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Im Jahr 2454 haben sich alle Träume von Freiheit und Gleichheit erfüllt – doch die Fassade bröckelt. Die vierbändigen Terra Ignota-Reihe der Historikerin Ada Palmer entwirft eine vergangenheitsträchtige Zukunft, in der Utopie und Dystopie nicht mehr auseinanderzuhalten sind. Was lernen wir aus diesem vielschichtigen Gesellschaftsentwurf?

Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber da wir inzwischen seit mehreren Jahren in unserer eigenen hyperrealen, interaktiven Dystopie feststecken, ist mein Bedarf an dystopischen Romane dieser Tage eher gering. Und ich bin damit nicht allein: Der Hopepunk hat das Ende der Grimdark-Ästhetik ausgerufen, Autor*innen wie Becky Chambers laden in eine freundlichere Zukunft ein und das selbsternannte Rainbow Age of Science-Fiction ist in vollem Gange – ob die obligatorischen Miesepeter, denen sofort die Muffe geht, wenn eine Hugo-Shortlist versehentlich mal ohne weiße cis Männer auskommt, es nun wahrhaben wollen oder nicht. In der internationalen Phantastik herrscht Aufbruchsstimmung. Unsere Welt neu denken lautet der Titel eines Sachbuchbestsellers von 2020, eine Herausforderung, der sich Phantast*innen, Utopist*innen und vor allem Science-Fiction-Autor*innen ohnehin schon immer stellen. Wenn es also ein Moment für große neue Zukunftsentwürfe gibt, so ist er jetzt.

Aber was kommt nach der Dystopie? Wie findet man neue Denk- und Erzählweisen und verlässt die ausgetretenen Genrepfade der 0815-Gesellschaftskritik, ohne gleich wieder ins Gegenteil einer flauschigen Phantasiewelt zu kippen, die mit unserer Realität nichts mehr gemein hat? Und wie schwimmt man sich frei von einer Genretradition, deren Schattenseiten gerade erst aufgearbeitet werden?

Ein bemerkenswerter Ansatz stammt von einer gesangsaffinen Historikerin aus Chicago: Für einen produktiven Zukunftsentwurf lohnt ein Blick in die Vergangenheit. Ideen reifen oft über Jahrhunderte, und wer sagt, dass der Punkt, von dem aus wir die Zukunft denken, in unserer Gegenwart liegen muss? Neues entsteht schließlich nicht aus dem Nichts, sondern erwächst aus dem Spiel mit ideengeschichtlichen Kontexten, – und manchmal sind die ganze alten Geschichten gerade die, mit denen wir unsere Zukunft gestalten können.

Ada Palmers seit 2016 erscheinende und letzten Winter abgeschlossene Terra Ignota-Reihe ist die ambitionierteste politische Science-Fiction, die in diesem Jahrhundert geschrieben wurde. Sie ist Gedankenexperiment, feudales Melodrama, Liebeserklärung an die Grundidee des Science-Fiction-Fandoms und eine sanfte Abrechnung mit dem vereinfachenden Gegensatzpaar von Utopie und Dystopie in einem. Zusammengehalten wird dieses vierbändige Ideenfeuerwerk, in dem man nie weiß, ob man im nächsten Kapitel philosophische Dispute über die Natur Gottes, wilde Sex-Orgien oder eine Schlacht mit Riesenrobotern bekommt, von der unwahrscheinlichen Stilsicherheit der 41-jährigen Historikerin der University of Chicago. Seit diesem Frühjahr beim Panini-Verlag erscheinend, ist die Chronik einer zukünftigen Gesellschaftskrise demnächst auch in deutscher Sprache vollständig erhältlich. Ein Fest für Freund*innen großer politischer Entwürfe, philosophischer Spekulation und auch historischer Fiktion, denn Vergangenheit und Zukunft sind in der Science-Fiction – wie in der Geistesgeschichte – nicht wirklich zu trennen.

