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Anfang des 21. Jahrhunderts veröffentlichte Feder & Schwert ein Rollenspiel, das Kultstatus erlangen sollte: Engel, ein dystopisches Setting mit ungewöhnlichen Spielmechaniken und einem dunklen Geheimnis, das Spielende erst entdecken mussten. Fast zwei Jahrzehnte später wird es nun mit neuen Regeln und komplett überarbeitetem Artwork neu aufgelegt.

Das Kultrollenspiel Engel wartet seit Jahren auf seine dritte Edition mit dem Regelsystem von FATE. 2019 sah es einmal kurz so aus, als stünde sie vor der Veröffentlichung, doch bisher ist nichts im Druck. Ich habe bei Dominik Pielarski vom Uhrwerk Verlag nachgefragt.

Wer sind eigentlich diese Engel?

Es ist bereits einige Jahre her, dass Engel auf dieser Seite vorkam. Schon damals, 2013, war es „eine späte Systemvorstellung“. Also fangen wir vielleicht am besten noch einmal ganz vorne an: Was ist Engel?

„Ein postapokalyptisches Rollenspielsetting mit Elementen von Fantasy, Cyberpunk und Horror“ wäre die einfache Antwort, aber diese beschreibt noch nicht einmal annähernd seine Vielschichtigkeit. Engel ist tatsächlich nicht nur der Titel des Systems, sondern bezeichnet auch seine spielbaren Charaktere: geflügelte Streiter*innen des Herrn in kindlichen Körpern.

Schauplatz ist ein Europa, das einige hundert Jahre in der Zukunft und nach dem Erreichen eines technologischen Höhepunktes wieder weitestgehend auf den Stand des Mittelalters zurückgefallen ist – und zwar auch gesellschaftlich. Weite Teile der Länder, die wir heute kennen, sind unter steigenden Meeresspiegeln verschwunden, andere sind durch sogenannte Fegefeuer, meterhohe Flammenwände, vom Rest der Welt abgetrennt und unerreichbar. Das Klima ist feuchtheiß und die Bevölkerung ernährt sich vorwiegend durch den Anbau von Reis.

Beherrscht wird dieses Europa von der Angelitischen Kirche, einer absolutistischen Theokratie, die keinen Widerspruch duldet. Sie kontrolliert fast alle wirtschaftlichen und intellektuellen Ressourcen. Die Kirche herrscht mit eiserner Faust und bekämpft rebellische Kleinfürst*innen, die mit verbotener Technologie aus vergangenen Zeiten ihre kleinen Herrschaftsbereiche zu verteidigen suchen, sowie alles, was als „Ketzerei“ gilt. Darunter fallen unter anderem solche Verbrechen, wie die Lehren der Kirche öffentlich anzuzweifeln, Technologie zu verwenden sowie Lesen und Schreiben zu können oder es gar anderen beibringen zu wollen.

Streitet für den Herrn - Eine Gabrielitin mit Segensbändern und Flammenschwert
Streitet für den Herrn – Eine Michaelitin mit Segensbändern und Langschwert. Alte Illustration von © Feder & Schwert

Die Waffen der Kirche sind die oben genannten Engel, die meist in Scharen von fünf als Vollstrecker*innen der Kirchenoberen auftreten, wenn sie nicht gerade gegen die Kreaturen kämpfen, die aus den Fegefeuern emporsteigen – die sogenannte Traumsaat. Diese scheußlichen Biester ähneln meist Insekten, sind allerdings vergleichsweise gigantisch, wie zum Beispiel die menschengroßen und mit giftigen Mandibeln bewehrten Verderberlibellen. Sie gelten als Geschöpfe des „Herrn der Fliegen“ und schikanieren Menschen, wo immer sie auf sie treffen. Die Engel, flugfähig und bewaffnet, sind als mobile Einsatzkommandos unterwegs, um die Traumsaat zurückzuschlagen. Aber sie jagen eben auch „Ketzer*innen“ – mithin alle, die die Dogmen der Kirche in Frage stellen – mit der gleichen gnadenlosen Effizienz.

