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Chinesische Science-Fiction liegt zurzeit schwer im Trend, aber außer Cixin Liu und Hao Jingfang fallen hierzulande nur selten konkrete Namen. Das will der Heyne Verlag nun ändern, indem er Ken Lius einführenden Kurzgeschichtenband, der ein Panorama der chinesischen Szene liefert, auch bei uns herausbringt. Das Ergebnis ist jeden Cent wert.

Cixin Lius Trisolaris-Reihe, die vergangenes Jahr mit Jenseits der Zeit ihren Abschluss fand, stieß weltweit auf Begeisterung und entfachte ein Interesse an chinesischer Science-Fiction, das weit über die Phantastikszene hinausgeht. Ob dieser Erfolg einer ganzen Gegenration chinesischer Autor*innen den Weg auf den internationalen Buchmarkt ebnen würde, stand aber zunächst noch in den Sternen. Es bestand durchaus das Risiko, dass man sich an Cixin Liu fortan als den einen chinesischen Science-Fiction-Autor erinnern und er gemeinsam mit der kurze Zeit später verlegten Hao Jingfang zum Gesicht einer großen und heterogenen Literaturszene wird. Der Mann, der dies verhindert, heißt Ken Liu und ist selbst ein preisgekrönter sino-amerikanischer Schriftsteller und Übersetzer. Er war es, der 2014 Cixin Lius The Three-Body Problem ins Englische übersetzte, und sein Engagement für die chinesische Science-Fiction hat seither nicht abgenommen. Um die vielfältigen Autor*innen verschiedener Generationen und Subgenres gebündelt sichtbar zu machen, stellte er bereits 2016 die englischsprachige Kurzgeschichtensammlung Invisible Planets zusammen. Das Folgeprojekt, Broken Stars, erschien letztes Jahr und ist nun dank dem Heyne Verlag auch einer deutschsprachigen Leserschaft zugänglich.

Die Sammlung umfasst 16 Kurzgeschichten und drei einordnende Essays zur Geschichte und Gegenwart der chinesischen Science-Fiction. Die Geschichten werden jeweils von einem kurzen Einleitungstext begleitet, welcher die Verfasser*innen sichtbar macht und sowohl ihre chinesische als auch ihre internationale Rezeption kontextualisiert. Noch in einer anderen Hinsicht hat Lius Projekt hier eine Vorbildfunktion: Wie selbstverständlich ist das Geschlechterverhältnis ausgewogen und nur jede zweite Geschichte stammt von einem Mann.

Story

Bereits auf den ersten hundert Seiten wird klar: Die chinesische Science-Fiction ist so vielgestaltig und abwechslungsreich, dass man der Versuchung, sie als ein Subgenre zu etablieren, unbedingt widerstehen sollte. Die ausgewählten und klug angeordneten Texte umfassen ein beeindruckendes Spektrum an Themen, Motiven und Figurenkonstellationen. Einige Gemeinsamkeiten stechen dennoch ins Auge.

So ist eines der am häufigsten auftretenden Handlungselemente das Spiel mit der Geschichte, oft begleitet von Zeitreisemotiven oder alternativen Geschichtsverläufen. In Cixin Lius Mondnacht erhält der Protagonist einen Anruf aus der Zukunft, der das Schicksal der Welt verändern soll. Han Songs Salinger und die Koreaner folgt dem US-amerikanischen Autor des Klassikers Der Fänger im Roggen durch eine alternative Realität, in der Nordkorea in die USA einmarschiert. Doch es ist Baoshus brillante Novelle Großes steht bevor, die sich in dieser Hinsicht wirklich hervortut. Der Moment, in dem man die Struktur dieser scheinbaren Romanze zum ersten Mal durchschaut, und die Art, auf die sich von da an die eigenen Leseerwartungen verändern, reflektieren gezielt die Art, auf die wir Geschichte begreifen und auslegen. Hier wird mit einem einzigen Erzählkniff aus einer eigentlich realistisch erzählten Lebensgeschichte ein Science-Fiction-Highlight, das den Wunsch weckt, im Geschichtsunterricht besser aufgepasst zu haben.

Hingegen ist es gewiss kein Alleinstellungsmerkmal chinesischer Science-Fiction, dass das Verhältnis zwischen Mensch und Technik im Zentrum vieler Geschichten steht. Dabei umgehen alle Geschichten plumpe Technikkritik zugunsten teils behutsamer, teils schonungsloser Überlegungen zur sozialen Bedeutung verschiedener Technologien. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang Xia Jia, die in ihrer melancholischen Erzählung Gute Nacht, Traurigkeit das Verhältnis von Depression und künstlicher Intelligenz abtastet, ohne in irgendwelche offensichtlichen Selbstentfremdungsdiskurse abzudriften. Im Mittelpunkt stehen dabei die Suche nach einem Gegenüber und die Frage, ob dieses tatsächlich menschlich sein muss. Ein ähnliches Thema behandelt auch Regina Kanyu Wang in Brainbox, wenn auch mit völlig anderen Vorzeichen. Hier liegt der Fokus stärker auf der Frage, ob wir die wahren Gedanken unseres Gegenübers überhaupt kennen wollen und was eine solche Möglichkeit mit unserer Selbstwahrnehmung macht. Auch Gu Shis Spiegelbild und Tang Feis titelgebende Geschichte Zerbrochene Sterne widmen sich eher inneren Abgründen als dem allgemeinen Weltgeschehen.