Willkommen im Jahr 2454 …

… in dem das Versprechen von Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit sich endlich erfüllt hat. Nach einer Zeit schrecklicher Religionskriege konnte die Menschheit sich endlich auf die einstigen Ideale der europäischen Aufklärung zurückbesinnen und eine bis dahin ungekannte Ära des Weltfriedens einleiten. Ressourcenknappheit ist dank neuer Technologien überwunden. Innovative fliegende Autos machen den Erdball im wahrsten Sinne des Wortes zum globalen Dorf und das Konzept herkömmlicher Landesgrenzen überflüssig. Anstelle von Staaten gibt es Hives, in die man nicht hineingeboren wird, sondern denen man im Erwachsenenalter je nach Neigung und persönlicher Überzeugung beitritt. Religion, Geschlecht und sexuelle Orientierung sind als Basis für Diskriminierung ausgeschlossen, denn das 25. Jahrhundert unterscheidet nicht mehr zwischen Geschlechtern und die öffentliche Diskussion konfessioneller Überzeugungen ist ohne fachkundige Begleitung absolut tabu. Zu diesem Zweck stehen sogenannte Sensayer zur Verfügung, deren umfassende Ausbildung in Religionsgeschichte und Psychologie sie zu perfekten Betreuer*innen macht.

In dieser Wirklichkeit gewordenen Utopie ist unser eigenwilliger (und nicht immer glaubwürdiger) Erzähler Mycroft Canner Ausgestoßener und Eingeweihter zugleich. Als größter Verbrecher seiner Zeit hat er vor Jahren ein kunstvoll inszeniertes Blutbad angerichtet, doch als sprachbegabtes und vielfach talentiertes Wunderkind ist er für die Mächtigen der Welt eine unverzichtbare Unterstützung. So wird er Zeuge jener Ereignisse, die das Ende des friedlichen Zeitalters bedeuten und den größten Krieg herbeiführen könnten, den die Menschheit je gesehen hat – einen Krieg, der keine physischen Fronten kennen würde, in dem jede*r jederzeit überall sein könnte und bei dem der technologische Stand vom Segen zum Fluch werden müsste. Doch Mycroft hat noch ganz andere Sorgen: In seiner Obhut befindet sich ein magisches Kind, ein buchstäbliches Wunder, dessen bloße Existenz bereits als Gottesbeweis gelten könnte. Denn alles, was der kleine Bridger sich vorstellt, kann er Wirklichkeit werden lassen. Vermag Mycroft mit seiner Hilfe den Frieden zu wahren, oder wird diese unerwartete Offenbarung zu einer Religionskrise führen, die das wackelnde Gefüge der modernen Welt endgültig aus dem Gleichgewicht bringt?

Voltaires Erben

Terra Ignota Band 1 © Panini

Für ihr Hugo-nominiertes Mammutwerk orientiert sich die unter anderem auf die Antikerezeption in der italienischen Renaissance spezialisierte Autorin nicht an unserer Gegenwart, sondern am 18. Jahrhundert, einer ideengeschichtlich geradezu explosiven Zeit, auf die sich unser heutiges westliches Selbstverständnis oft und gern beruft. Hier entstand das Ideal, an das auch Mycroft Canner glaubt: eine vereinte Menschheit, die sich von Generation zu Generation verbessert, bildet, fortschreitet und gemeinsam nach den Sternen greift. Mycroft verehrt und idealisiert diese Epoche so sehr, dass sie zur Linse wird, durch die er seine ganze Erzählung betrachtet, bis hin zur Nachahmung verschiedener philosophischer und literarischer Stile, die während der Aufklärung populär waren. Diese historische Folie erklärt auch die Selbstverständlichkeit, mit der theologische Dispute in diese Wissenschaftsfiktion mit einbezogen werden, denn das Verhältnis von Mensch, Gott und Welt angemessen zu denken, war immerhin eine der großen wissenschaftlichen Aufgaben jener Zeit.

