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Jedes Pen-and-Paper-Regelsystem und jede noch so detaillierte Welt hat ihre Grenzen. Doch manchmal kann gerade dieses Experimentieren mit den Grenzen reizen, ein ungewöhnliches Charakterkonzept zu entwickeln. Wie dabei weder Spielspaß leidet noch die Welt völlig auf den Kopf gestellt wird, sind dringende Fragen, die in diesem Artikel beantwortet werden sollen.

Besonders wenn einer Gruppe ein System wohlbekannt ist, möchte niemand einen 08-15-Charakter spielen, sondern lieber etwas Innovatives ausprobieren. Dabei kann der*die Einzelne jedoch bald an den Rand der Verzweiflung getrieben werden. Der ausgedachte Beruf wird von den vorhandenen Klassen nicht abgedeckt, die Figur droht, zu übermächtig zu werden, oder die Motivation des SC ist schlichtweg zu fragwürdig, um sie auszuspielen. Hierbei geht es vor allem um Fragen der Spielbarkeit. Gleichzeitig darf die Authentizität nicht in den Hintergrund geraten, denn nur weil ein Charakter technisch funktioniert, heißt dies nicht, dass er Spaß für eine*n selbst oder für den Rest der Spielgruppe bedeutet.

Ein gutes Charakterkonzept, und sei es noch so schwierig, muss also zuallererst glaubwürdig sein, damit es überhaupt in die bespielte Welt passt, daraufhin muss sich um die Frage der Umsetzung gekümmert werden.

Vor allem wasserdicht muss es sein

Ein schwieriges Charakterkonzept ist schnell aus dem Boden gestampft: Teil einer ganz seltenen Spezies, einer längst untergegangenen Kultur oder sonst irgendwie aneckend und einfach anders als der noble Paladin oder die elfische Bogenschützin. Die eigentliche Schwierigkeit bei einem außergewöhnlichen Konzept für einen SC im Pen-and-Paper besteht vor allem darin, die eigenen Vorstellungen mit denen der bestehenden und zu bespielenden Welt übereinzubringen. Wenn der Charakter einfach nur anders ist, aber partout nicht in die Welt hineinpasst, sind die Mühen, die Idee irgendwie in das Regelwerk einflechten zu wollen, umsonst. Ein unglaubwürdiger Charakter macht keinen Spaß, weil keine richtige Immersion aufgebaut werden kann.

Zuallererst sollten also Hintergrundinformationen gewälzt werden. Diese können spärlich oder gar nicht vorhanden sein und widersprechen sich mitunter. Es muss sich hier für eine Version der Ereignisse entschieden werden, auch in Absprache mit der restlichen Gruppe. Ebenso ist es hilfreich, sich von einem gesetzten Anhaltspunkt Schritt für Schritt zu einem Konzept vorzuarbeiten, welches keine Fragen offenlässt.

Da schwierige Charakterkonzepte vor allem deswegen besonders sind, weil sie aus dem üblichen Rahmen fallen, sollte meist mehr Charakterhintergrundgeschichte bestehen, als es vielleicht sonst der Fall wäre. Nicht nur Herkunft und Ausbildung auch der Motivationen des Charakters sind besonderes Augenmerk zu schenken.

Wenn die Weltenfragen geklärt sind, kann sich an die ebenso wichtige Aufgabe gemacht werden, zu überlegen, wie welche Hausregeln erstellt werden, damit das Charakterkonzept funktioniert.

„Keeping it real”. Nicht nur für die Influencer-Szene ein wichtiges Motto. © Depositphotos | Rawpixel

Wie hältst dus mit den Regeln? – Wie sich schwierige Konzepte regeltechnisch abbilden lassen

In puncto Hausregeln lautet die Devise: Weniger ist mehr. Oft lassen sich bereits bestehende Regeln ummünzen, so dass sie auch das eigene Charakterkonzept abdecken. Das spart Zeit und Hirnschmalz, denn beim Erstellen der Regelwerke wurden sich ja schon viele Gedanken gemacht, um eine Vielzahl an Fertigkeiten und Talenten abzudecken. Die Eigenarbeit beschränkt sich in diesem Falle auf neue Namen für Altbekanntes.

Werden ganz eigene Hausregeln aufgestellt, sollte klar sein, dass dies mitunter mit recht langen Spieltests innerhalb der Kampagne einhergehen kann. Hier ist es vor allem an der SL, bereit zu sein, zu improvisieren, wenn etwas nicht auf Anhieb klappt, das Konzept in bestimmten Bereichen zu stark oder zu schwach ist, ohne dass der Spielspaß oder die – zumindest grob angedachte – Geschichte leiden.