Opus Magnum – Der lange Weg zur Neuauflage

Die Originalversion von Engel erdachten Anfang der 2000er Jahre Oliver Graute, Oliver Hoffmann und Kai Meyer, die es 2002 bei Feder & Schwert veröffentlichten. Gespielt wurde es nach Arkana-Regeln, einem narrativen Spielsystem, bei dem statt Würfeln eigens designte Tarotkarten zum Einsatz kamen. In verzwickten Situationen konnte die Spielleitung den*die Spielende*n eine Karte ziehen lassen, um daraus den weiteren Verlauf gemeinsam zu interpretieren. Als Alternative gab es ein an D&D 3.0 angelehntes d20-Regelsystem, das Menschen ansprechen sollte, die „konventionelleres“ Rollenspiel gewöhnt waren. Ohne das erzählerische Element fehlte Engel aber eines seiner Alleinstellungsmerkmale. So oder so blieb das ungewöhnliche System ein Geheimtipp.

Zum Grundregelwerk des Originals kamen mit der Zeit zehn Quellenbände, die als PDF auf DriveThruRPG immer noch zu haben sind, und mehrere Romane. Dann wurde es verhältnismäßig still um Engel. In der Fangemeinde wurden die letzten Exemplare der gedruckten Bücher zu heiß begehrten Sammelobjekten. 2013 verkaufte Feder & Schwert die Lizenz für Engel zuerst teilweise an Uhrwerk und wurde 2016 vollends von diesem Verlag übernommen. 2019 schließlich meldete Uhrwerk Insolvenz an, entließ die meisten seiner Mitarbeiter*innen und machte doch weiter. In der Zwischenzeit aber war die Idee entstanden, Engel mit einem anderen narrativen Regelsystem noch einmal neu aufzulegen.

FATE sollte dieses neue System sein: ein Universalregelwerk für erzählerische Rollenspiele, das der Uhrwerk Verlag für mehrere seiner Systeme verwendet und das darüber hinaus auch unter der Open Gaming License (OGL) und der Creative Commons Attribution License (CC-BY) frei zu verwenden ist. Die Regeln sind andere als im Arkana-System, das ist klar. Aber der – in den Augen der Autorin dieser Zeilen – wichtigste Aspekt ist erhalten geblieben: Es ist ein narratives System. Tarot gibt es in dem Sinne keines mehr, dafür wird Engel das FATE-Würfelsystem verwenden. Es ist allerdings auch ein optionales Engel-„Deck of Fate“ geplant, das Elemente des alten Arkana-Systems mit solchen aus FATE verbindet.

Die Spielwelt indes soll weitestgehend gleich bleiben, erklärt Dominik Pielarski, bei Uhrwerk zuständig für die Umsetzung dieses „Opus Magnum“: eine postapokalyptische Welt mit nur wenigen moralisch unzweifelhaften Charakteren zwischen Neomittelalter und Cyberpunk, zwischen Aberglauben und Geheimwissen. Dazu wird das Setting um einige Spielmöglichkeiten erweitert: Zum Beispiel sind die vormals nur angerissenen Engelsorden der Samaeliten und Ragueliten im Detail ausgearbeitet sowie neue Schauplätze und Konflikte hinzugefügt worden.

Wo jedoch im alten System Informationen über die verschiedenen Quellenbände verteilt waren und bisweilen auch doppelt vorkamen, sollen sie nun in vier Büchern neu sortiert werden: ein Grundregelwerk, ein Quellenbuch zur Angelitischen Kirche, eines zur Spielwelt und eines zu den Gegenspieler*innen der Kirche, seien sie menschlicher oder nichtmenschlicher Natur. Das Problem: Die Texte der alten Edition befanden sich auf unterschiedlichen Datenträgern, waren teils verschollen, teils korrupt oder nicht mehr zugänglich. Dazu kam die schiere Menge an Information: Allein insgesamt 250 Charaktere, die als NSC auftreten könnten, kommen beispielsweise im Gesamtwerk von Engel-Regelwerk, -Quellenbänden und -Romanen vor. Hinzu kommen Spielmechaniken, Informationen zu Kirchenriten, der Geschichte der Spielwelt und so weiter. Das Sortieren dieser unglaublichen Datenmenge, um konsequent zu bleiben sowie Redundanzen, Anschlussfehler und Widersprüche zu vermeiden, dauerte Jahre. Ende 2019 wähnte sich das Team fast schon auf der Zielgeraden – dann kam Corona.