Zugegeben, Palmers dichtes Worldbuilding mag auf den ersten Blick abschrecken. Es gibt viel zu entdecken: Sieben Hives mit je eigener Regierungsform, Geschichte und Rechtsprechung, drei zusätzliche individuelle Rechtsstatus jenseits davon, kulturell bedeutsame Orte überall auf dem Planeten, 400 Jahre Weltgeschichte und eine Figurenliste, die Game of Thrones Konkurrenz macht, würden sich bei einer mit weniger Erzählgeschick gesegneten Autorin schnell anfühlen wie ein unangekündigter Vokabeltest kurz vor den Ferien. Doch Palmer schreibt zum Glück meisterhaft und stellt sicher, dass der belesene Mycroft stets mit den nötigen historischen Verweisen bei der Hand ist, um uns und den überlebensgroßen politischen Held*innen der Zukunft einen gemeinsamen Referenzpunkt zu garantieren. Wer seinen Diderot, seinen Rousseau, seinen Voltaire gelesen hat, dem kann hier nichts entgehen – doch auch alle anderen können sich der minutiös durchgeplanten Handlung getrost überlassen, denn didaktisch klug aufgebaut übt die Handlung alle wichtigen Informationen so lange mit uns ein, bis wir mit Europa erinnert, mit den Humanisten mitgefiebert und mit Utopia geträumt haben.

Utopia, der kleinste der sieben Hives, spielt dabei eine ganz besondere Rolle, denn die Wissenschaftler*innen und Raumfahrer*innen, die den Mars besiedeln wollen, sind in Kern ein organisiertes Science-Fiction-Fandom: Träumer*innen, die in jeder wachen Minute zu den Sternen streben. Sie verkörpern die denkbar romantischste Vorstellung, die man von Science-Fiction als Kulturtechnik haben kann, und vereinen in sich das beinahe betörende Fortschrittsdenken der Aufklärung mit dem Wissenschaftsoptimismus eines begeisterten Kindes. Hier wird den Leser*innen der schmeichelhafteste Spiegel vorgehalten – und auch gleich wieder entzogen, denn mit der restlichen Gesellschaft interagiert Utopia nur zögerlich. Und so werden wir stattdessen mitgerissen von weniger unschuldigen Themen, wie einem geheimnisvollen Diebstahl, politischen Intrigen und einer Prostituierten, die die Mächtigen der Welt in ihren Bann zieht.

Geschlechterutopie mit Mangaanleihen

Terra Ignota Band 2 © Panini

Nur, wer sich in einer neuen Welt heimisch fühlt, kann auch angemessen bedauern, wenn sie zerbricht. Indem sie auch politische Kämpfe der Gegenwart aufgreift, steuert Palmer gegen einen Effekt an, der klassische Dystopien oft nicht nur gesellschaftlich unwirksam macht, sondern mitunter sogar ins Konservative umschlagen lässt: Die vorgestellten Zukunftswelten aus 1984 und Co werden von ihren Verfechtern als Utopie gehandelt, aber sie sind auf den ersten Blick als etwas zu erkennen, das man nicht wirklich wollen kann. Modernere Dystopien fügen dem oft noch den Twist hinzu, dass die dystopischen Maßnahmen offenbar irgendwann gut gemeint waren, nun aber übertrieben wurden. Beides mündet in einer Warnung vor der Utopie, die rasch in einer „Bevor wir etwas schlimmer machen, tun wir lieber gar nichts“-Haltung mündet. So wird der Begriff Utopie im zeitgenössischen politischen Kontext auch eher als Unwort gehandelt.

