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Von Kung-Fu-Fantasy aus den 50ern bis zur romangewordenen Trisolaris-Fanfiction: Zum heterogenen Feld der chinesischen Phantastik lassen sich immer neue Zugänge finden. Aber ist ein Roman, der 60 Jahre bis zu seiner Übersetzung brauchte, nicht zeitbedingt etwas eingestaubt? Und wie gut kann so eine Fanfiction tatsächlich sein? Finden wir es heraus.

Wir alle wissen: Bis das Schlagwort „internationale Phantastik“ nicht mehr gleichbedeutend ist mit „Bücher aus dem angloamerikanischen Raum“, ist es noch ein weiter Weg. Immerhin gab es in den letzten Jahren ein gesteigertes Interesse an chinesischer Science-Fiction. Seit dem Welterfolg von Cixin Lius Die drei Sonnen gewährt uns der Heyne Verlag regelmäßig neue Einblicke in die phantastische Literatur aus dem Reich der Mitte. Zwei Neuerscheinungen des letzten Jahres wurden dabei besonders sehnsüchtig erwartet.

Die Legende der Adlerkrieger (Jin Yong)

Handlung & Charaktere

Im mittelalterlichen China schließen zwei große Kampfkünstler Freundschaft. Yang Tiexin beherrscht den Speer wie kein anderer, Guo Xiaotian stammt von einem berühmten Räuberhauptmann ab. Als ihre Frauen zur gleichen Zeit schwanger werden, schließen die beiden einen Pakt: Ihre eigene Waffenbruderschaft soll auch die nächste Generation fortsetzen und zwischen den beiden Kindern wird ein schicksalhaftes Band bestehen, auf dass sie einander in freundschaftlicher Treue zugetan seien. Doch es kommt anders. Noch vor der Geburt stören politische Unruhen den Frieden der beiden Familien. Der Konflikt zwischen der herrschenden Song-Dynastie und der invasiven Jin-Dynastie verschärft sich, und als die beiden Helden in einer von den Jin besetzten Gegend einem legendären Kung-Fu-Meister Obdach gewähren, werden sie als Verräter gejagt und getötet.

Jahre später sind die beiden Söhne entgegen dem Pakt ihrer Väter zu Feinden herangewachsen. Guo Jings Mutter floh vor den Jin in die Steppe, wo sie von einem mongolischen Stamm aufgenommen wurde. Ihr Sohn dient nun einem ehrgeizigen Fürsten namens Dschingis Khan. Er ahnt nicht, dass die schrägen Gestalten, die eines Tages auftauchen und anbieten, ihm Kung Fu beizubringen, die Sieben Sonderlinge des Südens sind, eine legendäre Kampftruppe mit einzigartigen Fähigkeiten. Noch weniger ahnt er, dass er längst Gegenstand eines neuen Pakts ist. Mit 18 Jahren soll er seinen Schicksalsbruder Yang Kang finden und im Kampf besiegen. Dessen Mutter jedoch wurde von dem mörderischen Jin-Prinzen Wanyan Honglie verführt und er weiß weder von seiner Herkunft, noch, dass sein Ziehvater eben jene Person ist, die seinen richtigen Vater umgebracht hat.

Dramatisch, figurenreich und mit viel Pathos erzählt dieser Höhepunkt der Kung-Fu-Literatur von großen Kämpfen zwischen Freund und Feind, von Treue und Verrat, von Liebe und Rache und vor allem von der allgegenwärtigen Hand des Schicksals, die immer mehr legendäre Helden auf das Spielfeld des Lebens setzt wie Steine auf ein Go-Brett. Dabei bleiben gerade die Nebenfiguren im Gedächtnis. Schrullige alte Männer mit begnadeter Kampfkunst, flinke junge Frauen, deren Kung-Fu-Technik alles in den Schatten stellt, und vor allem die gruseligen Zwillinge der dunklen Winde und ihre unheilige Technik der Neun-Yin-Todesklaue machen es schwer, das Buch aus der Hand zu legen. Die gewöhnungsbedürftigen aber faszinierenden Erzählregeln dieses in Deutschland bislang kaum bekannten Genres, in dem Held*innen zur Begrüßung erst einmal fünf Seiten lang ihre Kräfte messen und die Haupthandlung immer wieder durch neue Gegner unterbrochen wird, machen Die Legende der Adlerkrieger zur einer einmaligen Fantasylektüre.