Ein Regelkorsett kann einengen, zahlreiche Haus- und Sonderregeln sorgen jedoch auch für Verwirrung. Ein Mittelweg bietet sich an. © Depositphotos | akoldunov

Beispiele schwieriger Charakterkonzepte

Von Superheld*innen und Nichtskönner*innen

Wir sind es gewohnt, die Held*innen unserer Geschichten zu sein. Manchmal möchte man vielleicht sogar noch besser sein, als der*die Standard-Abenteurer*in. Warum nicht mal ein übernatürliches Wesen wie einen Vampir spielen? Oder in die andere Richtung – einen einfachen Knecht, der schon mit dem Überleben außerhalb des Abenteuer-Alltags genug zu tun hat.

Normalerweise werden solche übermächtigen oder haushoch unterlegenen Charaktere nicht von bestehenden Regelsystemen abgebildet, aus gutem Grund: Es fehlt entweder die Herausforderung oder sie ist zu groß. Ein Knackpunkt, um den sich hier vor allem gekümmert werden muss, ist es, das Spiel trotzdem aufregend zu halten. Ein Vampir mag im Kampf fast unbesiegbar sein, hat abseits davon aber große Probleme, nicht aufzufallen, sieht sich Verfolgung ausgesetzt oder hat Schwierigkeiten, seinen Vorrat an frischem Blut aufgefüllt zu halten. Dem*der Landwirt*in fehlen vielleicht die Abenteurer*innenfähigkeiten, dafür genießt der Charakter aber großen Rückhalt in der Bevölkerung und schließt schnell rettende Kontakte.

Auch hier muss ausprobiert werden, was gut funktioniert, und auch woran die Gruppe am meisten Spaß hat. Eine SL muss aufpassen, dass trotzdem eine mehr oder weniger gleiche Herausforderung besteht, wie für den Rest der Gruppe, da sonst spaßige und wichtige Gruppendynamiken verloren gehen können.

Ebenso müssen Spielende kompromissbereit sein, Limitationen (des Systems, des Charakters) anzuerkennen und nicht stur auf den eigenen Sonderwünschen zu beharren. Des weiteren verleitet ein ungewöhnliches Charakterkonzept schnell dazu, aufgrund der Besonderheit der eigenen Figur, ständig im Rampenlicht zu stehen (oder stehen zu wollen) – was zu Unmut beim Rest der Gruppe führen kann. Wünsche wie auch Kompromisse sollten frühestmöglich kommuniziert und verhandelt werden.

Klassenschlagseite / Embrace the weird

Die Spielbarkeit kann sich auch dann bedroht sehen, wenn alle in der Gruppe das Gleiche spielen wollen. Plötzlich steht die SL mit vier Raumschiffkapitän*innen oder einem Dutzend Hexern da und hat Probleme, ein reguläres Abenteuer zu leiten. Findet sich keine Lösung, eine unterschiedlicher aufgestellte Gruppe zu spielen, kann es durchaus sinnvoll sein, die sich ergebende „Klassenschlagseite“ zu fördern und zu unterstützen, wenn alle in der Gruppe damit einverstanden sind.

Partner*innenlook mutet im ersten Moment nicht nur im echten Leben verschroben an. © Depositphotos | vova130555@gmail.com

Ungewöhnliche Charakterkonzepte oder Gruppenkonstellationen beinhalten nämlich auch immer die Chance für ungewöhnliche Geschichten, die es zu erzählen gilt. Die Kapitän*innen sind vielleicht die Besten der Besten und werden gemeinsam auf eine gefährliche Außenmission geschickt. Möglicherweise bringen sie aus ihren vorigen Karrieren trotz gleichen Ranges verschiedene Fähigkeiten mit, um ein abwechslungsreicheres Spiel zu ermöglichen. Eine Gruppe von mutierten Monster-Schlächter*innen kann mitunter ihre Kampagnenherausforderung rund um ihre alte Feste finden, die es zu beschützen gilt. Oder eine Gruppe von Mythoskundigen „Ghost-Busters“ begibt sich auf die Suche nach großen Alten und dreht den klassischen Spieß von Call of Chulhu um.

Auch hier ist festzuhalten, dass es sich um Ansätze handelt, die insbesondere erfahreneren Gruppen und / oder solchen mit großem Willen zur Improvisation einfacher von der Hand gehen, als Neulingen. Mit der richtigen Motivation ist es aber auch denen möglich.