Die Welt von Terra Ignota hingegen wird vielen Leser*innen durchaus als Utopie erscheinen, denn die meisten Hives sind Demokratien, Meinungsfreiheit ist gewährleistet und offenbar führen die meisten Menschen tatsächlich ein gutes, selbstbestimmtes Leben. Die Sollbruchstellen, die im Laufe der Reihe immer sichtbarer werden, entlarven die zugrundeliegende Ideale nicht notwendig als falsch, sondern stellen lediglich deren Umsetzung in Frage. Ein Beispiel ist der subversive Umgang mit Geschlechterthemen in den Romanen: Die Unfähigkeit, über jahrhundertelang kulturell eingeübte Geschlechterrollen zu sprechen, wird rasch als eine fundamentale Schwachstelle der Figuren offenbart. Die Bewohner*innen eines geheimen Pariser Bordells nutzen genau dieses Tabu für sich, um nach Belieben zu stören, zu verstören und zu manipulieren. Zugleich kann ausgerechnet jener Hive, der sich traditionell weiblich konnotierten Tätigkeiten verschrieben hat, kein klares Selbstbild mehr generieren, da ein Teil der Sprache, die er dafür bräuchte, mit tabuisiert ist. Gewiss, Palmer warnt hier vor einer unbedachten und ahistorischen feministischen Sprachutopie, aber das negiert weder die Geschlechtervielfalt ihrer Charaktere noch deren sichtlich funktionierenden Lebensweisen in einer Welt, die sich für das, was früher als biologisches Geschlecht gehandelt wurde, nicht mehr besonders interessiert.

Mehr noch: Palmer bringt die auf Zweigeschlechtlichkeit trainierte Vorstellung ihrer Leser*innen immer wieder ins Schleudern, wenn nämlich Mycroft, stets darauf aus, den Roman möglichst im Stil des 18. Jahrhunderts zu halten, die Geschlechtspronomen, die seine Zeit erfolgreich abgeschafft hat, nachträglich wieder einführt. Dabei orientiert er sich nicht an Körpermerkmalen, sondern an der Rolle, die die entsprechende Figur in der Geschichte spielt. So kann es gelegentlich passieren, dass ein aggressiver Fanatiker oder wichtiger Politiker mit männlichen Pronomen vorgestellt wird, aber Brüste hat, oder sich Mycroft gar im Verlauf der Erzählung nachträglich umentscheidet und die Pronomen noch einmal anpasst. Allgemein ist diese Zukunft alles andere als keusch, und explizite Szenen erinnern mehr als einmal daran, dass das 18. Jahrhundert nicht nur die Zeit der hehren philosophischen Aufklärung, sondern auch eine Zeit vielfältiger Pornographie und Tabubrüche war, in der neben der Vernunft auch die Triebe untersucht wurden und neben Diderot eben auch de Sade geschrieben hat. Hier wird die Melange aus akademisch-philosophischen und popkulturellen Einflüssen besonders gewagt, denn hinter ihren Renaissancethemen scheint in der Figurenbeschreibung auch immer wieder der in allen Bereichen von Shojo bis Ero-guro bewanderte Mangafan auf und ergeht sich in der Beschreibung einprägsamer Momentaufnahmen.

Heroismus, Eurozentrismus und methodische Selbstkritik

Terra Ignota Band 3 © Panini

Da der Titel des dritten Bandes The Will to Battle, Der Wille zum Kampf, ein Zitat Thomas Hobbes‘ ist, kann man wohl so viel vorwegnehmen: Wenn es um das beinahe voyeuristische Sezieren eines Gesellschaftssturzes geht, macht Palmer keine halben Sachen. Es sieht nicht gut aus für das Fortbestehen der Hives, der Raumfahrt und schließlich auch des gesamten Planeten, wenn sich die menschliche Destruktivität in ihren vielen Formen nicht doch noch in den Griff bekommen lässt. Zu viele Krisen brodeln, zu viele Geheimnisse werden aufgedeckt und die Herrschenden sind so sehr mit ihren eigenen internen Dramen beschäftigt, dass sie die bevorstehende Eskalation kaum noch werden abwenden können. In dem Eifer, die Kultur des 18. Jahrhunderts wiederaufleben zu lassen, hat sich Palmers Zukunftsentwurf eben auch deren Schattenseiten eingekauft: Nepotismus, Fanatismus und nicht zuletzt Eurozentrismus, sowie ein fester Glaube an philosophische Heldenerzählungen, in denen der ideengeschichtliche Fortschritt nicht von vielköpfigen sozialen Bewegungen sondern von einigen wenigen Heroen des Geistes vorangetrieben wird. Wenn wir ganz ehrlich sind, ist sie darin von unserer gegenwärtigen Gesellschaft gar nicht so verschieden und mehr als einmal erwischt man sich dabei, diesen Erzählungen, die bei Homer beginnen und im Hyperindividualismus der Golden-Age-Science-Fiction münden, Glauben zu schenken.

