über unser Leben in unseren Körpern stößt, die uns eben auch nur bedingt gehören und nicht restlos kontrolliert werden können – eine persönliche Ebene, die den Roman in genau dem Maße unangenehm macht, das ein flotter Science-Fiction-Thriller braucht, um nicht nur spannende, sondern auch gute Literatur zu sein.

Schreibstil

Der raffinierte Aufbau von Shape Me leistet genau die Leseführung, die der Spannungsbogen braucht, um effektiv zu sein. In den Kapiteln wechseln sich Nena Jean und Tess Trimm als Icherzählerinnen ab, wobei die Abschnitte je mit der Kleidergröße des aktuellen Körpers der Figuren überschrieben sind. Außerdem wird jedes Kapitel mit „Materialien“ aus dem Ministerium für Kriminalität eingeleitet, anhand derer der Fall Jean aufgearbeitet werden soll. Hier kommen auch andere Figuren zu Wort und enthüllen stets genau so viel, wie man wissen muss, um den Ernst der Lage zu begreifen, ohne entscheidende Informationen vorwegzunehmen.

Sprachlich ist der Roman recht einfach gehalten, jedoch nicht unelegant. Vogltanz hat ein Händchen für Schockmomente, wobei es oft das zwischenmenschliche Entsetzen ist, das hängenbleibt und nach dem Lesen noch lange nachhallt. Die teils drastischen Ansichten der Figuren gehen mit teils erniedrigenden Beschreibungen dicker Menschen einher, die aber nie humoristisch oder absurd wirken und im weiteren Verlauf der Handlung zumindest in Teilen als Produkt einer fitnessbesessenen Gesellschaft entlarvt werden.

Die Autorin

Melanie Vogltanz wurde 1992 in Wien geboren, wo sie auch aufwuchs, um schließlich Germanistik und Anglistik zu studieren. Bereits mit elf Jahren begann sie, an ihrem Debutroman zu arbeiten. 2014 erschien mit Ararat – die Sündenflut ihr erstes Buch im Verlag ohneohren. Seitdem veröffentlichte sie zahlreiche Romane und Kurzgeschichten, überwiegend im Bereich der Dark Fantasy oder Science-Fiction. 2016 wurde sie mit dem Encouragement Award der European Science Fiction Society ausgezeichnet.

Erscheinungsbild

Der Verlag ohneohren liefert ein hochwertiges und gut lektoriertes Taschenbuch, das rundum auf das Thema des Romans abgestimmt ist. Die Seitenzahlen werden von kleinen Waagen gerahmt, den Buchrücken ziert ein Maßband und das Cover zeigt zwei Frauen verschiedener Gewichtsklassen, deren Design allerdings etwas rudimentär wirkt. Nichtsdestotrotz ist es immer schön, wenn ein Cover so offensichtlich Bezug zum Romaninhalt hat – was ja leider keine Selbstverständlichkeit mehr ist.

Die harten Fakten:

  • Verlag: ohneohren
  • Autorin: Melanie Vogltanz
  • Erscheinungsdatum: 19. Oktober 2019
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Broschiert
  • Seitenanzahl: 288
  • ISBN: 978-3-9032-9623-7
  • Preis: 12,49 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon

 

Fazit

Shape Me ist ein wohlkonzipierter Science-Fiction-Thriller, der sich Fragen nach Leiblichkeit, Gesundheit und Krankheit anhand des zentralen Motivs der Ernährung widmet. Beklemmend und mitunter grausam erzählt er die Geschichte von Nena Jean, die in einem von Gesundheitsoptimierung geprägtem System durchs Raster fällt und nicht nur ihrer Identität, sondern auch ihres Körpers beraubt wird. Die Prämisse einer Gesellschaft, die Technologien zum Körpertausch entwickelt, diese jedoch aus ethischen Gründen verbietet, nur um dann für Luxusfitnesscenter eine Ausnahmeregelung zu finden, damit das sprichwörtliche eine Prozent seinen Sport nicht selber machen muss, ist herrlich absurd und trifft den spätkapitalistischen Zeitgeist. Dabei ist Vogeltanz‘ Umgang mit den Reizthemen Essen und Gewicht nie herablassend, sondern macht die ungesunden Untertöne der Ernährungsmaximen deutlich.

Während die Welt nicht bis ins letzte Detail ausgearbeitet ist, sind die moralischen Fragen, die der Roman aufwirft, extrem eindringlich, was man allerdings ob des Erzähltempos und des hervorragend umgesetzten Spannungsbogens leicht übersieht. Letztlich ist es aber gerade diese Ambivalenz zwischen gezieltem Gedankenexperiment und Unterhaltung, in der sich zeigt, was Science-Fiction als Genre und Kulturtechnik zu leisten vermag. Insofern ist Melanie Vogltanz eine Nachwuchsautorin, die es für die deutsche Phantastikszene unbedingt im Auge zu behalten gilt.

 

Artikelbild: © ohneohren, Bearbeitung: Melanie Maria Mazur
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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