Allgemein fällt auf, dass das Verhältnis zu realhistorischen Persönlichkeiten, aber auch anderen Romanen und Erzählungen sehr frei ist. Salinger und Alan Turing, Jean-Paul Sartre und der Kaiser Qin Shi Huang Di tummeln sich ungezwungen auf den Seiten, ohne sich allzu sehr an ihre eigentlichen Biografien zu halten. Anna Wu schließlich baut im tragikomischen Das Restaurant am Ende des Universums: Laba-Porridge direkt auf den Romanen Douglas Adams’ auf. Möglicherweise steht dahinter tatsächlich ein ungewohnter Blick auf das Verhältnis von Autor und Werk – immerhin wird Cixin Lius Trisolaris-Reihe aktuell von Baoshu fortgesetzt.

Schreibstil

Auch im Schreibstil lässt sich kaum etwas Einheitliches festmachen. Erzählperspektive und Vokabular variieren von Geschichte zu Geschichte. Von gefühlvollen Innenperspektiven in der ersten Person zu unbeteiligten allwissenden Erzählern, die das Schicksal ihrer Figuren kommentieren, als handle es sich bei diesen um Insekten – Zhang Rans Der Schnee von Jinyang sticht als besonders mitleidlos hervor –, ist gewissermaßen alles vertreten, was man kennt. Extreme Entfremdungsmomente gibt es dabei nicht. Keine der Erzählungen weicht so weit von gängigen Erzählweisen ab, dass man keine Bezüge zu Klassikern der englischsprachigen Science-Fiction-Geschichte herstellen könnte. Inwiefern dies auch der Übersetzung geschuldet ist, bleibt natürlich offen.

Besonders hervorzuheben und unbedingt lesenswert sind jedoch die drei abschließenden Essays, die allgemeinverständlich und zugänglich eine kultur- und literaturwissenschaftliche Perspektive auf die Textsammlung eröffnen. Interessant ist hier besonders Fei Daos Essay Das Schamgefühl ist überwunden über den verklemmten Umgang mit Science-Fiction als Genre. Hier wird man einige Strukturmomente des deutschen Diskurses wiedererkennen.

Der Herausgeber

Ken Liu wurde 1976 in Lanzhou, China als Kind einer Chemikerin und eines Informatikers geboren. Als er elf Jahre alt war, zog er mit seiner Familie in die Vereinigten Staaten. Liu studierte englische Literatur, Informatik und Jura in Harvard und begann 2002, Science-Fiction-Geschichten zu schreiben. Seitdem publiziert er Phantastik, unter anderem einen Roman für das erweiterte Star-Wars-Universum. 2015 erschien mit The Grace of Kings sein erster Fantasyroman. Seine Novellen, Romane und Kurzgeschichten wurden für zahlreiche Preise nominiert und mehrfach ausgezeichnet. Auf Deutsch ist bislang allerdings nur seine Seidenkrieger-Trilogie erschienen. Eine Sammlung seiner wichtigsten Kurzgeschichten und Erzählungen ist als The Paper Menagerie and Other Stories erschienen. Als Übersetzer machte Liu unter anderem die Werke Cixin Lius, Hao Jingfangs und Xia Jias einem breiteren internationalen Publikum zugänglich.

Erscheinungsbild

Die Umschlagillustration knüpft offensichtlich an die Ästhetik der bisher auf Deutsch erschienenen Bände von Cixin Liu an. Das etwas generische Science-Fiction-Motiv suggeriert deutlich mehr Weltraumhandlung, als die Sammlung bietet, und hat auch sonst mit den Inhalten wenig zu tun. Das Buch ist qualitativ so hochwertig und gut lektoriert, wie von einem großen Verlag zu erwarten ist.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Heyne
  • Herausgeber: Ken Liu
  • Erscheinungsdatum: 9. März 2020
  • Sprache: Deutsch (aus dem Chinesischen und Englischen übersetzt von Karin Benz, Lukas Dubro, Johannes Fiederling u.a.)
  • Format: Broschiert
  • Seitenanzahl: 672
  • ISBN: 978-3-4533-2058-1
  • Preis: 16,99 EUR
  • Bezugsquelle Fachhandel, Amazon, idealo

 

Fazit

Die Gefahr, dass Cixin Liu zum alleinigen Gesicht chinesischer Science-Fiction gerinnt, scheint gebannt: Ken Liu stellt im Sammelband Zerbrochene Sterne eine vielfältige und themenreiche Literaturszene vor, die zu einem Basiswerk für die Beschäftigung mit diesem Thema werden wird. Die darin enthaltenden Geschichten sind ebenso lehrreich wie unterhaltsam und bieten insbesondere in Bezug auf Elemente wie Zeitreisen oder den Umgang mit realhistorischen Persönlichkeiten viele Anknüpfungspunkte für eine tiefere Auseinandersetzung mit diesem Bereich. Insbesondere die drei ergänzenden Essays am Ende des Bandes, aber auch die detaillierten Begleittexte zu den einzelnen Autor*innen, sorgen dafür, dass man das gelesene auch angemessen einordnen und bewerten kann. Ob der großen Bandbreite an Geschichten ist es beinahe unmöglich, nach der Lektüre nicht wenigstens zwei bis drei Namen gesammelt zu haben, die man der heimischen Bibliothek möglichst schnell hinzufügen möchte.

Leider sind viele der vertretenen Schriftsteller*innen ansonsten noch nicht auf Deutsch erhältlich. Allerdings hat der Heyne Verlag mit Quantenträume: Erzählungen aus China über Künstliche Intelligenz bereits einen weiteren Sammelband angekündigt und es steht zu hoffen, dass das Interesse an chinesischer Science-Fiction so bald nicht verlöschen wird. Und wer weiß, vielleicht werden Xia Jia, Tang Fei und Baoshu bei uns bald zwischen Le Guin und Robinson die Phantastikregale füllen. Zu wünschen wäre es jedenfalls.

 

Artikelbild: © Heyne, © tuja66, © Rastan | depositphotos.com, Layout & Satz: Melanie Maria Mazur
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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