Deo Gratias – Engel 3.0 steht in den Startlöchern

Die Pandemie hat die Arbeitswelt in vielen Bereichen durcheinandergebracht und etliche Projekte behindert – so auch hier. Und doch: Die dritte Edition von Engel soll inzwischen fast fertig sein. Das Mammutprojekt soll durch ein Crowdfunding> finanziert werden, auch um zu sehen, ob Engel beim Publikum so gut ankomme, wie die Macher*innen es erwarten, erklärt Pielarski. Noch gebe es keine festen Termine, doch das Grundregelwerk sei zu 90 % vollständig. In Arbeit sei vor allem noch das Layout, der Text stehe: kürzer als im Original, weniger blumig, konsistenter und von Redundanzen befreit. Im Grundregelwerk befinden sich auch die gesamten FATE-Regeln, sodass Neulinge dieses Systems direkt losspielen können. Der Anspruch sei, dass die Neuauflage sowohl Fans der alten Editionen abholen als auch neue Spielende begeistern kann.

Der ewige Hirte - Der Pontifex existiert angeblich bereits seit fünfhundert Jahren
Der ewige Hirte – Der Pontifex existiert angeblich bereits seit fünfhundert Jahren. Alte Illustration von © Feder & Schwert

Hinzu kommt, dass die Welt erweitert wurde: Während sich die bespielbare Zeitlinie der ersten und zweiten Edition auf einige Jahre beschränkte, wird sie nun auf mehrere Jahrhunderte ausgeweitet. Damit gibt es auch zwei weitere Engelsorden, die in den alten Editionen bereits untergegangen waren. Eine Engelsschar der dritten Edition könnte also durchaus aus sieben, vielleicht sogar acht spielbaren Charakteren bestehen – das ist nicht nur hilfreich, wenn einmal mehr als fünf Spielende da sind, sondern auch interessant, da die Streiter*innen dieser Orden wie alle Engel ganz spezielle Fähigkeiten haben. Darüber wird die bislang nur wenig ausgearbeitete Möglichkeit erweitert, Menschen in dieser Welt zu spielen: Etwa Monachen und Beginen (etwa Mönche und Nonnen), die der Kirche dienen, Templer*innen, die für sie kämpfen, wo Engel nicht notwendig sind, oder auch Beutereiter*innen: Söldner*innen, die den Kirchenzehnt beim Volk eintreiben.

Nun fehlen also noch die letzten Schliffe an Layout und Artwork. Auch hier lassen die Macher*innen der dritten Edition großen Perfektionismus walten. Das ganze Werk wird neu illustriert, in Farbe und aus einer einzigen Hand: Katharina Niko, freischaffende Illustratorin aus Heidelberg, hat die monumentale Aufgabe übernommen, die Welt von Engel optisch darzustellen. Dabei soll vor allem das Ambiente eines Europa dargestellt werden, das klimatisch eher einigen Gegenden im heutigen Asien ähnelt – feucht, warm und geprägt von Reistrassen. Es soll aber auch die düstere Stimmung zeigen, die das Spiel vermittelt.

Kim Schneider, die schon am Artwork der früheren Editionen beteiligt war, arbeitet der Illustratorin mit 3-D-Renderings für Charakterdesigns zu. Hier wird Wert auf Realismus gelegt. Mediendesignerin und Hobby-Vogelkundlerin Schneider mache sich viele Gedanken über die Flügel der Engel und wie diese dargestellt und eingesetzt werden können, verrät Pielarski. „Wir haben uns viel Mühe gegeben, es richtig zu machen.“ Die Illustrationen sollen nicht nur schmücken, sondern auch deutlich abbilden, wie die Welt und die Charaktere in Engel aussehen. Damit unterscheidet sich die neue Edition von den älteren, die zwar ästhetisch anspruchsvoll, aber nicht immer realistisch gestaltet waren.