Schreibstil

Exzessive Kampfszenen funktionieren in Romanen selten. Das liegt daran, dass sie für Actionszenen das falsche Medium sind. Sie versuchen meist, einen Handlungsablauf möglichst filmisch zu beschreiben, und erinnern dabei nur daran, dass sie nun mal kein Film sind. Action muss man sehen, Beschreibungen reichen da nicht. Nun zeigt ein Blick in die Kung-Fu-Literatur: Es geht auch anders.

In den zahlreichen Kämpfen, mit denen Jin Yongs Figuren ihre gesamten zwischenmenschlichen Beziehungen zu regeln scheinen, hat jede Bewegung und jede Strategie einen eigenen Namen, der die Handlung mit Bedeutsamkeit tränkt. Gui Jings Verbündeter reißt ihn nicht einfach zur Seite, er bringt ihn mit einer Technik namens „Die schelmische Katze fängt die Maus“, die aus einer Reihe von Purzelbäumen besteht, aus der Reichweite des Gegners. Schläge werden nicht pariert, sie werden mit der Haltung „Eisenkette über den Fluss“ aufgehalten. Jeder Tritt, jede Drehung erhalten einen eigenen Namen, der das Bild der Bewegung um ein zweites Bild ergänzt, das oft ungleich poetischer ist und großes assoziatives Potential birgt. „Der Habicht fängt den Hasen“ oder „Der Herbstwind wirbelt Blätter auf“ vermittelt nicht nur den jeweiligen Schlag, sondern auch die Stimmung dahinter.

Gleichzeitig erhalten die Kämpfe dadurch den Charakter eines Strategiespiels, bei dem jeder Zug und Gegenzug wohldurchdacht und gut einstudiert sind. Da die Techniken verschiedenen Schulen zugeordnet sind, Figuren mitunter die Lehrmeister*innen ihrer Gegner an deren Kampfstil erkennen und sich Allianzen so mitten im Kampf verschieben können, sind die blumigen Actionbeschreibungen mehr als nur schmückendes Beiwerk und werden zum substantiellen Teil der Handlung. Auch in dieser Hinsicht ist das Leseerlebnis im ersten Moment etwas gewöhnungsbedürftig, nach den ersten Irritationen jedoch fesselnd und absolut einzigartig, was nicht zuletzt der geschliffenen Übersetzung von Karin Benz zu verdanken sein dürfte.

Allgemeines zum Buch

Dass Die Legende der Adlerkrieger erst jetzt seinen Weg auf den deutschen Buchmarkt gefunden hat, ist erstaunlich. Autor Jin Jong zählt zu den erfolgreichsten chinesischen Schriftsteller*innen der Gegenwart und prägte das chinesische Wuxia-Genre wie kaum ein anderer. Diese kampflastigen Held*innengeschichten sind tief in der chinesischen Geschichte verwurzelt und blicken auf eine jahrhundertelange Tradition zurück, bevor sie im 20. Jahrhundert Teil der Populärkultur wurden und sich zumindest in Form des Kung-Fu-Films auch international verbreiteten. Shediao yongxiong zhuan, der erste Teil der Adlertrilogie, erschien bereits zwischen 1957 und 1959 als Fortsetzungsgeschichte in einer chinesischen Tageszeitung und erfreute sich so großer Beliebtheit, dass bereits Ende der 50er Jahre die erste Verfilmung in Produktion ging. Viele weitere sollten folgen und als der 94-jährige Autor 2018 verstarb, war er längst eine nationale Berühmtheit.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Heyne
  • Autor: Jin Yong
  • Erscheinungsdatum: 12. Oktober 2020
  • Sprache: Deutsch (Aus dem Chinesischen übersetzt von Karin Benz)
  • Format: Taschenbuch
  • Seitenanzahl: 576
  • ISBN: 978-3-4533-1990-5
  • Preis: 16,99 EUR (Print) und 13,99 EUR (E-Book)
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon, idealo

 

Fazit

Die Legende der Adlerkrieger ist der Auftakt zu einer epochalen chinesischen Fantasysaga aus den 50er Jahren, die nun endlich auch in deutscher Sprache erhältlich sein wird. Die Geschichte zweier junger Helden, die eigentlich Freunde sein sollten, aber durch mehrere Schicksalsschläge als Feinde aufwachsen, bleibt durch ihre von skurrilen aber liebenswerten Figuren bevölkerte Welt lange im Gedächtnis. Besonders beeindrucken dabei die Kampfszenen, die jedem Schlag poetisch eine zusätzliche Semantik verleihen und die Konfrontation teilweise wirken lassen wie ein ausgefuchstes Strategiespiel. Wer sich für internationale Fantasyliteratur interessiert, kommt an diesem Buch nicht vorbei, denn einen besseren Einblick in die Entstehung des modernen Wuxia-Genres wird es kaum geben.