Fragwürdige Charaktere

So viel Spaß es bereiten mag, ungewöhnliche oder merkwürdige Charakterkonzepte auszuprobieren, sei hier noch eine andere Art von „schwierig“ angesprochen: Nämlich die Thematik fragwürdiger oder von Grund auf problematischer Charaktere. Wie alles, hat auch das Bespielen einer „bösen“ Gruppe seine Reize und Hindernisse. Vorab ist es wichtig, mit noch mehr Fingerspitzengefühl und Empathie gegenüber dem Rest der Gruppe an selbige mit dem eigenen Vorschlag heranzutreten. Denn wenn sich bereits eine*r nur mit der Idee, einen Sklavenhändler oder eine sadistische Offizierin als Weggefährt*in zu haben, schwer tut, sind Unzufriedenheiten und Probleme am Spieltisch vorprogrammiert.

Vorab sollte sich also, wie bei besonders starken / besonders schwachen Charakteren, eine passende Motivation ausgedacht werden, wie er*sie in dieses Abenteuer, in die Gruppe hineinpasst, und ob der Auftritt des Charakters zeitlich begrenzt werden sollte. Ein Jem’Hadar aus Star Trek wird sich vermutlich nicht für immer einer Sternenflotten-Crew anschließen, ein deutscher Offizier, der den Investigator*innen in Achtung! Cthulhu in die Hände fällt wird nicht direkt zu den Alliierten überlaufen.

Vor allem sollte bei fragwürdigen oder problematischen Charakterkonzepten von Anfang an zur Debatte stehen, wie sehr das Böse oder das Problematische ausgespielt werden soll. Die wenigsten haben in ihrer Freizeit vermutlich Spaß daran, fiktive Ruder*innen auspeitschen zu lassen oder andere erdachte Gräueltaten zu begehen. Gleichzeitig – und hierbei liegt die Krux von problematischen Charakteren – darf nicht aus den Augen gelassen oder gar heruntergespielt werden, dass die Spielenden es mit einem*einer Kriegsverbrecher*in oder Menschenfeind*in zu tun haben. Hier kann viel sozialer Konflikt im Gespräch mit anderen Mitgliedern der Gruppe dargestellt werden. Zwiegespräche, welche sich auf die Verfehlungen, das Böse beziehen, über Moral und die Abwesenheit der Selbigen verhandeln und diskutieren, bieten eine brauchbarere Alternative zum sonst gängigen „show, don’t tell“.

Abschließend sollte bedacht werden, dass nicht automatisch jede schlechte Figur einen eigenen Redemption- oder Wiedergutmachungs-Handlungsstrang braucht. Manche Personen sind böse, bleiben böse und werden sich auch durch einige gute Taten nicht vollkommen ändern. Das hat in authentischen Geschichten, welche selten auf ein märchenhaftes „Happy End“ hinauslaufen, vollkommen seine Berechtigung und kann sogar mitunter die Spannung solcher Charaktere ausmachen.

Hitzige Diskussionen mit bösen Charakteren als Alternative zum Ausspielen von Grausamkeiten. © Depositphotos | AntonioGuillemF

Umsetzung schwieriger Charakterkonzepte

Es gibt viele Arten kniffliger Charakterkonzepte: Von übermächtigen und unterlegenen Charakteren über ganze Gruppenkonstellationen, welche merkwürdig anmuten mögen, hin zu fragwürdigen oder durch und durch bösen Charakteren.

Bei allen ist wichtig, noch wichtiger als bei einem „normalen“ Charakter, der mitunter auch erst im Laufe einer Kampagne ausreift, dass von Anfang an klar ist, welche genauen Motivationen ihn oder sie ausmachen, um eine möglichst authentische Darstellung zu ermöglichen. In Zusammenarbeit mit der SL können bereits bestehende Regeln umgemünzt werden. Außerdem ist es möglich, dass im kleinen Rahmen Versuche einer Anpassung des gespielten Regelwerks auf etwaige Sonderwünsche gewagt werden. Das spart Zeit und Nerven in laufenden Sitzungen. Dennoch lässt sich die Notwendigkeit von schneller Improvisation und von Abwägen, wie mit einem Charakter weiter verfahren wird, nicht komplett vermeiden.

Jedes Konzept sollte vorher ausführlich in der Gruppe besprochen werden. Die Mitspieler*innen können nicht nur ein Quell an Inspiration sein und Möglichkeiten zur Ausarbeitung liefern, sondern sollten ebenso mit allen getroffenen Entscheidungen, bezüglich eines schwierigen Konzeptes einverstanden sein. Mit dem richtigen Maß an mitgebrachter Zeit und dem Willen, etwas völlig Neues auszuprobieren, steht selbst dem schwierigsten Charakterkonzept, nichts mehr im Wege.

 

 

Artikelbilder: ©  Depositphotos | albund
Layout und Satz: Verena Bach
Lektorat: Susanne Stark

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