Der Individualismus, mit dem wir die Geschichte der europäischen Aufklärung durchsetzen, steht im Widerspruch zu ihren eigenen Idealen und wird zum Riss, der durch jede Gesellschaft gehen muss, die zu unkritisch auf ihr aufbaut. So wäre Palmers größte Schwäche als Autorin einer globalen Zukunftsvision das Festhalten an einem westlichen Kanon großer Namen und Ideen, wenn sie nicht genau dies auch zur Schwäche ihrer Welt machen würde. Das Fortschreiten der Geschichte wird in Terra Ignota zum Monomythos, in dem die islamische Philosophie, die Kulturgeschichte Asiens und die systematische koloniale Ausbeutung des afrikanischen Kontinents keinen Ort haben – und genau das wird auch Thema werden, wenn die Überlebenden schließlich nach gut 2000 Seiten ein Fazit aus den Ereignissen des 25. Jahrhunderts ziehen.

Letztendlich ist Palmers Zukunftsentwurf einer der methodischen Selbstkritik: Baue eine Zukunft mit allem, was Dich fasziniert, dann rüttle an ihr, bis sie in sich zusammenfällt, und finde so heraus, wie man es besser machen könnte. Es ist eine sehr ehrliche Art, Science-Fiction zu schreiben, denn die Liebe zur europäischen Ideengeschichte leuchtet aus jeder Seite. Die Faszination für das Entstehen und Nachwirken von Ideen, die Bewunderung für aufklärerische Tugenden wie Neugier, Toleranz und Zukunftsoptimismus, sind echt. Die ehrliche Begeisterung für das vielfältige, hoffnungsvolle und mitunter absolut waghalsige Denken des 18. Jahrhunderts wird viele Leser*innen in ihren Bann ziehen, doch die Ereignisse in den Romanen lassen keinen Zweifel aufkommen, dass die Menschheit ihren eigenen Ideen oft nicht gerecht wird. Und vielleicht ist es die einzige Art, auf die man die Geschichte Europas heute noch lieben kann: In dem man sie mit der einen Hand bewundernd hochhält, während man bereits mit der anderen ausholt, um sie zu zerschlagen. Aber es darf dabei geweint werden.

Eine bessere Welt – und vielleicht die Sterne

Terra Ignota Band 4 © Panini

Aber es gibt Träume, die alle Menschen träumen, und Bestrebungen, die bei aller soziohistorischen Gebundenheit des Begriffs die gesamte Menschheit betreffen, und es gehört selbstredend zum Selbstverständnis der Science-Fiction, dass die Reise zu den Sternen eine davon ist. Egal wie viele Phallussymbole superreiche Oligarchen in den Himmel schießen, egal wie wettbewerbsorientiert der zeitgenössische hyperkapitalistische Wissenschaftsbetrieb sein mag, die Überzeugung, dass man einen Schritt auf dem Mond nicht als Amerikaner*in oder Chines*in, nicht als Mann oder Frau, sondern nur als Mensch tun kann, sitzt tief. Auf diesen Gedanken lässt Palmer selbst im Angesicht eines drohenden Krieges nichts kommen, im Gegenteil: Die Sorge um diesen größten Traum wird zur treibenden Kraft der gesamten Handlung. Denn dahinter steht die Grundfrage nach dem Verhältnis von Gegenwart und Zukunft überhaupt, eine Frage, die der tragische Utopist Apollo bereits Jahre vor den Ereignissen der Handlung gestellt hat: „Would you destroy a better world to save this one?“ – „Würdest Du eine besser Welt zerstören, um diese hier zu retten?“