Der Roman bricht mitten in der Handlung ab. Doch wer das Gefühl hat, von einem Schlag namens „Das spannende Buch raubt mir den Atem“ mitten in die Magengrube getroffen zu werden, muss nicht lange bangen: Die Fortsetzung Der Schwur der Adlerkrieger ist bereits letzten Monat erschienen.

  • Herrlich pathetische Handlung
  • Poetisch verstärkte Kampfbeschreibungen
  • Einblick in chinesische (Pop-)Kultur
 

  • Actionszenen können etwas gewöhnungsbedürftig sein

 

Botschafter der Sterne (Baoshu)

Handlung & Charaktere

In dieser Fortsetzung von Cixin Lius weltberühmter Trisolaris-Trilogie mag Fanautor Baoshu die Protagonist*innen des monumentalen dritten Bands Jenseits der Zeit noch nicht gehen lassen und schreibt ihre Geschichte weiter. Dabei zeigt er allerdings vor allem sein tiefes Unverständnis für alles, was Trisolaris zu großartiger Science-Fiction gemacht hat.

Cixin Lius Stärke besteht in einem nüchternen Blick auf zeitliche Abläufe und galaktische Vorgänge. Wenn eine Alieninvasion stattfindet, dann brauchen die Aliens realistisch betrachtet mehrere Jahrhunderte, bis sie unser Sonnensystem überhaupt erreichen, weshalb die Romane mitunter die gesellschaftlichen Entwicklungen eines halben Jahrtausends holzschnittartig abhandeln und zwischen Hauptfiguren wechseln, die viele Generationen auseinanderliegen. Er weiß zudem sehr genau, welchen ästhetischen Effekt man erzeugen kann, indem man Einzelheiten ausspart oder das Schicksal von Figuren offen lässt. Ohne den Schluss von Am Ende der Zeit vorwegzunehmen, lässt er seine Trilogie letztlich in totaler Unbestimmtheit münden, ein großartiger Schachzug, der dem Roman zahllose Deutungsmöglichkeiten hinzufügt. Mit so viel Freiheit kann sein halboffizieller Nachfolger Baoshu nicht umgehen, und so ist Botschafter der Sterne vor allem bemüht, Lücken zu stopfen, vermeintliche lose Fäden wieder aufzunehmen und die Saga einem konventionelleren Ende zuzuführen.

Dass der Protagonist des letzten Bandes in einer beklemmenden Demonstration von unbarmherzigen Zufällen einfach von der Bildfläche verschwindet, fandet ihr beunruhigend? Keine Sorge, Baoshu erzählt euch ausführlich, was er in der Zwischenzeit tut und weshalb sich in Wirklichkeit nach wie vor alles um diese Figur dreht. Dass die beiden Hauptfiguren von Cixin Liu in einer kühlen Absage an schicksalhafte Romantikideale aneinander vorbeigeführt wurden, war euch zu realistisch? Frohlocket, Baoshu scheut nicht davor zurück, eine mehrere Jahrhunderte umspannende Ausrede zu erfinden, weshalb die neue Partnerin von Yun Tianming schon immer für ihn bestimmt war.

Die Banalität dieser Fanfiction gipfelt darin, dass die unterschwellige Misogynie, die Trisolaris durchzieht, in Botschafter der Sterne explizit wird. Gewiss, Cixin Liu transportiert in seinen Büchern, wo männliche und weibliche Prinzipien aufeinanderprallen und sich Frauen durch ihren Drang, zu umsorgen, zu bewahren und Leben zu retten als ungeeignet für die Kriegssituation erweisen, durchaus Grundannahmen zum Geschlechterverhältnis. Doch er bestraft seine Figuren nicht, was in seiner amoralischen Welt auch absurd anmuten würde, sondern lässt die Frage offen, ob sein Axiom vom dunklen Wald, nach dem sich alle Kosmosbewohner immer gleich an die Gurgel wollen, nicht genau durch dieses „weibliche“ Verhalten ausgeglichen würde, wenn man es nur ließe. Auch diese Ambivalenz war Baoshu offenbar zu viel. Er degradiert Protagonistin Cheng Xin zur Nebenfigur und bestraft sie hart für ihre Schwäche, indem sich die anderen Figuren voller Verachtung von ihr abwenden. Die Symbolfunktion, die sie in Am Ende der Zeit hatte, macht dies besonders unangenehm zu lesen, denn Baoshu führt auch keine nennenswerten neuen Frauenfiguren ein, die nicht ähnlich schlecht wegkämen. Wenn dann die einzige kompetente Frau in der gesamten Geschichte, die ohnehin schon nur auf wenigen Seiten auftaucht, bei ihrer Mission versagt und vergewaltigt wird, komplettiert sich dieses Bild.