Zwischen Aberglauben und verlorenem Wissen

Eine weitere Eigenheit, die das FATE-Regelsystem mit sich bringt, ist dass die Erzählrechte am Tisch auch bei den Spielenden liegen, nicht nur der Spielleitung: Die Spielenden sollen alles wissen, auch wenn die Charaktere es nicht tun. Das bedeutet für Engel im Speziellen: Das lang gewahrte „Settinggeheimnis“ fällt.

Achtung - Spoiler!

Denn es ist nicht alles wie es scheint: Die Engel besitzen zwar übernatürlich scheinende Mächte und können besser mit Waffen umgehen als die meisten Erwachsenen, doch sind sie im Herzen vor allem Kinder. Mit Hilfe von Nano-Technologie und weiterer futuristischer Technik werden sie zu fliegenden Supersoldat*innen gemacht. Als Machtinstrument des brutalen Systems dienen sie ein paar Jahre, etwa vom achten bis zum 16. oder 17. Lebensjahr, dann führt die Kirche sie der sogenannten „Läuterung“ zu. Soll heißen: Engel, die alt genug geworden sind, um körperlich erwachsen zu werden (und die damit verbundenen Begehrlichkeiten zu spüren), und die bisweilen beginnen, ihre Aufgaben in Frage zu stellen, werden rituell verbrannt, bevor sie rebellieren können.

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Für Gruppen, die das Settinggeheimnis weiterhin wahren wollen, befinden sich diese Informationen im Buch auf den „schwarzen Seiten“, erklärt Pielarski. Dort findet sich auch eine Art „alternativer Kanon“, was den Hintergrund der Welt angeht.

Achtung - Spoiler!

Dies bedeutet vor allem, dass der Mystizismus der Kirche reine Propaganda ist. In der zweiten Edition wurde diese Idee aufgeweicht, indem bestätigt wurde, dass der Herr der Fliegen tatsächlich existiert und die Traumsaat seine Kreaturen sind.

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Wer möchte, kann aber auch den „offiziellen“ Kanon der zweiten Edition verwenden – je nachdem, wie phantastisch Spielleitung und Gruppe ihre Spielwelt haben wollen.

Fazit

Heilende Hände - Ein Ramielit bei der Ausübung seiner heilenden Pflicht
Heilende Hände – Ein Raphaelit bei der Ausübung seiner heilenden Pflicht. Alte Illustration von © Feder & Schwert

Immer wieder wurde in den vergangenen Jahren die Veröffentlichung von Engel 3.0 nach hinten geschoben. Zu groß war das Datenvolumen, zu gewaltig die Aufgabe, alles richtig einzusortieren und konsistent zu präsentieren. Dazu kam wohl auch eine Portion Perfektionismus: Die Originalversion von Engel war schon gut, das kleine Team von Begeisterten, das sich beim Uhrwerk Verlag der Neuauflage verschrieben hat, wollte es aber noch besser machen. Bald soll es endlich so weit sein. Das Kultrollenspiel bekommt ein neues (wenn auch bekanntes) Regelsystem, erweiterte Spielmöglichkeiten und ein aufwändiges neues Layout mit viel Liebe zum Detail. Die Neusortierung und Straffung der Texte soll die Spielinformationen sinnvoller darstellen. Wie gut das geklappt hat, werden wir hier beurteilen, sobald wir das Rezensionsexemplar in den Händen halten. Noch gibt es zwar keinen Termin für die Veröffentlichung, doch wie frisch geweihte Engelsscharen über Roma Æterna erlauben wir uns, mit Hoffnung in die Zukunft zu sehen.

 

Artikelbilder: © Feder & Schwert, Uhrwerk Verlag
Layout und Satz: Melanie Maria Mazur

2 Kommentare

  1. Good News indeed! Besonders die Sache mit dem Alternativkanon finde ich ganz großes Kino – schieden sich an der Roman-Auflösung von Engel dereinst ganz gewaltig die Geister.

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