Welche Gegenwart ist man bereit für eine Zukunft aufzugeben, die man selbst vielleicht gar nicht mehr erleben wird? Welche Zukunftsträume würde man hintanstellen, um einer gegenwärtige Herausforderung zu begegnen? Die drohende Klimakatastrophe hat diesen Fragen einen ganz neuen Beigeschmack gegeben, denn wenn Menschen nicht mal gewillt sind, auf SUVs zu verzichten, um ihren Kindern einen bewohnbaren Planeten zu hinterlassen, scheint jede Form der Utopie in unerreichbare Ferne gerückt. Genauso müssen auch die Utopist*innen in Terra Ignota mitansehen, wie nicht nur ihre Gesellschaft bröckelt, sondern auch die Marsbesiedlung durch menschliche Kleinlichkeit in weite Ferne rückt. Utopia ist der Gegenentwurf zu den historisch verblendeten Hives, die in ihren jeweiligen Verstrickungen das große Ganze aus den Augen verloren haben und manipulierbar geworden sind. Das soziale Kollektiv aus Wissenschaftler*innen, Schriftsteller*innen und Künstler*innen, hat sich der Besiedelung des Mars verschrieben. Sie sind die leere Mitte und zugleich die heimlichen Held*innen der Handlung, und sie sind es auch, die sich letztendlich weigern, den Rest der Menschheit in eine selbstgebastelte Dystopie kippen zu lassen.

Je weiter sich die Handlung im vierten Band Perhaps the Stars entfaltet, desto mehr entlarvt sich die Frage Apollos als Fangfrage. In der vielfältigen Weise, auf die die Figuren sie implizit und explizit beantworten, scheint das einfache Entweder-oder erschreckend kurzsichtig. Warum sollte es nicht möglich sein, diese Welt zu retten um mit ihr eine bessere Welt zu erschaffen? Warum sollte im Falle eines Rückschlags alles verloren sein? Hier offenbart sich Terra Ignota plötzlich als wild verzweifelte Hoffnungsfabel, die die Bezeichnung Hopepunk wirklich verdienen würde. Es gibt kein Ende der Geschichte, und daher kann, soll, muss es auch immer einen Weg geben, der in die Zukunft führt. Die Utopie kann kommen, wenn wir sie wollen, aber sie muss das Werk vieler Hände sein, nicht einiger großer Helden. Wir können nicht vorhersehen, welche langfristigen Konsequenzen unser Streben nach höheren Zielen wie Frieden, Gleichheit und auch nach medizinischem und technischem Fortschritt haben wird, ebenso wenig wie der italienische Dichter Petrarca absehen konnte, dass er helfen würde den Grundstein für etwas zu legen, das 200 Jahre später die europäische Aufklärung wurde. Wenn wir eine friedliche Zukunft im Jahre 2454 wollen, dann müssen wir jetzt darauf hindenken. Denn die großen Momente der Ideengeschichte geben sich immer erst im Nachhinein zu erkennen und gleichen darin eben tatsächlich dem titelgebenden Blitz, den man nie festhalten kann, weil er bereits verschwunden ist, bevor man sagen kann: es blitzt! Und wer weiß, vielleicht ist jetzt gerade der Moment, in dem irgendwo jemand die entscheidende Idee hat, die von zig Generationen überarbeitet und weitergedacht wird, bis sie uns schließlich doch zu den Sternen bringt.

 

Artikelbilder: © Panini
Layout und Satz: Melanie Maria Mazur
Lektorat: Maximilian Düngen
Dieses Produkt wurde privat finanziert.

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