Schreibstil

Irgendwie ahnt man bereits, dass Baoshu der nüchternen Trisolaris-Welt nicht gewachsen ist, wenn er den Roman mit einem Star Wars-Zitat als Weltraummärchen einleitet. Was folgt, liest sich weitgehend ohne Widerstände. Wo Cixin Liu soziale Entwürfe skizzierte, bleibt Baoshu nahe an den einzelnen Figuren und auch die wissenschaftlichen Exkurse weichen einfacheren Zusammenhängen. In vielen Erinnerungen und Rückblenden wird dafür alles erzählt, was die Trisolaris-Romane ausgelassen hatten, sodass die einzelnen Kapitel stets mit einer zeitlichen Verortung versehen sind.

Ein typisches Fanfiction-Element ist, dass man viele bereits aus den letzten Büchern bekannte Situationen noch einmal aus einer anderen Sicht erzählt bekommt und so erfährt, wie es „eigentlich“ war und welche Figur „in Wirklichkeit“ hinter den Ereignissen steckte. Erst im letzten Drittel emanzipiert sich die Erzählung langsam von der Vorlage.

Allgemeines zum Buch

Als der Philosophiestudent Li Jun 2010 den letzten Trisolaris-Band verschlang, hatten Cixin Lius Romane längst eine treue Anhängerschaft. Unwillig, die Welt, die ihn seit Jahren begleitete, an ein Ende kommen zu lassen, stellte der damals 30-Jährige unter dem Pseudonym Baoshu einen selbstgeschriebenen Dialog zwischen zwei Trisolaris-Figuren ins Internet, der einige offene Fragen beantworten sollte. Sein Post hatte unerwarteten Erfolg – nicht zuletzt, weil er bereits wenige Tage nach Erscheinen des Buchs veröffentlicht wurde – und so schrieb er die Geschichte immer weiter, bis drei Wochen später der Roman Botschafter der Sterne vorlag. So wurde auch der Verleger Yao Haijun auf ihn aufmerksam, der Baoshu schließlich zur Veröffentlichung verhalf.

2012 konnte Baoshu sich als Science-Fiction-Autor selbstständig machen. Auf Deutsch ist außerdem seine Novelle Großes steht bevor erschienen.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Heyne
  • Autor: Baoshu
  • Erscheinungsdatum: 08. März 2021
  • Sprache: Deutsch (Aus dem Chinesischen übersetzt von Marc Hermann)
  • Format: Taschenbuch
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN: 978-3-4534-2469-2
  • Preis: 14,99 EUR (Print) und 11,99 EUR (E-Book)
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon, idealo

 

Fazit

Botschafter der Sterne war ursprünglich eine in wenigen Wochen zusammengeschriebene Fanfiction und liest sich auch so. Autor Baoshu kann mit den Ambivalenzen im abschließenden Band seiner Lieblingsreihe nicht umgehen und versucht in seiner Fortsetzung, alle Zweideutigkeiten und Offenheiten aus dem Weg zu räumen. Das Ergebnis ist ein platter und stellenweise unangenehmer Appendix, der sich erst im letzten Drittel überhaupt zu einer echten Fortsetzung entwickelt.

Der Roman lässt bekannte Figuren wieder auftreten und führt sie dem jeweiligen konventionellen Ende zu, das Baoshu als befriedigend empfindet. Dabei werden die komplexeren Erzählmittel der Originaltrilogie ignoriert und teilweise ihrer gesamten Bedeutung enthoben. Das fehlende Gespür für Feinheiten wird besonders deutlich, wenn die unterschwelligen misogynen Elemente der Trilogie hier expliziert und Frauenfiguren für ihre vermeintliche Schwäche bestraft werden – eine Moralisierung auf Handlungsebene, die genau das Gegenteil von Cixin Lius kühler Wertneutralität darstellt. Wer nicht unter schrecklichen Trisolaris-Entzugserscheinungen leidet, kann dieses Buch getrost ignorieren.

  • Rückkehr in die Welt von Trisolaris
 

  • Banalisiert viele Ereignisse des Vorgängerbands
  • Geradezu absurd moralisierend
  • Unangenehmer Umgang mit Frauenfiguren

 

Artikelbilder: © Heyne
Layout und Satz: Melanie Maria Mazur
Lektorat: Katrin Holst
Diese Produkte wurden kostenlos zur Verfügung gestellt.

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